6. Kapitel

Der Konferenzraum liegt verlassen da. Irgendwelche Angestellten haben in der kurzen Abwesenheit von Matt hier wieder aufgeräumt.
Einzig und allein der Beamer an der Decke summt noch leise.
Er ist mit dem Computer am Ende des Raumes verbunden, über den Präsentationen gehalten werden können.
Ich durchquere den Raum und beuge mich zu dem Rechner hinunter.
Leicht enttäuscht stelle ich fest, dass tatsächlich ein USB-Stick im Anschluss steckt. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich gehofft er wäre wegen mir noch einmal zurück gekommen.
Verärgert über meine eigenen Gedanken schüttle ich den Kopf und ziehe den Stick aus dem Gerät.
Er ist silbern, sehr dünn und edel. Eingraviert steht darauf: J.K.W.
Jeremy Kenneth West.
Vorsichtig streiche ich mit meinem Daumen darüber. Früher in der Schule habe ich meinen Heftrand vollgekritzelt mit meinem Namen und seinem Nachnamen. Annabelle West. Lange war ich überzeugt später einmal so zu heißen. Wie sehr ich mich damit nur getäuscht habe.

Auf dem Weg zurück in mein Büro grübele ich darüber nach, was ich mit dem Stick tun sollte.

Eigentlich muss ich ihn ihm direkt zurück geben. Moralisch gesehen, wäre das korrekt.
Aber Jeremy hat mich so oft verletzt und dies ist nur ein Stick. Er wird es verkraften, wenn er ihn so schnell nicht wiedersehen wird.

Andererseits ist Jeremy extra deshalb noch einmal zurück gekommen.
Was ist auf dem Stick? Nachdenklich drehe ich ihn zwischen meinen Fingern.
"Hey Anna!" Noah kommt den Flur herunter gejoggt.
Ruckartig bleibe ich stehen, den Datenträger noch immer in der Hand.
"Was hast du da?", fragt er neugierig.
"Ach nichts." Ich lasse den Stick in meiner Hand verschwinden.
Noah runzelt die Stirn, fährt sich dann aber durch die Haare.
"Ist nicht so wichtig", entscheidet er dann, "hat West dich belästigt?"
"Nein. Nichts passiert."
Noah sieht nicht wirklich überzeugt aus.
"Du weißt, dass ich immer zu dir halten werde, egal was er sagt oder tut?!"
Gerührt von seinen Worten umarme ich ihn kurz. "Danke, Noah."
"Sag mir Bescheid, wenn ich etwas tun kann!", fügt er noch hinzu und drückt meine Hand.
"Mache ich, aber mir geht es gut." Ich lächele zaghaft.
"Okay." Noah sieht mich noch einen Moment prüfend durch seine Brille an, dann lächelt er ebenfalls. "Ich schicke dir nachher eine Zusammenfassung von der heutigen Konferenz."
"Perfekt. Dankeschön." Jetzt ist mein Lächeln aufrichtig. "Ich muss auch los, möchte heute früh nach Hause. Pippa und ich wollen Pizza bestellen."
"Na, dann halte ich dich nicht länger auf. Wir sehen uns."
Ich küsse ihn zum Abschied auf die Wange. "Bis dann."

Das letzte Stück zu meinem Büro renne ich fast.
"Anna. Annabelle?! Kann ich dich gerade sprechen?"
Verdammt. Ich werfe meiner Tür einen traurigen Blick zu. Ich bin so nah dran.
Super-Anni ist in ihrer Bewegung eingefroren und hängt, den einen Arm verzweifelt in Richtung Tür gestreckt, wie ein echter Superheld in der Luft.
"Ja, natürlich." Mit einem breiten Lächeln wende ich mich zu Lucian, Noahs bestem Freund um.
"Wie geht es dir?", fragt er.
"Gut", antworte ich knapp.
"Das ist schön."
Das Gespräch droht bereits zu verstummen.
"Warum wolltest du mich sprechen?", frage ich nach.
"Ach so...Ja...genau. Du warst heute nicht in der Konferenz."
Das klingt nicht nach einer Frage.
"Ja?" Ich ziehe das Wort in die Länge.
"Ja...Ähm...also ich." Er holt Luft und sortiert seine Worte neu.
"Ich wollte wissen, ob alles okay ist oder ob es dir vielleicht nicht gut geht?"
"Mir geht es hervorragend. Danke, der Nachfrage. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest." Ich deute hinter mich zu meiner Bürotür.
"Nein, warte kurz. Ich...hättest du Lust, am Samstagabend mit mir Essen zu gehen?"
Oh mein Gott. Hat er das gerade ehrlich gefragt?
"Tut mir leid, Lucian. Ich bin zur Zeit nicht so in Ausgehstimmung."
Mit diesen Worten drehe ich mich herum und flüchte in mein Büro.
"Dann wann anders mal!", ruft er mir hinterher.
Ich ziehe die Tür hinter mir zu und lehne mich dagegen. In meiner Hand liegt kühl der Stick und ich betrachte ihn erneut.
Mein Blick wandert hoch zu meinem Rechner. Warum eigentlich nicht? Wenn Jeremy schlau ist, hat er den Stick gesichert.
Mein Computer ist noch hochgefahren und so brauche ich den Stick nur hinein zu stecken und schon blinkt auf meinem Bildschirm ein Fenster.
Der USB-Stick hat keine Sicherung. Damit hätten wir dann auch die Frage nach Jeremys Intelligenz geklärt.

Als Inhalt werden mir mehrere Dokumentenordner angezeigt.
Hauptsächlich sind diese mit Zahlen und Buchstaben benannt.
AG215
AL127
BI112
...
Dazwischen finde ich aussagekräftigerer Dokumente.
Präsentation_Finanzen
oder
Entwurf_3.2_PR
Modell_1.1_Neuentwicklung
Modell_4.2_Weiterentwicklung

Während ich mich durch die Daten klicke, beginnt mein Herz allmählich schneller zu schlagen. Er hat mir so viele wertvolle Informationen überlassen. Wenn ich sie an Matt weiterleiten würde, könnten sie ihn und die gesamte Firma seines Daddys zerstören.
Von ganz alleine öffnen meine Hände das Emailportal und klicken auf Matt.
Ich ziehe die Dokumente in den Anhang. Mein Herz rast vor Aufregung.
Ich führe die Maus auf das Symbol für Senden und halte Inne um auf das Gefühl der Genugtuung zu warten. Damit würde ich es Jeremy so etwas von heimzahlen.
Aber das Gefühl kommt nicht. Stattdessen zieht sich schmerzhaft etwas in mir zusammen.

Kann ich so grausam sein und wirklich eine ganze Firma in den Ruin treiben? Es würde nicht nur Jeremy betreffen, sondern auch die unwissenden Menschen, die zufälligerweise für ihn arbeiten.
Mir wird schlecht und entschieden schließe ich das Portal. Nein, das kann ich nicht tun.

Als ich Zuhause die Wohnungstür aufschließe, kommt mir der köstliche Geruch nach frischer Pizza in die Nase.
Im Wohnzimmer plärrt das Radio und ich höre Pippa in der Küche hantieren.
"Hey! Bin da!", rufe ich und kicke meine Schuhe einfach in die nächste Ecke, streife meinen Mantel ab und hänge ihn neben Pips quietscheentengelbes Regencape an die Garderobe.
"Na, endlich. Ich habe einen Bärenhunger!" Pippa erscheint im Türrahmen und grinst mich an, "die Pizza ist schon da. Ich habe dir eine mit Peperoni bestellt. Ist das okay?"
"Logo. Ich liebe  Peperoni." Bei dem Gedanken läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
Mit den Pizzen machen wir es uns auf dem flauschigen Teppich vor dem Fernseher gemütlich.

"Boar. Ich bin papp satt!", stöhnt Pip und lässt sich nach hinten auf den Teppich kichern.
Ich lachen, während ich meine beiden letzten Stücke Pizza betrachte, die nicht mehr in meinen Magen passen.
"Geht mir genauso."

Für einen Moment halten wir einfach nur Inne und warten.
Dann setzt Pippa sich plötzlich ruckartig auf. "Hast du noch einmal etwas von Sahneschnittchen gehört?"
Aufgeregt wackelt sie mit den Augenbrauen.
Ich stöhne. "Musst du mich jetzt an ihn erinnern? Er war heute bei uns in der Firma."
Pip zwickt mir in die Seite. "Natürlich muss ich das. Ich muss alle wissen. Warum war er da?"
"Er hatte eine Konferenz."
"Mensch, Anni! Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Habt ihr geredet?"
"Ich habe die Konferenz geschwänzt und ihn später auf dem Flur getroffen."
"Na, wenn das nicht Schicksal ist. Hat er was gesagt?"
Ungeduldig wippt Pippa hin und her.
"Er wollte sich entschuldigen, aber ich habe ihm gesagt, dass er sich das sonstwohin stecken kann."
Pip klatscht sich die Hand vor die Stirn. "Warum?"
"Weil ich seine Entschuldigung nicht will. Für eine Wiedergutmachung ist weit mehr nötig als eine kleine Entschuldigung!"
Pippa nimmt mich in den Arm. "Aber wie soll Sahneschnittchen es denn wieder gut machen, wenn du ihn immer wegstößt. Nur weil du mit ihm redest, heißt das ja nicht, dass du ihm verziehen hast. Um dir wirklich beweisen zu können wie Leid es ihm tut, musst du ihm auch die Chance dazu geben."

Als ich einige Zeit später im Bett liege, denke ich noch immer über die Worte meiner besten Freundin nach. Vielleicht hat sie ja Recht.
Und während ich da so liege, reift in meinem Kopf allmählich eine Idee.

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