16
Geschwister können einen nerven. Ich glaube, das weiß jeder, selbst, wenn man keine Geschwister hat. Sie klauen einem das Essen, borgen sich Sachen aus, ohne zu fragen und sagen im Streit Dinge, die sie nicht so meinen.
Aber manchmal nerven sie, weil sie einen beschützen wollen.
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Zach war die Nacht über geblieben, und ich wachte ziemlich verwirrt neben ihm auf. Kurz wusste ich nicht, warum er hier war, aber dann fiel mir alles Stück für Stück wieder ein. Ich wollte mich unauffällig aus der Decke kämpfen, aber Zach wachte auf.
„Morgen", lächelte er verschlafen, gähnte, rollte sich auf den Bauch und vergrub sein Gesicht in den Kissen. „Wie spät ist es?"
Ich fuhr mit meinen Fingern durch seine Haare und kraulte ihn, als wäre er ein Hund, aber ihm gefiel es. „Fast elf." Irgendwann rollte er sich wieder herum, stützte sich auf dem linken Unterarm auf und streifte mir die Haare hinter die Schulter. „Willst du nach dem Fisch sehen?" Ein amüsiertes Funkeln stand in seinen Augen.
Verwirrt blinzelte ich ihn an. „Was für ein Fisch?"
Er erklärte mir, dass ich unter Einfluss der Schmerzmittel von einem Fisch geredet hatte, der nicht und nicht sterben wollte. Kompletter Blödsinn. Ich hatte nie einen Fisch gehabt. Nur einen Kater. Bristol, aber er war irgendwann weggelaufen und nicht mehr wieder gekommen. Wie meine Mom.
Ich machte mich auf den Weg ins Bad, um zu duschen und Zach ging schon ins Wohnzimmer, um mir Frühstück zu machen.
„Wann krieg ich diesen Körper eigentlich wieder?", murrte Beth, während ich versuchte, kein Wasser auf meine Platzwunde kommen zu lassen. Den Verband hatte ich abbekommen, lediglich ein Pflaster klebte noch über der Naht.
„Nach allem was du so abgezogen hast, hoffentlich gar nicht mehr", entgegnete ich.
Ich hoffte immer noch, dass ich mir den Schädel soweit zertrümmert hatte, dass Beth zwar hier bleiben, aber nie wieder die Kontrolle würde übernehmen können. Aber das wäre wohl zu schön gewesen.
Als ich nach unten trabte und Zachs Gesichtsausdruck sah, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Er stand an der Kücheninsel, hatte die Augenbrauen zusammengezogen und sah zu mir auf, während ich die Treppen nach unten ging. Meine Schritte verlangsamten sich wie von selbst.
„Warum siehst du mich so an?", fragte ich unsicher.
„Und wo ist unser Frühstück?", fragte Beth.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass der Arzt ein MRT wollte?", fragte Zach.
„Ich rieche den Braten", grummelte Beth. „Ha! Da ist er! Der Verräter."
Owen hatte sich keinen Zentimeter bewegt, deshalb hatte ich ihn nicht sofort gesehen. Er sah nicht sonderlich schuldbewusst aus.
Ich wurde nicht oft wütend. Aber jetzt war ich es.
„Ist das dein beschissener Scheißernst?" Ich funkelte ihn an.
„Wohoo!", rief Beth unternehmungslustig. „Lass es raus, Süße! Wo ist das Popcorn?"
„Du willst nicht von mir hören, dass deine Entscheidung scheiße ist", entgegnete Owen ruhig. „Also hörst du jetzt Zach."
„Es ist nicht deine Aufgabe, diese Entscheidungen für mich zu treffen!", rief ich. Ich konnte es nicht fassen. Natürlich wusste ich, was Owens Plan war. Warum er Zach davon erzählt hatte.
„Anna", begann Zach ruhig und kam auf mich zu, aber ich hatte nicht vor, mich zu beruhigen. „Wenn es dir ums Geld geht, kann ich-"
„Nein, verdammt! Ich werde mit dir sicher nicht über meine Finanzen diskutieren!"
Owen war die mieseste Ratte der Welt. Und ich glaube nicht, dass ich schon einmal so wütend auf ihn gewesen war. Wenn man nicht viel miteinander zu tun hat, gibt es eben auch nicht viel, über das man streiten kann. Diesen Level an Wut hatte nur Beth in mir auslösen können.
„Und du wirst das auch nicht tun, verstanden?" Sauer bewegte ich mich auf Owen zu. „Ich bin nicht deine kleine Tochter, sondern deine Schwester, verdammt! Ich bin zwanzig Jahre alt, du musst mich nicht mehr beschützen, ich kann auf mich selbst aufpassen! Und wenn ich sage, dass ich kein MRT will, dann will ich keines, und damit ist das Thema-"
„Dann zieh aus!", unterbrach Owen mich aufgebracht. Ich zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Was für ein radikaler Themenwechsel?
„Was?"
„Wenn du dir nicht helfen lassen willst, dann zieh aus! Ich will nämlich nicht, dass Jed das nochmal sehen muss! Du warst weg! Du erinnerst dich an nichts mehr! Aber Jed, Brielle und ich haben mitangesehen, wie du ausgerastet bist und nach unserer Mom geschrien und deinen Kopf gegen den verdammten Kühlschrank gedonnert hast, bis du umgekippt bist!"
Ich nickte verbissen und schwieg einen Moment, um sicher zu stellen, alle Bitterkeit der Welt in meine folgenden Worte zu legen. „Es geht dir also wieder einmal nur um Jed und Brielle. War ja klar."
Er rieb sich angestrengt das Gesicht, aber ich wollte ihn nicht mehr ansehen, also drehte ich mich um. „Anna, das habe ich nicht gesagt..."
„Aber gemeint!" Ich wusste nicht, warum ich deshalb sauer auf ihn war. Schließlich war ich diejenige, die die anderen seit Jahren, so gut es eben ging, wegstieß. Es sollte mich also nicht überraschen, dass Owen sich mehr um meinen Bruder und meine Schwester sorgte, als um mein Wohlergehen.
„Du... Du warst einfach nicht mehr du selbst."
Seine Worte durchzuckten mich wie ein Blitz.
Du verhältst dich wie ein anderer Mensch!
Das hatte er schon einmal zu mir gesagt, als wir noch jünger gewesen waren und Beth mit ihm einen Streit begonnen hatte, den ich niemals zugelassen hätte. Dieser Streit war so an die Spitze getrieben worden, dass Beth mit Geschirr nach Owen geworfen hatte.
„Ein anderer Mensch...", bewegte ich meine Lippen lautlos.
„Anna?", fragte Beth unsicher. „Was ist los?"
Nicht du selbst, nicht du selbst, nicht du selbst...
„Anna?", fragte Zach vorsichtig und ich zuckte zusammen.
„Äh... Ja... Ich muss..." Ich deutete auf die Treppen. „Ich muss kurz was nachsehen..." Ziemlich neben der Spur lief ich wieder auf mein Zimmer und ließ die beiden Jungs irritiert zurück.
„Was ist los?", fragte Beth erneut, als ich in all meinen Schreibtischladen kramte.
„Erinnerst du dich an Ivory?"
„Ja?"
„Ich muss mit ihr reden. Verdammt, ich weiß, dass ich ihre Nummer nicht weggeworfen habe." Ich hob einen Stapel an dünnen Ordnern und losen Zetteln heraus und ließ ihn auf den Tisch fallen.
„Schau mal in der blauen Mappe nach."
„Hab sie!"
„Anna." Erschrocken drehte ich mich um und sah Zach im Türrahmen stehen. „Alles okay?" Er betrachtete das Chaos auf meinem Schreibtisch.
Ich legte eine Hand auf die Stirn und die Nummer wieder zurück in die Mappe. „Ja, ich... Es ist nichts, ich wollte nur..." Ich atmete aus und drehte mich wieder zu ihm. „Owen hätte dir das nicht sagen sollen."
„Warum hast du es nicht getan?", fragte er und schloss die Türe hinter sich. Ich zuckte mit den Schultern.
„Weil ich wusste, dass du mir das Geld borgen würdest. Aber das will ich nicht, weil ich dir versprechen kann, dass du das Geld nicht wiedersiehst, bevor ich dreißig bin. Nicht bei meinem Gehalt."
„Das ist mir doch völlig egal." Er lächelte mich an, als benähme ich mich vollkommen lächerlich.
„Mir aber nicht."
„Anna, meine Schuhe kosten mehr als ein MRT."
„Du hast viele Schuhe", entgegnete ich.
„Da Paar an meinen Füßen."
„Du trägst nur Socken."
Er sah nach unten. „Verdammt, das wäre eine perfekte Metapher gewesen."
Ich stieß kurz amüsiert den Atem aus, aber es klang irgendwie traurig. „Ich will nicht, dass du mir irgendetwas zahlst. So sollte das nicht laufen. Und dein Dad würde dich köpfen und mich steinigen." Zach stieß einen amüsierten Laut aus. „Was ist so lustig?"
„Als mein Dad gesagt hat, er streicht die monatliche Überweisung und die Zuschüsse, wenn ich anfange, mein Geld für dich rauszuschmeißen, hat er teure Autos gemeint. Oder ein Haus. Oder lachhaft teuren Schmuck. Nicht eine medizinische Notwendigkeit."
„Es ist keine Notwendigkeit, mir geht es gut!" Zum Beweis tippte ich mir mit beiden Zeigefingern einmal auf die Nase und stellte mich dann auf mein linkes Bein, und versuchte das Gleichgewicht zu halten. „Siehst du? Alles super!"
Er schaffte es nicht, sich ein Schmunzeln zu verkneifen und ich stellte mein Bein ab, um wieder ernst zu werden. „Du solltest nicht meine Rechnungen für mich zahlen. Und dein Dad schon mal gar nicht, aber genau da kommt der Großteil deines Geldes her."
„Anna, mein Dad hat unseren Nachbarn ihr Haus und das Grundstück abgekauft, weil sie an Sonntagen zu laut Musik gehört haben."
„Das ist verrückt."
„Schon, aber dafür ist es jetzt ruhig", lächelte er und kam auf mich zu. Er legte seine Hände an meine Taille und lehnte seine Stirn ganz sanft gegen meine, um nicht an meiner Wunde anzukommen. „Wir machen einen Deal", raunte er dann.
„Einen Deal?"
„Ja, einen Deal. Ich spreche dich nicht mehr auf das Thema an, wenn du mir versprichst dieses MRT machen zu lassen, falls sowas in der Art wieder passiert."
Na toll. Ich wusste jetzt schon, dass ich dieses MRT würde machen müssen. Aber ich hatte mir so viel Mühe gegeben, Zach zu versichern, dass es mir gut ging, dass ich schlecht nicht einwilligen konnte. Das hätte ihn wieder misstrauisch gemacht, also versprach ich es.
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An diesem Tag erzählte mir Zach von dem Krebs seines Vaters, und dass er sich aus diesem Grund nicht vorstellen konnte, dass Mr. Parsons etwas dagegen haben würde, wenn Zach für die Kosten des MRTs und des bereits gemachten CTs aufkommen würde. Allerdings schien es mir unmoralisch, auf die Krebsgeschichte eines Menschen zurückzugreifen, um dessen Empathie zu erhalten.
Und dann hat Zach plötzlich nach meinen Eltern gefragt.
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„Du hast nie etwas über sie erzählt. Hat das einen Grund?"
Das war natürlich das Thema Nummer eins, über das ich gerne sprach. Aber Zach hatte mir schon so viel von sich gegeben, dass ich es unfair fand, nicht auch ehrlich zu sein. Ob das nun ein dummer Gedanke war oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden.
„Ich rede nicht gerne darüber." Ich stand von meinem Bett auf und ging zu meinem Schrank, um mich umzuziehen. Es war zwar Sonntag und ich hätte in den Schlabbersachen bleiben können, aber ich musste mich beschäftigen, wenn ich Zach die Wahrheit sagen wollte.
Er hatte aufgrund meiner Reaktion natürlich sofort gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Wie du weißt, ist meine Mom verschwunden, als ich klein war. Ich erinnere mich kaum an sie. Sie hat nicht gearbeitet und war die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Mein Vater hat uns nur an einem Morgen gesagt, dass sie weg ist. Ich glaube, sie ist weggegangen, weil ihr alles zu viel wurde, aber ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie tot. Ich haben zumindest nie wieder etwas von ihr gehört." Ich hatte mir einen tannenbaumgrünen Pulli und eine schwarze Jeans herausgesucht.
„Und mein Vater... Tja." Ich hob verachtend die Augenbrauen, auch wenn Zach es nicht sehen konnte. Ich zog mir mein Shirt über den Kopf, kämpfte mich in einen BH und zog mir den Pulli über. „Ich bin froh, dass er tot ist. Wirklich. Verdammt, verdammt froh. Er hat Owen und Brielle und Jed und mir unser Leben..." Schwer gemacht wäre kein Ausdruck gewesen. „Zur Hölle gemacht. Bis zu seinem Tod. Das ist der Grund, warum ich nicht über ihn rede." Verbissen schlüpfte ich aus der Jogginghose, stieg in meine Jeans und streifte sie mir über, während ich daran dachte, dass er uns bestimmt auch hätte verhungern lassen, wenn er dann nicht unsere Leichen am Hals gehabt hätte. „Er hat Dinge getan, die kein Vater seinem Kind antun sollte. Die kein Mensch irgendjemandem antun sollte."
In der Schule erzählen sie einem, dass Kinder in Entwicklungsländern hungern. Ich wünschte so sehr, dass es nur das wäre, aber leider gab es auch Menschen, die grausam genug waren, um ihren Kinder so etwas absichtlich anzutun. Als Kind hatte ich meine Rippen zählen können, weil ich so mager gewesen war. Wenn ich in der Schule nicht von Klassenkameraden Essen geklaut hätte, dann... Ich will gar nicht wissen, was dann passiert wäre.
Und die Lehrer hatten weggesehen. Wie sie es so oft taten. Bei mir. Bei Brielle. Bei Owen. Bei Jed.
Ich atmete durch und blieb reglos stehen, das Gesicht immer noch zu meinem Schrank gedreht.
„Manchmal hab ich mir gewünscht, dass er ins Zimmer meiner Geschwister geht. Bloß nicht in meins. Jemand anderer musste das aushalten, aber nicht ich. Und ich war froh, wenn er an meinem Zimmer vorbei gegangen ist, auch wenn ich gewusst habe, dass er jetzt zu Owen oder Brielle oder Jed geht und ihnen wehtut. Oder..." Ich presste die Lippen aufeinander, weil ich nicht weinen wollte. Ich glaubte, dass es vielleicht diese Gedanken waren, die Beth geschaffen hatten. Der Gedanke, es selbst nicht mehr durchstehen zu können und jemand anderen zu brauchen, der stark genug war, um es zu können.
Schau in den Spiegel, dann siehst du den größten Fehler meines Lebens.
Ich wünschte, sie hätte dich doch abgetrieben.
Am Anfang hatte es noch wehgetan, Worte wie diese von meinem Vater zu hören. Irgendwann hatte ich sie akzeptiert. Und ich wusste auch nicht, warum mein Vater auf mich den größten Hass gehabt hatte, zumindest hatte es auf mich immer so gewirkt, besonders seit meine Mutter verschwunden war. Vielleicht, weil er gedacht hatte, ich sei verrückt und er keine verrückte Tochter hatte haben wollen.
Nie hatte er in Erwägung gezogen, selbst der Grund für meine Verrücktheit zu sein.
„Anna-"
„Geh jetzt bitte, ich..." Unterbrach ich Zach. Ich hatte beinahe vergessen, dass er da war. Aber ich hätte kein weiteres Es tut mir leid von ihm ertragen können. Und auch keine mitleidigen Blicke. „Ich ruf dich morgen an", versprach ich hastig und fuhr mir durch die Haare. „Ich muss noch was erledigen." Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl gleiten und hoffte, dass Zach schnell verschwinden würde, weil ich nicht wusste, wie lange ich die Tränen noch zurückhalten konnte. Aber tatsächlich war eine weitere Eigenschaft von Zach, dass er genau wusste, wann ich ihn hier haben wollte und wann ich wirklich allein sein musste. Also rollte er sich vom Bett und verließ ohne ein weiteres Wort mein Zimmer.
Sobald er die Türe leise hinter sich geschlossen hatte, vergrub ich mein Gesicht in den Händen und begann zu weinen.
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Es gibt nichts Schlimmeres, als sich für etwas schuldig zu fühlen, das man nie getan hat. Und genauso fühlte ich mich oft, wenn ich an meinen Vater und die Zeit von damals dachte, weil ich jedes Mal so unendlich froh gewesen war, wenn er an meinem Zimmer vorbeigegangen ist.
Und gleichzeitig habe ich mich für diese Erleichterung in Grund und Boden geschämt.
Ich erinnere mich daran, dass unser Vater uns manchmal dazu gezwungen hat, untereinander zu entscheiden, wer das Abendessen bekommt. Wenn man tagelang kaum gegessen hat, fällt Selbstlosigkeit schwer, besonders als Achtjährige.
Owen ist ein Wunschkind gewesen. Er hat tatsächlich am wenigsten leiden müssen, aber immer noch mehr als genug. Brielle hat unser Vater buchstäblich auf die scheußlichste Art geliebt, auf die ein Vater seine Tochter nur lieben kann. Aber er hat sie geliebt. Und Jedrek hatte drei ältere Geschwister, die für ihn den Kopf für alles Mögliche hingehalten haben.
Ich habe mich immer schuldig gefühlt, überhaupt geboren worden zu sein, weil er mich so verabscheut hat. Weil ich dachte, dass er die Wahrheit gesagt hat und unsere Mom weggelaufen ist, weil sie mich nicht wollte und meine Geschwister sie deshalb verloren haben.
Das wäre auch die schönere Variante gewesen.
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