05 | Wiedersehen

Cuties, ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Kapitel :)

Niemand schien sonderlich Notiz von mir zu nehmen, als ich an diesem Abend schweigend den Raum betrat und mich auf einen der Stühle fallenließ. Ich hatte noch immer nicht vor, mich hier mit jemandem anzufreunden, also warf ich nur unauffällig einen flüchtigen Blick in die Runde. Pflaster-Mike unterhielt sich gerade angeregt mit Dario Dog-Smasher, also beschäftigte ich mich mit meinem Smartphone, um weiteren Unterhaltungen so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen. Als Dr. Sandmann die Sitzung kurz darauf eröffnete und die Teilnehmer begrüßte, war Marten noch nicht eingetroffen. Ob er eine Taktik entwickelt hatte, die Sitzungen zu umgehen? Für einen kurzen Moment beneidete ich ihn darum, denn ich musste mir nun anhören, wie die dunkelhaarige Mittvierzigerin aus der vergangenen Woche ihre Nachbarin mit einem Golfschläger angegriffen hatte. Dabei klang sie keineswegs reumütig.

„Sie parkt ständig in unserer Einfahrt", erzählte sie aufgebracht. „Ich habe sie schon oft gebeten, ihren Wagen wegzufahren, aber sie gibt immer nur schnippische Antworten. Diesmal habe ich es sattgehabt. Ich habe mir den Golfschläger von meinem Mann genommen und ihren Volvo demoliert."

Sie erzählte ihre Geschichte mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ich beeindruckt an ihren Lippen klebte und aufmerksam zuhörte, bis sie eine Sprechpause machte und theatralisch die Augen verdrehte.

„Total nachvollziehbar", brach eine markante Stimme das kurze Schweigen. Alle, einschließlich mir, folgten ihr und schauten zum Türrahmen. Marten stand dort, die Hände in den Taschen seiner olivgrünen Bomberjacke vergraben, und musterte die Gruppe mit dem für ihn offenbar typischen, düsteren Gesichtsausdruck. Er hatte also keinen Weg gefunden, zu schwänzen. Unpünktlichkeit war einfach nur sein Ding.

„Wie hätten Sie reagiert?", hakte Dr. Sandmann nach, als er eine Chance sah, den tätowierten Riesen in die Unterhaltung einzubinden. Der durchquerte den Raum, zog seine Jacke aus und warf sie über die Lehne des freien Stuhls neben mir, ehe er sich setzte.

„Kein Plan, hängt von der Situation ab", offenbarte er. „Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man Frauen nicht schlägt, aber ich hätte sie vermutlich beleidigt."

Dr. Sandmann runzelte die Stirn.

„Mehr nicht?"

Marten zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht hätte ich das Auto auch demoliert. Was stellt die sich da auch immer hin? Hat die keine eigene Einfahrt, die sie blockieren kann?", gab er zurück. Die Geschichtenerzählerin warf ihm einen stolzen Blick zu.

„Genau das habe ich sie auch gefragt!"

Dr. Sandmann wandte sich wieder an sie.

„Sie haben also auf den Wagen eingeschlagen", kehrte er zur Geschichte zurück. „Und was ist dann passiert?"

„Dann kam die Polizei und hat meine Aussage aufgenommen", erzählte sie seelenruhig.

„Das haben Sie gut gemacht, Linda", bekräftige Dr. Sandmann sie und nickte zufrieden. Rein rational betrachtet war an Lindas Reaktion überhaupt nichts gut, denn ich glaubte, dass ihr Wutausbruch sie teuer zu stehen kommen könnte. Trotzdem begannen die anderen Teilnehmer des Kurses zu klatschen. Ich wischte mir lautlos seufzend über die Augen.

„Nachdem wir uns nun den Zorn der Woche von der Seele geredet haben, würde ich gern zur nächsten Partneraufgabe kommen", fuhr der Seminarleiter fort und schaute aufmunternd in die Runde. Ich warf Marten einen hilfesuchenden Seitenblick zu.

„Wie oft machen wir denn diese scheiß Partner-Aufgaben? Ist das hier ein Anti-Aggressionskurs oder Speeddating?", raunte ich ihm zu. Ein amüsiertes Grinsen huschte ihm über die Lippen.

„Heute habe ich Ihnen das Gewaltthermometer mitgebracht", erzählte der Seminarleiter unbeeindruckt und zog beiläufig einen Stapel Blätter aus der Aktentasche, die er neben sich auf dem Boden abgestellt hatte, und breitete sie vor uns aus. Auf diesen Blättern standen Beispiele für verschiedene Gewaltsituationen, die wir auf einer Skala von 0 bis 100 Grad bewerten sollten. Pflaster-Mike, der auch diese Übung bereits zu kennen schien, verdrehte wieder einmal stöhnend die Augen. Dr. Sandmann nickte ihm zu. „Mike, Sie tun sich heute bitte mit Linda zusammen", forderte er, dann schaute er zu der Dame mit den Locken. „Ich mach mit ihr", fiel Marten ihm ins Wort und zeigte auf mich. Überrascht, aber auch erleichtert, zog ich die Augenbrauen hoch. Schließlich war er im direkten Vergleich zu den anderen Irren noch das kleinste Übel in diesem Kurs. „Ach ja?"

Er zuckte mit den Schultern.

„Hat doch gut geklappt letzte Woche beim Lücken ausfüllen", erinnerte er mich zufrieden an unsere letzte unfreiwillige Zusammenarbeit.

„Weil ich die ganze Arbeit gemacht hab", kommentierte ich trocken.

Intoleranz hab ich ja wohl gelöst", widersprach er überzeugt.

„Richtige Meisterleistung, wenn man bedenkt, dass es das einzige Wort war, das bis zum Schluss übriggeblieben ist", konterte ich überlegen. Er hielt sich abwehrend die Hände vor die Brust.

„Okay, mach mit dem Hundemörder, wenn du willst...", raunte er mir zu und sah zu Dario herüber, der sich gerade bereits mit David zusammengetan hatte.

„Zu spät. Schade", schmollte ich. Marten zog düster die Augenbrauen zusammen.

„Du würdest echt eher mit Chihuahua-Werfer als mit mir...?", fragte er fassungslos. Grinsend stand ich auf. Nur widerwillig folgte er mir zu den ersten Blättern. Während ich die Texte durchlas, um sie den verschiedenen Enden des Thermometers zuzuordnen, stand er hinter mir und schaute mir über die Schulter. Ich griff das erste Blatt. Eine Mutter gibt ihrem Kind einen Klaps auf den Po, weil es nicht hören will, stand darauf.

„Ganz klar Gewalt", sagte ich. Marten nickte. Also legten wir das Papier zur 100. Marten griff nach dem nächsten Blatt. Während wir die Aussagen verschiedenen Skalen des Thermometers zuordneten, beschäftigten sich auch die anderen Teilnehmer mit einer Einschätzung, was dazu führte, dass die Zettel immer wieder von Personen hin- und hergeschoben wurden.

„Dein Ernst, dass du das auf die 100 legst?", fragte Marten irgendwann an Linda gewandt, die gerade „Der Partner zerbricht in seiner Wut die Lieblingstasse seiner Partnerin" von seiner eigenen harmlosen Einordnung wegschob und sie stattdessen in die Gewalttaten einreihte. Doch bevor sie antworten konnte, unterbrach uns der Seminarleiter.

„Wie ich sehe, sind Sie nun alle mit ihrer Zuordnung fertiggeworden. Da Sie bereits damit angefangen haben, lassen Sie uns gern jetzt darüber diskutieren", schlug er vor und deutete einladend auf unsere leeren Stühle, damit wir uns wieder setzten. Anschließend hob er den ersten Zettel auf, der bis eben noch auf der Gewalt-Seite des Thermometers gelegen hatte.

„Ein Bruder schlägt seine Schwester, weil sie nicht auf ihn hört", las er laut vor, dann schaute er erwartungsvoll in die Runde.

„Ich denke, wir sind uns alle einig, dass das auf die Gewalt-Seite gehört", antwortete Dario und sah von einem Teilnehmer zum anderen. Wir nickten, niemand widersprach.

„Ok", sagte Dr. Sandmann, legte den Zettel wieder zurück und griff den Nächsten.

„Eine Frau verzichtet auf einen Konzertbesuch, weil ihr Mann abends nicht gern allein bleibt."

„Was ist das denn für ein Lappen?", platzte es belustigt aus Marten heraus.

„Ganz klar Gewalt an der Frau", überging ich seinen dämlichen Kommentar.

„Also ich finde es gut, dass sie zuhause bleibt", erwiderte Mike überzeugt. Marten musterte ihn stirnrunzelnd und ließ sich gegen die Stuhllehne fallen.

„Warum? Angst, dass sie einen Typen ohne Pflaster im Gesicht kennenlernt?", fragte er trocken. Während mir ein Schmunzeln über die Lippen huschte, lief Mikes Gesicht puterrot an.

„Es gehört sich einfach nicht, dass die Frau ohne ihren Mann zu einem Konzert geht."

„Oh man. Willkommen in den 20ern", murmelte Linda augenrollend von der anderen Seite des Raumes.

„Du musst ja wissen, wie's damals zuging", schoss Mike zurück.

„Lassen Sie uns beim Thema bleiben", griff Dr. Sandmann ein, bevor sich alle in Rage reden konnten. „Linda, wo haben Sie die Aussage eingeordnet?"

„In der Mitte", antwortete die Mittvierzigerin und strich sich durch die vollen Locken. „Ist keine körperliche Gewalt, aber seelische."

„Was ein Unsinn", protestierte Mike. „Nur, weil er keine Lust hat, dass die Frau sich ohne ihn auf einem Konzert herumtreibt, kettet er sie ja nicht gleich an."

„Mit oder ohne Ketten – das ist ne Art von Unterdrückung", widersprach Marten überzeugt. „Dabei kann der Typ doch froh sein, wenn die Alte mal ein paar Stunden weg ist."

„Was sagen Sie denn dazu?", hakte Dr. Sandmann nach und drehte mir den Kopf zu.

„Ich finde auch, dass es eine Form von Gewalt ist", schloss ich mich Linda an. „Ist ja nicht ihr Problem, wenn er schlecht allein sein kann."

„Und wie sieht es mit dieser Aussage aus?", fragte mein Gegenüber und zog einen weiteren Zettel zu sich heran. Ein Demonstrant beschimpft einen Polizisten. Marten hatte das Blatt vorhin beherzt auf die Null geworfen, ohne weiter darüber nachzudenken.

„Ich bin mir sicher, er hat es verdient", kommentierte er jetzt lapidar.

„Und weshalb?", hakte der Seminarleiter nach. Marten zuckte mit den Schultern.

„Niemand hat ihn gezwungen, Bulle zu werden. Er hätte auch was anderes machen können. Feuerwehrmann... Rettungssanitäter... Bankangestellter...", antwortete er trocken und warf Dario ein süffisantes Grinsen zu.

„Und allein der Beruf des Polizisten rechtfertigt verbale Gewalt?", hinterfragte der Hundetöter überheblich, doch Marten sah ihm unbeeindruckt ins Gesicht.

„Starke Meinung für einen, der den Hund seiner Freundin aus dem Fenster geworfen hat", schoss er zurück.

„Trotzdem macht er in dem Moment einfach nur seinen Job, ganz egal, was du von seiner Berufswahl hältst", warf ich nachdenklich ein.

„Als hättest du noch nie einen von denen beleidigt", platzte es amüsiert aus Marten heraus. Ich hob abwehrend die Hände.

„Das hab ich nie behauptet."

„Hätte mich auch gewundert...", fügte er trocken hinzu. Während ich die Stirn runzelte, nahm der Seminarleiter Marten ins Visier. Als er den kritischen Blick bemerkte, ruderte er betont reflektiert zurück. „Natürlich mach ich das heute nicht mehr. Hier lerne ich ja, meine Wut zu kanalisieren."

„Und die anderen?", hakte der Seminarleiter nach und schaute einmal mehr in die Runde.

„Streber", raunte Marten mir zu, als Dr. Sandmann sich auf seine Unterhaltung mit Mike konzentrierte. Nachdem er sich mit ihm ausgetauscht hatte, griff er das nächste Blatt.

„Der Partner zerbricht in seiner Wut die Lieblingstasse seiner Partnerin – Gewalt oder keine Gewalt?", las er vor und sah zwischen den Teilnehmern hin und her.

„Besser so, als sie würde ihn damit erschlagen", sagte ich lapidar.

„Aber wenn es die Lieblingstasse ist und er das vorsätzlich macht, geht es ja darum, den Partner zu verletzen", kommentierte Mike. „Also ich würde auch fuchsteufelswild werden, würde meine Freundin absichtlich meine Lieblingstasse kaputtwerfen."

Marten musterte ihn entsetzt.

„Du hast ne Lieblingstasse?"

„Und? Hast du'n Problem damit?", fragte Mike und starrte Marten mit aufgeblähten Nasenflügeln aus weit aufgerissenen Augen herausfordernd an.

„Wie alt bist du? Zwölf?", stichelte der unbeirrt weiter und lehnte sich lässig auf seinem Stuhl zurück.

„Du meinst auch, nur, weil du ein volltätowierter Discopumper bist, scheiß ich mich jetzt vor dir ein", schoss Mike zurück. „Dabei weiß jeder hier, dass du sonst nicht viel zu bieten hast."

Ich beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie Marten seine breiten Schultern straffte, seine Hände ineinanderschob und Mike ins Visier nahm. Seine Augen funkelten bedrohlich, auch, wenn er noch immer zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß. Es war offensichtlich, dass er einem Konflikt nicht aus dem Weg gehen würde.

„Wenn du so weitermachst, brauchst du gleich ein zweites Pflaster."

„Es ist gut, wenn Sie einander sagen, wie sie übereinander denken", mischte sich Dr. Sandmann ein, wahrscheinlich, um die Situation zu entschärfen. „Aber vergessen Sie nicht, welche Grundregeln wir zu Beginn zusammen aufgestellt haben. Marten, wiederholen Sie sie doch nochmal für uns."

„Niemand wird verletzt. Keiner wird ausgegrenzt oder beleidigt, jeder, egal, ob stark oder schwach, wird als gleichgestelltes Mitglied der Gruppe wahrgenommen. Konflikte werden direkt besprochen und nicht unter den Teppich gekehrt", fasste er monoton zusammen und schob dabei frustriert die Hände in die Hosentaschen.

Die letzte halbe Stunde der heutigen Sitzung zog sich wie Kaugummi. Umso erleichterter fühlte ich mich, als ich endlich die schweren Türen ins Freie aufstieß und die kühle Abendluft in meine Lungen sog. Nach diesem langen Tag konnte ich es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen.

„Hey, Louisa... Warte mal..."

Martens Stimme ließ mich herumfahren, als er hinter mir aus dem Gebäude trat. Die Hände tief in den Taschen seiner olivgrünen Bomberjacke vergraben schaute er frech grinsend auf mich herab. Seine Augen funkelten schelmisch.

„Du schuldest mir noch ne Beratung. Schon vergessen? Schließlich wollen wir ja beide nicht, dass ich dich beim nächsten Mal wieder so enttäusche."

Ich seufzte lautlos. Offenbar funktionierte sein Gedächtnis ohne Alkohol weitaus besser. Sollte ich erneut mein Wort brechen, um mich nicht sehenden Auges in mein Unglück zu stürzen, oder Marten eine faire zweite Chance geben, wie sie jeder verdient hat?

Also ich bin dafür, dass sie ihm eine Chance gibt. Und ihr? Und wie hat euch das Kapitel gefallen? :D

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