25 | Unverhofft kommt oft
Also nach all den ganzen Emotionen müssen wir uns erstmal zusammen mit Lou sortieren, oder?
„Also alles musst du dir echt nicht gefallen lassen", japste Sam, als wir ein paar Tage später durch den Wald liefen. Obwohl ich skeptisch gewesen war, hatte ich etwa zeitgleich mit meinem neuen Job mit Laufen angefangen, um den Kopf freizukriegen. Der Einstieg war mir schwergefallen, aber inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt und genoss das Glücksgefühl, das jedes Mal nach dem Sport durch meinen Körper strömte.
Heute hatte ich Sam dazu überreden können, gemeinsam zu joggen. So konnten wir unseren inneren Schweinehund zusammen überwinden und gleichzeitig die Gelegenheit nutzen, uns über die neusten Entwicklungen auszutauschen. Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel, nur hier und dort zeigten sich ein paar Wölkchen. Die großen Baumwipfel des Waldes schirmten die warmen Sonnenstrahlen ab und verschafften uns ein wenig Abkühlung. Gerade hatte ich ihr von meiner letzten ernüchternden Begegnung mit Marten erzählt. Auch sie fand sein Verhalten unmöglich, was sie durch ununterbrochene Flüche zum Ausdruck gebracht hatte. Sie hatte mir damit ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert, denn ich fühlte mich mit meiner Enttäuschung weniger allein.
„Er hat sich einfach unmöglich verhalten", keuchte ich.
„Gut, dass du ihn stehenlassen hast", pflichtete Sam mir bei. Ihr Pferdeschwanz wippte mit jedem Schritt im Takt.
„Als würde ich mit ihm nach seinen blöden Pöbeleien noch ein Wort reden", sagte ich entschieden.
„Ich verstehe sogar, dass er nicht begeistert davon war, wie du praktisch vor allen eure Beziehungsprobleme breitgetreten hast – aber wenn er weiter denken würde als drei Meter Feldweg, hätte er verstanden, dass du damit versucht hast, auf ihn zuzugehen. Hätte er sich nicht im Affekt von dir getrennt und dich danach praktisch geghostet, hättest du ja vielleicht auch einfach versucht, ihn mal anzurufen."
„Wow, wie kannst du bitte bei dem Tempo so viel reden, ohne Luft zu holen?", platzte es aus mir heraus.
„Kann ich nicht", japste Sam, dann blieb sie abrupt stehen, sackte erschöpft in sich zusammen und rang nach Luft. Ich tat es ihr gleich. Sie machte eine abwinkende Handbewegung.
„Vielleicht sollten wir einfach langsam weitergehen", schlug sie vor. Ich nickte, denn auch mir fiel das Atmen schwer.
„Streng genommen habe ich ihm keine Gelegenheit gegeben, mich zu ghosten, weil ich mich seit seinem dramatischen Abgang nicht mehr bei ihm gemeldet habe", korrigierte ich sie, als wir unseren Weg gemächlich fortsetzten.
„Schade, dass das mit euch nicht geklappt hat", sagte sie mitfühlend. „Ich hätte es dir wirklich gewünscht."
Ich seufzte schwer und ließ meinen Blick traurig in die Ferne schweifen.
„Er fehlt mir sehr. Aber nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist, würde ich ihn niemals anrufen", gestand ich. Sie drehte mir den Kopf zu.
„Verstehe ich. Ich würde mir das auch nicht mehr antun. Ihr habt beide Fehler gemacht, aber der Wunsch zu reden sollte von beiden ausgehen. Solang da nichts kommt, würde ich mich auch nicht mehr melden." Ich nickte.
„Und wie läuft es mit Eugen?", versuchte ich, das Thema zu wechseln, um nicht länger über Marten sprechen zu müssen. Es tat einfach noch zu weh. Ein Lächeln huschte meiner besten Freundin über die Lippen.
„Gestern Abend hat er für mich gekocht." Ich zog die Augenbrauen hoch.
„Da du strahlst wie ein Set schlechte Veneers, nehme ich an, dass es ganz passabel war", schlussfolgerte ich. Sie kicherte.
„Es war super. Liegt vielleicht daran, dass er früher mal einen Kochkurs gemacht hat, mit seiner Exfrau", erzählte sie leichthin. Ich runzelte skeptisch die Stirn.
„Er ist schon geschieden?", hakte ich überrascht nach. In meinem Hinterkopf schrillten plötzlich Alarmglocken auf. Ein Mann, der so jung bereits eine Ehe hinter sich gelassen hatte, bedeutete möglicherweise mehr Ärger, als ich bisher angenommen hatte. Doch Sam winkte lächelnd ab.
„Ja, schon sechs Jahre", antwortete sie.
„Sechs Jahre?", wiederholte ich. „Mit wie viel Jahren hat er geheiratet? Mit achtzehn?"
Sam grinste.
„Mit achtundzwanzig. Sie waren zehn Jahre verheiratet, dann ist es zerbrochen."
„Er ist vierundvierzig?", platzte es überrascht aus mir heraus, als ich die Rechenaufgabe in meinem Kopf gelöst hatte.
„Hatte ich das nicht erwähnt?", schmunzelte Sam. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein. Ist ja auch nicht schlimm, dass er so viel älter ist als du. Aber auf dem Foto, das du mir gezeigt hast, sah er aus wie dreißig...", sagte ich. Sam lächelte.
„Erstens hat er sich gut gehalten und zweitens sind es doch bloß sechzehn Jahre", erwiderte sie schulterzuckend. Ich sah ihr grinsend ins Gesicht.
„Hat er schon Kinder?", fragte ich neugierig.
„Eine kleine Tochter. Sie wird neun", antwortete sie bereitwillig. Ich runzelte die Stirn.
„Macht dir das was aus?", wollte ich wissen. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, gar nicht. Sie ist echt süß. Letztes Wochenende haben wir uns gegenseitig die Haare gemacht und sie hat mir ein Armband geknüpft", erzählte sie zu meiner Überraschung. Ich lächelte.
„Okay, das ist echt niedlich", räumte ich ein. „Auch, wenn ich mir dich nicht so richtig beim Armbänder knüpfen vorstellen kann."
„Für mich war es tatsächlich auch das erste Mal, meine Kindheit ausgeschlossen", kommentierte sie amüsiert. „Aber wir hatten sehr viel Spaß."
„Ich freu mich wirklich für dich, dass das mit euch so gut läuft", sagte ich aufrichtig. Sie hakte sich bei mir unter.
„Ich würde ihn dir echt gern mal vorstellen", sagte Sam. Ich lächelte.
„Die kommenden Nächte bin ich in der Strandbar. Aber vielleicht nach dem Wochenende?", schlug ich vor. Sie lächelte.
„Klingt doch super", sagte sie. „Wie läuft es überhaupt in dem neuen Job?"
„Ganz gut. Noch muss ich mich bemühen, mich zu öffnen und nicht jedem, der mir blöd kommt, eins mit der Bierflasche überzuziehen, aber ich habe das Gefühl, dass es mir von Nacht zu Nacht etwas leichter fällt", erzählte ich mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Also fühlst du dich wohl dort?", hakte meine beste Freundin nach. Ich nickte.
„Es ist natürlich eine ganz andere Klientel als das, was zu uns ins Café kommt. Aber das macht es ja auch irgendwie spannend. Und ich lerne immer neue Leute kennen, die alle ihre ganz eigenen Päckchen zu tragen haben. Einige haben schon schlimme Schicksale, da werde ich manchmal sehr demütig", sagte ich. Sam zog verblüfft die Augenbrauen hoch.
„Du unterhältst dich echt mit Fremden?", hinterfragte sie verblüfft. Ich nickte.
„Ja. Manchmal ist es leichter, manchmal schwieriger. Ich versuche noch, die Balance zu finden. Einige sind froh, wenn sie sich etwas von der Seele reden können. Andere wollen nur ihren Alltag vergessen und schießen sich ab, als gäbe es kein Morgen. Ich bemühe mich, ihnen ein gutes Gefühl zu geben und ihnen zuzuhören, ohne dabei zu viel Privates von mir preisgeben zu müssen. Das geht ganz gut", erklärte ich.
„Klingt, als würdest du momentan in vielerlei Hinsicht an dir arbeiten. Du kannst richtig stolz auf dich sein", sagte Sam anerkennend. Es stimmte, was sie sagte. Noch vor einem halben Jahr waren mir Gespräche mit Fremden viel schwerer gefallen, aber mit der Zeit gelang es mir immer leichter, offener für ihre Geschichten zu sein.
„Danke", nuschelte ich. Inzwischen hatten wir die kleine Gabelung erreicht, die aus dem Wald auf den Parkplatz hinausführte, auf dem wir unsere Autos abgestellt hatten.
„Wenn du willst, können wir ja jetzt öfter gemeinsam laufen gehen", schlug Sam vor, als wir dort ankamen. Ich schüttelte grinsend den Kopf, denn um wirklich abzuschalten und mich für eine Weile nur auf mich zu konzentrieren, redeten wir einfach zu viel dabei. Das war natürlich auch schön, aber viel gemütlicher, wenn wir dabei nicht nach Luft japsen mussten.
„Lass uns lieber einfach wieder einen Kaffee trinken, wie normale Leute."
Als ich etwas später aus der Dusche kam und mich abtrocknete, fühlte ich mich das erste Mal seit Wochen wirklich befreit. Das Treffen mit Sam hatte mir gutgetan. Ich trocknete mich ab, schlüpfte zunächst in einen Jogginganzug und föhnte meine Haare. Dann kramte ich ein paar Shorts und T-Shirts aus meinem Kleiderschrank und warf sie aufs Bett, um mir ein Outfit für die Nacht auszusuchen. Heute entschied ich mich für eine weiße Bluse, die ich in den Saum meiner blauen, kurzen Jeansshorts steckte. Als ich mich geschminkt hatte, streifte ich mir zwei Armreifen übers Handgelenk, die farblich gut zu meinem Gürtel mit Leopardenmuster passten. Ein Spritzer Parfum, einen letzten Blick in den Spiegel, dann schlüpfte ich in ein Paar weiße Sneakers, schnappte mir mein Handy, warf es zusammen mit meinem Geldbeutel und meinem Schlüsselbund in meine Tasche, verließ meine Wohnung und machte mich auf den Weg zur Haltestelle.
Nur ein paar Stationen später stieg ich in der Nähe der Strandbar wieder aus. Schon jetzt war einiges los auf der Amüsiermeile, sodass ich mich durch die vielen Passanten hindurch bis zur Tür schlängelte. Bereits draußen war dumpf die Funkmusik zu hören, die aus den Boxen drang. Mit einem Lächeln auf den Lippen straffte ich die Schultern, öffnete die Tür und tauchte einmal mehr in die Parallelwelt ab.
Heute wartete nicht Viktor auf mich, sondern eine groß gewachsene Dragqueen mit lilafarbener Perücke, auffälligem Make-Up und schillerndem Kleid. Neben ihr wirkte ich in meiner Bluse und der Hotpants beinah wie eine unschuldige, graue Kirchenmaus.
„Hey, Melody", begrüßte ich meine Kollegin lächelnd und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Es waren bereits einige Tische und Hocker besetzt.
„Hey, Luzi", gab sie mit ihrer tiefen Stimme zurück, die, soweit ich weiß, das einzige Relikt war, das ihr aus ihrem Leben als Mann geblieben war. Ich schmunzelte, wissend, dass sie ein sehr herzlicher Mensch war, mich gern mochte und ein eigener Kosename ihre Art war, ihre Sympathie für mich zum Ausdruck zu bringen. Anfangs hatte ich meine Schwierigkeiten damit gehabt, aber seit ich sie nach und nach besser kennenlernte, gelang es mir, darüber hinwegzusehen und ihre Art der Liebesbekundung zu akzeptieren.
„Lou", korrigierte ich sie dennoch. Es konnte schließlich nicht schaden, sie trotz allem davon abzubringen, bevor am Ende jeder damit anfing, der sich in die Strandbar verirrte. Ich verschwand kurz im Büro, um meine Tasche wegzuschließen, dann kehrte ich zu Melody zurück und schob die Arme meiner Bluse hoch.
„Schick haste dich gemacht. Doch nicht etwa für mich?", grinste sie mit einem kessen Augenzwinkern.
„Um ehrlich zu sein, wollte ich heute Ratte beeindrucken", konterte ich trocken und deutete mit einem Kopfnicken auf den jungen Paradiesvogel auf der anderen Seite des Tresens. Der hübsche Junge mit dem bunten Irokesenschnitt und den vielen Piercings sah aus wie fünfzehn, war aber vor Kurzem immerhin achtzehn geworden. Er tat mir leid, weil er von zuhause rausgeflogen war und seitdem auf der Straße lebte. Manchmal ließ Bodo ihn im Hinterzimmer der Strandbar schlafen, weil es für einen jungen Hüpfer wie ihn auf der Straße so hart war. Da Ratte über achtzehn war, fühlte keine Behörde sich für ihn zuständig und redete sich mit der Unterhaltspflicht seiner Mutter raus, die aber nicht zahlte. Übergangsweise hatte er versucht, im Obdachlosenheim zu schlafen, aber die vielen Alkoholiker und Junkies und all die rohe Gewalt hatten ihn abgeschreckt. Als ich ihm nun ein freches Lächeln schenkte, huschte auch ihm eines über die Lippen.
„Ja, sieht echt ganz okay aus", sagte er jetzt. Ich zog empört die Augenbrauen hoch und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ganz okay?", wiederholte ich beleidigt. „Hör mal zu, ich hab für dich ne Stunde vorm Spiegel gestanden, um so auszusehen."
Er lachte. Ich stimmte mit ein. Erst jetzt bemerkte ich sein leeres Glas.
„Willst du noch was?", fragte ich. Er nickte.
„Ne Cola."
„Sehr vernünftig", lobte ich ihn, bevor ich ein sauberes Glas nahm und ihm eine zapfte. Dann schob ich sie ihm über den Tresen.
„Danke", nuschelte er. Er war so niedlich in seinem Wesen, dass ich ihn am liebsten adoptiert und mit nach Hause genommen hätte.
„Viktor ist auf dem Weg, hatte wohl noch was zu erledigen", informierte mich Melody, als auch ich mir etwas zu trinken genommen hatte. Wenn ich mir die große Männergruppe ansah, die gerade hereinpolterte, konnte es nicht schaden, wenn er sich ein wenig beeilte. Am Wochenende war es immer besser, wenn er in der Nähe war, um Konflikte, wenn nötig, in körperlichen Auseinandersetzungen zu beenden. Weil Viktor schon seit Jahren boxte, legte sich mit ihm freiwillig so schnell niemand an.
Da ich die Männer hier noch nie gesehen hatte, tippte ich auf eine Gruppe Touristen, die heute Abend gemeinsam den Kiez unsicher machen wollten. Einige von ihnen schienen bereits gut getankt zu haben. Während sie sich um gleich mehrere Tische fallenließen, verschaffte ich mir einen groben Überblick.
„Das Bier ist alle", sagte Melody, die gerade an der Zapfmaschine stand. „Ich geh mal eben das Fass wechseln."
Ich nickte, dann verschwand sie.
„Lou, bringste mir'n Astra?"
Erst, als er nach mir rief, sah ich Lucky, heute ohne Bernadette, an einem der Tische sitzen. Er hatte seinen Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen und fummelte an seinem Westernhemd herum. Ich folgte seiner Aufforderung und brachte ihm die Flasche.
„Wo hast du denn deine bessere Hälfte gelassen?", fragte ich. Er winkte ab.
„Frag nicht, die hat mich vielleicht genervt", sagte er mürrisch. Ich schmunzelte.
„Du sie bestimmt auch", gab ich zurück.
„Schätzchen, komm ma' her. Wir wollen was bestellen", johlte einer der Männer, ich schätzte ihn auf Mitte Vierzig. Seine kräftigen Arme auf dem Tisch abgelegt, sah er mir ungeduldig ins Gesicht. Ich atmete tief durch, denn obwohl ich schon einige Wochen hier arbeitete, ließ ich mich noch immer ungern von völlig Fremden mit herabwürdigenden Kosenamen anreden oder wirsch herumkommandieren.
„Sobald du gelernt hast, wie man ne Frau anspricht", rief ich ihm zu.
„Was bist'n so zickig?", hielt der kräftige Typ grinsend dagegen. Es war ihm anzusehen, dass er sich vor seinen Kumpels profilieren und ihnen zeigen wollte, dass er mit einem jungen Ding wie mir umzugehen wusste. In mir begann es zu brodeln. Angespannt ballte ich meine Hände zu Fäusten, während meine gesamte Muskulatur sich versteifte.
„Ich bin nicht zickig. Ich lass mich bloß nicht von jedem Idioten blöd von der Seite anmachen", schoss ich zurück.
„Okay, Lou. Vielleicht gehst du mal und kümmerst dich um die Mädels."
Viktor, der aus dem Nichts überraschend hinter mir aufgetaucht war, packte mich an den Schultern. Dann drehte er sich den pöbelnden Männern zu. „Ich komm gleich zu euch", rief er, dann schob er mich zur Bar zurück. Dort begrüßte er kurz einige der Gäste am Tresen, dann ließ er mich mit dem grimmigen Georg, der sich wieder mal an sein Pils klammerte und mit niemandem sprach, und ein paar Damen allein und kümmerte sich um die Männergruppe.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als ich später in der Nacht durch den Raum sah. Laute Musik dröhnte aus den Boxen, dichte Rauchschwaden hingen in der Luft und ich hatte das Gefühl, immer schwerer atmen zu können. Doch der Laden war gerammelt voll, also war an eine kurze Pause vor der Tür kaum zu denken. Die große Männergruppe saß noch immer hier herum. Wie ich inzwischen erfahren hatte, feierten sie den Junggesellenabschied von ihrem Anführer, der mir vorher so frech um die Ecke gekommen war, und waren inzwischen alle sternhagelvoll; ganz zur Freude von Jules.
Die niedliche Filmmusikstudentin verirrte sich ab und zu in die Strandbar, weil ihre Kohle neben dem Studium knapp war und sie hier günstig ein paar Getränke abgreifen konnte. Sie war oft auf Tinder unterwegs und bestellte sich regelmäßig Männer hierher, um sie auszunehmen wie eine Weihnachtsgans und anschließend einfach zu verschwinden. Inzwischen hatte ich gecheckt, dass sie ihre eigentlich blonden Haare immer mit Haarkreide färbte, um nicht so schnell erkannt zu werden. Jetzt saß sie gemeinsam mit einer Freundin am Tisch der Junggesellenrunde und ließ sich einen Drink nach dem anderen ausgeben. Ich musste zugeben – ganz dumm war sie ja nicht. Und ich gönnte es diesem Arschloch einfach, weil er nicht müde wurde, auch Jules und ihre Freundin ständig auf ihr Äußeres zu reduzieren und frauenverachtend anzusprechen. Jetzt allerdings schaute er sich suchend nach einer Bedienung um und ich hoffte, dass er nun endlich den riesigen Deckel für sich und seine Jungs bezahlen und verschwinden würde. Lang konnte ich dieses permanente Gegröle und die ständige Selbstbeweihräucherung jedenfalls nicht mehr ertragen, ohne ihm oder einem seiner sexistischen Freunde an die Gurgel zu gehen. Zu meinem Leidwesen war Viktor schon eine ganze Weile mit einem Gast im Büro verschwunden. Ich seufzte lautlos, als der Blick des Arschlochs auf mich fiel und er mich süffisant grinsend ins Visier nahm. „Hey, Süße, kommste mal?"
Demonstrativ sah ich mich zu beiden Seiten um, bevor ich ihm ins Gesicht sah.
„Redest du mit mir?"
„Ja. Klar. Komm mal."
„Wenn du nochmal Süße zu mir sagst, klatscht das, aber keinen Beifall", sagte ich trocken, was jedoch lediglich dazu führte, dass er die Zähne bleckte. Melody legte mir ihre Hand auf die Schulter.
„Ich mache das schon", bot sie an, doch ich schüttelte den Kopf. Schließlich wollte ich derartige Konfrontationen nicht immer vermeiden. Sonst würde ich mich nie weiterentwickeln.
„Schon okay", sagte ich, dann machte ich mich auf den Weg zu meinem Feind. „Also, was kann ich euch Gutes tun?", fragte ich und sah hoffnungsvoll in die Runde.
„Ich will bezahlen", sagte er.
Innerlich fiel mir ein riesiger Stern vom Herzen.
„Voll schade, dass ihr schon geht", säuselte Jules unterdessen. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ja, wir wollen noch weiter, ins Dollhouse", grölte ein anderer. Ich verkniff mir den bissigen Kommentar, dass sie da in dem Zustand wohl kaum noch reingelassen werden würden – nicht, weil ich ihnen die restliche Nacht nicht madig reden wollte, sondern aus purem Eigennutz, um zu verhindern, dass sie nicht wie Klebpflaster hier sitzenblieben und mir weiter auf die Nerven gingen.
„Klingt nach einem guten Plan", sagte ich also stattdessen, zückte meinen Stift und begann, die Striche vom Deckel zusammenzurechnen. Er beugte sich dabei darüber und sah mir genau auf die Finger. Plötzlich legte er mir völlig unerwartet die Hand an die Taille. Ich schob sie entschieden weg, doch er ließ sich dadurch nicht entmutigen. Dass er so frech war, sich über meine deutliche Geste hinwegzusetzen, brachte das Blut in meinen Adern zum Kochen.
„Noch bist du nicht im Dollhouse", sagte ich entscheiden und stieß seine Hand ein weiteres mal weg.
„Hab dich nicht so, ab morgen ist mein Leben praktisch vorbei", jammerte er, bevor er seinen Arm um meine Hüfte schlang und mich zu sich heranzog. Eine gefährliche Hitze stieg in mir auf, während meine Hand sich um den Kugelschreiber verkrampfte und ich mich energisch von ihm losmachte. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, ihm die Bierflasche über den Kopf zu ziehen, auch, wenn es mir in den Fingern juckte.
„Pass mal auf, du Spinner. Wenn du mich noch einmal anfasst, mach ich mit dir den Nicky Santoro in Casino. Dann war's das mit deiner Hochzeit, weil du deiner zukünftigen Frau erstmal erklären musst, warum dir eins deiner Schielaugen fehlt", blaffte ich ihn an. Erst, als alle Stimmen im Raum verstummten und nur noch die Musik weiterlief, merkte ich, wie laut ich geworden sein musste. Auch mein Gegenüber sah mir verblüfft ins Gesicht. Es war offensichtlich, dass er mit einer derartigen Gegenwehr nicht gerechnet hatte. Fast schon eingeschüchtert kauerte er sich vor mir zusammen und starrte auf den Bierdeckel. Ich atmete tief durch und versuchte, die innere Anspannung abzuschütteln. Es gelang mir nicht recht, aber immerhin verspürte ich nicht mehr den Drang, ihm den Stift ins Auge zu rammen.
„132,50", fügte ich trocken hinzu und sah ihm erwartungsvoll ins Gesicht. Er kramte wortlos in seiner Geldbörse herum, dann warf er 150 € auf den Tisch.
„Stimmt so", nuschelte er.
„Schönen Abend noch", säuselte ich zufrieden, steckte das Geld ein und wandte mich von ihm ab. Als ich zum Tresen herumfuhr und völlig unvermittelt in dieses mir nur allzu bekannte blaue Augenpaar blickte, erstarrte ich in meiner Bewegung. Mir wurde von einer Sekunde auf die andere gleichzeitig heiß und kalt, als ich Marten mit unergründlichem Gesichtsausdruck am Tresen stehen sah. Seine dunkle Snapback tief ins Gesicht gezogen und die tätowierten Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben stand er da und schaute mich einfach nur an. Sofort begann das Herz in meiner Brust zu rasen und mein Mund wurde staubtrocken. Ich schluckte, doch es wurde nicht besser. Meine Gedanken überschlugen sich regelrecht. Was machte er hier? Und wie lang stand er schon da?
Jaaa, ich weiß, ich bin richtig scheiße, weil ich an der Stelle so einen fiesen Cut gemacht habe, aber kommt, ihr müsst zugeben, dass ich mich bisher mit richtig gemeinen Cliffhangern zurückgehalten habe, oder? :D
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