4. Kapitel

Es kostet mich große Überwindung am nächsten Tag zur Arbeit zu gehen.
Wie ironisch, dass ich gestern noch unbedingt arbeiten wollte und heute nichts lieber tun würde als Zuhause zu bleiben.
Ich will Jeremy nicht sehen. Nie wieder!
Aber leider bekommt man im Leben nicht immer was man will. Sonst würde ich jeden Tag nur Schokolade essen und wäre trotzdem noch schlank. Der wahr gewordene Traum einer jeden Frau.
Ich lächle über meine eigenen Gedanken, doch als ich vor dem Hauptgebäude von Clark Enterprise aus dem Taxi steige, vergeht mir mein Lächeln wieder.
Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit das Schicksal abzuwenden.
Super-Annis Kopf ist am Rauchen.
Mir ist schlecht. Vielleicht sollte ob wieder nach Hause gehen? Und so tun als wäre ich krank? Aber ich bin nie krank und Matt würde direkt wissen, dass es nur an Jeremy liegt und das will ich mir selbst nicht eingestehen.

In meinem Büro fahre ich meinen Rechner hoch, während ich meine Pumps abstreifte und stattdessen in die weichen Hausschuhe unterm Schreibtisch schlüpfte.
Ich stelle mir eine Tasse unter die Kaffeemaschine, die mir daraufhin summend mein Lebenselixier braut.
Leider beruhigt mich der Kaffee heute gar nicht.
Ich zwinge mich zur Konzentration, arbeite wie eine Verrückte, während das Treffen immer Näher rückt.
Auf meinen Rechner gehe ich die Fortschritte der neuen Werbekampagne durch und erinnere mich daran, dass Jace heute zum Fotografieren im Gebäude ist.
Ich brauche keine Sekunde, um zu wissen, was er in meiner Lage tun würde.
Er würde Schwänzen.

Ich bin auf dem Weg zu meinem Zwilling. Schließlich muss er hier irgendwo sein. Tatsächlich finde ich ihn kurz darauf in der Marketingabteilung, wo er gerade einen seiner Mitarbeiter anfährt. Zum Glück arbeite ich für Matt und nicht für Jace, denke ich.
Abseits vom Set steht ein Computer auf dem die Bilder direkt von der Kamera angezeigt werden.
Gespannt trete ich näher um die besser sehen zu können.
Für Jace ist es ein ungewöhnliches Motiv. Er hat ein Faible für Portraits und fotografiert auch gerne spektakuläre Landschaften. Werbefotografie macht er eher selten, trotzdem sind die Bilder großartig.
Ich bin noch nicht lange da, da taucht auch schon Sophia Prime auf. Sie ist die Verantwortliche für die neue Kampagne und sehr darauf erpicht, dass alles perfekt läuft.
"Sophia! Du hast es doch noch geschafft." Ich küsse sie zur Begrüßung auf beide Wangen.
"Ich dachte schon der Termin mit Mr O'Collins endet nie." Aus ihrer Stimme höre ich den Stress der letzten Tage heraus. Ihre Haltung ist angespannt und die Stirn in Falten gelegt.
Sie wirft einen kritisch prüfenden Blick auf den Bildschirm. Ob sie sich wohl mit Fotografie auskennt?
"Die sind wirklich gut!", stellt sie mit einem überraschten, leicht widerwilligen Unterton in der Stimme fest.
Ein stolzes Lächeln huscht über mein Gesicht. Es freut mich, dass Jace sie genauso begeistert wie mich. Schon früher haben mich seine Fotos fasziniert. Dad hat ihm seine erste Kamera zu Weihnachten geschenkt. Damals waren diese noch mit Film und noch am gleichen Abend war der erste schon voll. Ob die Fotos wohl noch irgendwo auf dem Speicher in einer Kiste liegen? Ich glaube nicht, dass es Mum übers Herz gebracht hätte sie wegzuschmeißen.
"Jace hatte schon immer einen Blick für Kleinigkeiten", sage ich lächelnd.
"Na, Schwesterchen." Jace nutzt seine Pause, um und Gesellschaft zu leisten. Obwohl er mich anspricht bemerke ich wie sein Blick über Sophia streift.
"Miss Prime", begrüßt er sie dann aber doch recht steif. Jace ist kein Mensch der seine Gefühle gerne zeigt.
"Wir sprachen gerade darüber, wie gut deine Bilder sind", erzähle ich, als das Schweigen droht unangenehm zu werden.
"Natürlich sind sie gut!" Jace richtet sich neben mir gerade auf. Super-Anni verdreht innerlich die Augen. Immer die gleiche Angeberei!
Ich bekomme den kurzen Schlagabtausch zwischen Jace und Sophia nur halb mit, aber an Sophias Gesichtsausdruck merke ich, dass sie wünscht er würde einfach weiter seine Arbeit machen und sie in Ruhe lassen.
"Lass es sein, Jace", sage ich also scharf, "merkst du nicht, dass du Sophia nervst?"
"Aber wo bliebe denn da der Spaß?", fragt er zwinkernd und ich bin versucht zu Grinsen. Bei diesem typischen Gesichtsausdruck ist es einfach schwer zu widerstehen. Aber ich habe meine Züge unter Kontrolle und verpasse ihm stattdessen einen Klaps auf den Arm. "Hör auf und mach deine Arbeit!", fordere ich ihn auf.
"Sagt die Richtige. Schwänzt du nicht gerade eine Konferenz mit den Vertretern von CW?"
Woher weiß er das, verdammt?
"Aber das liegt nur an Jeremy", verteidige ich mich. Jace erstarrt ruckartig und augenblicklich weiß ich, dass es ein Fehler war Jeremys Namen in seiner Gegenwart auszusprechen. Ich bin nicht die einzige, die nicht im Frieden mit Jeremy auseinander gegangen ist.
"Jeremy? Jeremy West?", harkt Jace nach. Seine Stimme ist so kalt wie Eis und ich wünsche ich hätte meinen Exfreund nie erwähnt.
"Ja, genau der", erwidere ich und beiße mir auf die Lippe.
"Wer ist Jeremy West?", will Sophia wissen. Die Neugier steht ihr ins Gesicht geschrieben.
"Niemand, der Sie etwas angeht", fährt Jace sie brüsk an.
"Hey! Natürlich geht es sie etwas an. Sophia ist meine Freundin", verteidige ich sie. Los verschwinde, Jace. Wir müssen Frauengespräche führen", versuche ich ihn zu verscheuchen.
"Weiber", sagt er augenverdrehend. Zum Glück wird er in diesem Moment von einem seiner Kollegen gerufen und lässt uns tatsächlich allein.
"Also wer war jetzt Jeremy West?", fragt Sophia erneut.
Der best aussehenste Mann im Staat New York, hätte ich beinahe gesagt.
"Arschloch, Exfreund, Lügner,...", beginne ich.
An die glückliche Zeit mit Jeremy erinnere ich mich noch zu gut. Wir waren auf der gleichen Schule, er war Jaces bester Freund und daher ständig bei uns Zuhause. Meine Eltern mochten ihn, für sie gehörte er praktisch zur Familie.
Im Nachhinein war es nur eine Frage der Zeit bis wir zusammenkamen. Allein dieser Schritt sorgte für den ersten Knacks in Jace' und Jeremys Freundschaft. Jace wusste schließlich zu gut, wie gerne sein bester Freund neue Mädchen kennenlernte. Er riet mir mehrfach mich nicht zu stark in die Beziehung hinein zu steigern, aber natürlich glaubte ich Jeremy würde sich für mich ändern. Naiv wie ich war, glaubte ich an die wahre und einzige Liebe.
Eine ganze Weile lief es in unserer Beziehung auch wirklich gut. Jeremy trug mich auf Händen, die Freundschaft zu Jace festigte sich wieder und alles war gut.
Und dann ging er fremd, ich erfuhr es von Jace, glaubte ihm nicht und hielt zu meinem Freund, der natürlich alles abstritt.
Jace und Jeremy gingen sich von da an aus dem Weg, aber wirklich funktionieren tat das nicht. In der Schule sahen sie sich schließlich ständig.
Mehrfach kam es zu Schlägereien. Jace versuchte mir immer wieder klar zu machen, was Jeremy tat, dass er mich ausnutzte, aber ich hörte nie zu. Zu tief steckte ich in meiner Illusion der Liebe. Der festen Überzeugung nichts könne unsere Liebe zerstören, stieß ich Jace immer mehr von mir.
Erst viel zu spät merkte ich wie kaputt uns das machte.
Und dann sah ich es mir eigenen Augen. Jeremy wurde immer unvorsichtiger, wiegte sich bei meiner Leichtgläubigkeit in Sicherheit.
Aber ich sah ihn auf einer Party mit einer anderen rummachen und als ich ihn zur Rede stellte, beschimpfte er mich als dumme Bitch und sagte mir ich solle ihn endlich in Frieden lassen, meine Anhänglichkeit sei ätzend.
Irgendwie wäre ich mit diesen Beschimpfungen zu Recht gekommen, wäre es nicht vor der ganzen Schule gewesen. Er verbreitete miese Gerüchte über mich, was Jace ihm jedes Mal mit einer weiteren Schlägerei heimzahlte.
Der Streit weitete sich auf unsere Familien aus. Mein Vater zerstritt sich mit Jeremys und die beiden Firmen wurden Konkurrenten, die sich gegenseitig vom Markt zu verdrängen versuchten.

"Krass!", kommentiert Sophia, "aber warum habt ihr überhaupt Konferenzen mit denen?"
"Alles nur Heucheleien", erwidere ich.
Kurz darauf taucht unser Kollege Lucian auf und bitte Sophia um ein Gespräch in seinem Büro.
Wir verschieben unser Gespräch auf später.
Sicher, dass die Konferenz jetzt vorbei ist, mache ich mich, nachdem ich mich kurz von Jace verabschiedet habe, auf den Weg zurück zu meinem Büro.

Ich bin schon im richtigen Flur, als jemand seitlich aus dem Treppenhaus geeilt kommt und mit ordentlich Schwung in mich kracht.
"Uff!"
Stolpernd versuche ich Halt zu finden, greife aus Reflex nach dem Übeltäter, um den nahenden Sturz zu vermeiden.
Ein starker Arm schlingt sich um mich und fängt mich auf, bevor ich Bekanntschaft mit dem hässlich grauen Linoleumboden mache.
Mein Herz rast, durch den Schock beschleunigt, und als ich den Blick hebe, droht es zu kollabieren.

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