»Überdosis Kaffee als Alibi, zählt das vor Gericht?« | Kapitel 4

Mit Kaffee und Humor kommt man dem Stress zuvor.
Willy Meurer

Warten ist eine Qual. Verspätung die Folter.

Zum zigtausendsten Mal huscht mein Blick zur großen Bahnhofsuhr über der Theke des heimeligen Cafés, das Google mir empfohlen hat. Bisher schien es tatsächlich ganz vielversprechend, aber das bringt mir nichts, wenn ich hier alleine sitze und Raja nicht kommt. Das Buch, das sich in der Tasche meines Mantels versteckt, pickst mir in den Oberschenkel und erinnert mich beinahe schon verhöhnend an Raja. Warum auch immer, dieser Gedanke die Stimme von Haflot hat... Eine verdammte Ironie und eine grausame noch dazu.

»Kann ich dir noch etwas bringen?«, lässt mich die junge Bedienung aufschrecken und stapelt die leere Tasse mit einigen Tellern zu einer wackligen Konstruktion auf ihrem Arm. Ich bestelle noch einen Kaffee, mit der stummen Maßgabe für mich selbst, danach zu gehen, wenn Raja bis dahin nicht aufgetaucht ist.

Als sie das koffeinhaltige Getränk an den Tisch bringt, bemerke ich es erst, als der warme Dampf aufsteigt und der Geruch mir in die Nase kriecht, so vertieft war ich in die Lektüre. Raja hat sie während einem unserer Nachrichtenwechsel genannt und gesagt, sie könne es kaum erwarten den Inhalt zu verschlingen.

Also sitze ich jetzt hier mit dem Buch und warte. Und sie hat nicht zu viel versprochen: es ist wirklich gut. Vielleicht kann ich es ihr doch nicht geben.

»Tut mir so unendlich leid!«, tönt Rajas Stimme lautstark hinter mir. Sofort ziehe ich das Buch vom Tisch und versenke es wieder in meiner Tasche, ehe ich mich zur Tür drehe. Meine Mundwinkel hüpfen hinauf, als ich sie sehe, wie sie sich durch das gefüllte Café wurschtelt und schließlich mit geröteten Wangen, aber funkelnden Augen auf der Bank niederlässt. Von ihrem Mantel rinnt der Regen hinab und das Poster schützt das Holz nur bedingt vor der Nässe. Auch von ihren Haaren tropft etwas Wasser und sie zwirbelt gekonnt das Haargummi aus dem Gewirr, das nicht mehr als Frisur zu bezeichnen ist. Kurzerhand zieht sie ein Handtuch aus ihrem Rucksack und dreht die nassen roten Strähnen zu einem Turban, ohne sich um die verstörten Blicke der Menschen um uns herum zu kümmern.

»So«, verkündet sie, als sie fertig ist, faltet ihre Hände auf dem Tisch und blickt mich an, »Hier bin ich«.

Ein Lachen bahnt sich meine Kehle hinauf und ich schüttle fassungslos den Kopf.

»Was denn?«
»Nichts, nichts«, winke ich ab.
»Schön, dass du jetzt da bist. Ich hatte schon —«
»Sorge?«
»Vielleicht.«

Sie grinst zufrieden, versteckt ihr hübsches Gesicht aber hinter der Karte und nur ihr knallrotes Handtuch schaut drüber hervor. Die Farbe beißt sich mit den einzelnen Stränchen, die sich immer wieder einen Weg aus dem Stoffknoten hinausgesucht habe.

»Der Kaffee ist gut«, erkläre ich und hebe demonstrativ die Tasse mit einem letzten Schluck an die Lippen. Sie senkt die Karte, aber nur bis zu ihren Augen. Kritisch mustert sie mich und ihre linke Augenbraue zuckt skeptisch Richtung Haaransatz. Der Schalk in ihren Augen verrät ihr Schmunzeln und ich muss das Porzellan notgedrungen abstellen.

»Nach dem Desaster vor vier Tagen in der Bahn werde ich nicht nochmal den selben Fehler machen. Kaffee ist...« Sie schüttelt sich demonstrativ und blickt wieder auf die Karte. Ihr Blick hüpft über die Zeilen und langsamer als zuvor spricht sie weiter: » lNie wieder. Das kannst selbst du nicht ändern. Aber wirklich, was mache ich hier mit einem Kaffeetrinker. Alyah würde mich zusammenstauchen und mich —«

»Alyah?«, ergreife ich die Chance ihren Redeschwall zu unterbrechen. Und nebenbei reizt mich die Möglichkeit sie besser kennenzulernen.

»Mhh«, murmelt sie plötzlich in die Karte vertieft. Vielleicht ist sie doch nicht multitasking-fähig. Vielleicht gibt es das dann ja tatsächlich gar nicht. Wenn ich es jemandem zutraue, dann wohl Raja Reers.

Während des Lesens kaut sie auf ihrer Lippe herum und die feine Haut auf ihrem Nasenrücken kräuselt sich kaum merklich. Eine Strähne kitzelt sie. Unvermittelt hebt sie den Blick und ihre braunen Augen ertappen mich, wie ich sie in jeder ihrer Bewegungen beobachte. Ohne den Blick abzuwenden, hebt sie die Hand und signalisiert der Kellnerin, dass sie etwas gefunden hat. Für wahr, sogar Raja hat sich entscheiden können. Ich verkneife mir ein Grinsen, aber es erscheint stattdessen auf ihrem.

»Was is — Haaatschi«, endet sie in einem lauten Niesen und fast alle Gäste drehen sich zu uns um. Als wären wir in einer Pandemie mit höchster Ansteckungs- und sogar Lebensgefahr.

Raja lacht.

»Gesundheit.«

»Danke. Ich hab keine Ahnung warum, um ehrlich zu sein. Hoffen wir einfach mal, dass die hier keine komischen Planzen mit Pollen haben«, plappert sie einfach wieder darauf los und schert sich einen Dreck um die starrenden Mitmenschen.

Ich murmle zustimmend: »Hoffen wir mal«. Andernfalls wäre das Treffen noch schneller vorbei, als sie zu spät kam. Und das heißt einiges. Wie aufs Stichwort beginnt sie einfach zu erzählen, womit die Kinder sie aufgehalten haben. Ein Glas umgeschmissen, Streit um die Auswahl fürs Hörbuch, die Geschichte nicht mehr gefunden auf Spotify, Akku leer. Dann kam Mr Clanth zu spät, musste noch den Einkauf einräumen und brauchte Rajas Hilfe zum ›schnelleren‹ Ausräumen des Wagens und einparken durfte sie dann auch noch.

Alleine bei ihrer Erzählung wird mir schwindelig vor lauter Aufgaben und Tohuwabohu und ich bin dankbar für die kurzen Unterbrechungen, als die Bedienung vorbei kommt, ihre Bestellung aufnimmt und schließlich einen großen Kakao mit extra viel Sahne und einen weiteren Kaffee für mich vorbei bringt.

»Adieu, Schlaf«, proste ich Raja zu.
Zufrieden hebt sie ihre riesige Tasse, kann sich aber nicht verkneifen: »Siehst'e? Ich sag's dir«.

Die Tassen klirren zwar nicht so wie Bierflaschen, aber für ein erstes Date ist ein kleines Café besser als jede Bar und vor allem habe ich einen guten Grund, warum ich heute Abend im Bett kein Auge zu bekommen werde. Überdosis Kaffee als Alibi, zählt das vor Gericht?

»Auf schlaflose Nächte«, beende ich die stumme Diskussionsrunde und hebe die Tasse an die Lippen. Doch dazu, einen weiteren Schluck zu trinken, komme ich nicht. Raja, die ich über den Rand meines Bechers nicht aus den Augen lasse, versenkt, in dem Versuch ebenfalls einen Schluck zu probieren, ihre Nase in dem weißen Schaum aus Milch und Sahne als Krone auf der Tasse und prustet los. Wie Schnee fallen überall auf dem Tisch weiße Flocken hinunter und nieseln durch die Luft. Mit einem genüsslichen Lächeln auf den Lippen leckt sie sich den Milchbart ab und stellt die Tasse ab.

»Mhhh, ein Satz mit x — das war wohl nix«, verkündet sie und lehnt sich zurück. Den kleinen Stupser Sahne auf ihrer Nase bemerkt sie gar nicht und ich verstecke mein verräterisches Gesicht unter einer Maske sarkastischer Empörung. Es ist einfach zu süß. 

»Also: Alyah?«, harke ich später nach.

»Ja, meine Schwester. Kleine Schwester.« Obwohl sie versucht eine neutrale Stimme zu behalten, verraten ihre Augen, wie viel sie ihr bedeutet und ich beneide sie um diese Beziehung, ohne überhaupt mehr zu wissen.

»Wie viel?«
»Vier Jahre.«  Sie lächelt matt, aber wo eben noch Glück leuchtete, findet sich innerhalb weniger Sekunden Nostalgie.

»Ich vermiss sie«, gesteht sie und fixieret einen Punkt weit hinter mir. Ihr Blick verschwimmt sehnsuchtsvoll. Ein kleines Funkeln in ihren Augenwinkeln erregt meine Aufmerksamkeit, aber da hat sie es schon weggeblinzelt. Trotzdem nehme ich vorsichtig ihre Hand in meine und drücke sie kurz. Ein dankbares Lächeln zuckt an ihren Mundwinkeln.

»Hast du Geschwister?«, verlangt sie zu wissen.
»Ich wünschte, es wäre so. Allein aufzuwachsen auf einem Anwesen, das genauso gut ein ganzes Internat hätte sein können, kann zwar fantastisch, aber auch ganz schön einsam sein.«

Geschwister habe ich mein ganzes Leben lang vermisst.

»Sei dankbar, dass du sie hast, wirklich.«

»Das bin ich.« Sie blickt mich endlich wieder an. Ihr Gesicht ist eine Maske der Neutralität, aber ihre Augen zeigen Wehmut. Vermutlich würde ihr jetzt auch nicht helfen, wenn ich ihr sage, dass ich dankbar für das Gefühl wäre, einfach weil es bedeuten würde, dass da jemand ist. Sowas will man in solchen Situationen einfach nicht hören.

»Wann seht ihr euch wieder?«

Sie zuckt mit den Schultern. Ihre warme Hand entgleitet meinen Fingern und sie umfasst ihre überdimensionale Kakao-Tasse.

»Naja, vermutlich erst, wenn ich wieder zurück kommen, nh?«

Ich nicke.

»Frag jetzt bloß nicht, wann genau das ist. Da will ich mir keine Gedanken drüber machen. Das braucht noch Jahre.«
»Wenn nicht sogar Jahrzehnte?«

Das Lachen erobert ihr Gesicht zurück und gleich sieht sie unbeschwerter aus. Glücklicher.

Mir liegen tausend weitere Fragen auf der Zunge, aber ich schlucke sie hinunter. Der Preis für die Antworten ist zu hoch. Ihr Lachen.

Sie scheint von dem Lachen zu leben. In dem kurzen Zeitrahmen, in dem sie es eben nicht hatte, verging die Zeit langsamer. Sonst verfliegt sie mit ihr.

Wie sie jetzt vor mir sitzt: lachend, mit dem absurden Turban auf dem Kopf, der großen Tasse in der Hand, den leuchtenden Augen und dem Stupser auf der Nase; Jetzt gerade, da wirkt sie glücklich. Und ich auch. Genau deshalb.

Schmunzelnd wende ich den Blick ab. Wenn Ivan das hören würde...

»Was?«, verlangt Raja empört zu wissen und stellt die Tasse ab, bevor sie einen ersten Schluck genommen hat. So langsam scheine nicht nur ich ein Alibi zu benötigen.

»Du-« Sie fällt mir ins Wort: »Hab ich hier was?« Wild wuchtet sie vor ihrem Gesicht herum.

»Auch. Genau«, ich stocke und lehne mich über den Tisch ihr entgegen. Dann tippe ich ihr geradewegs auf die Nase, »hier«.

Gleichzeitig brechen wir beide in schallendes Gelächter aus und ziehen damit ein weiteres Mal alle Blicke der anderen Gäste auf uns.

»So, so.« Raja beißt sich auf die Lippe, aber das Schmunzeln bleibt bestehen. » "Und das sagst du mir jetzt doch auf einmal?«

» "Wieso sollte ich nicht? Willst du lieber den ganzen Tag so in der Weltgeschichte herum spazieren?«

»Blödmann.«

Meine Schienenbein schmerzt urplötzlich und zufrieden lässt sie sich zurückfallen.

»Aua. Dafür musstest du mich jetzt doch nicht treten«,  beschwere ich mich, kann ihr aber nicht böse sein. Davon werde ich noch nicht mal einen blauen Fleck bekommen.

»Doch, musste ich.«

Kopfschüttelnd wende ich mich der Tasse vor mir zu. Meinen Kaffee ist mittlerweile mindestens auf die Raumtemperatur abgekühlt und bitterer geworden.

»Nah, schmeckt's nicht?«, neckt Raja mich höhnisch hinter ihrem Kakao versteckt.

»Wofür sind wir nochmal hier? War dieses Treffen nicht mal rein beruflicher Art?«, übergehe ich sie einfach.

Kurz räuspert sich mein Gegenüber, setzt sich gerade hin und rückt ihre imaginäre Brille zurecht. Dann beginnt sie: »Genau. Wir wollen es auch nur auf dieser Ebene belassen. Deshalb nun zu meiner fachkundigen Begutachtung: Die Ware war ausgesprochen angenehmen und ist eine Empfehlung wert, allerdings ist sie nicht ganz aktuell. Zudem würde ich mir wünschen, dass die Komplexität des ›komplexen Stück der Literatur‹ hinuntergebrochen wird, damit die Ware in Zukunft auch fürs gemeine Volk freigestellt werden kann. Vielleicht wird es dann sogar für Frauen verständlich.« Ihre Stimme trieft vor Ironie. Warum ist sie nicht Schauspielerin geworden?

Besagtes Werk zaubert sie auf den Tisch und schiebt es mir langsam entgegen, als würde sie sich nicht davon trennen können.

»Fällt der Abschied so extrem schwer?«, necke ich sie, doch sie verdreht nur die Augen.

Das Buch rutscht nun schwungvoll über den Tisch und plumpst mit einem dumpfen Bum auf die Bank neben mir, fast auf die wartende Überraschung in meiner Jackentasche. Fest schieße ich meine Hand um den weichen Einband.

»Wie hat dir New York denn bisher gefallen?«, wechsle ich das Thema. Augenblicklich beginnt Raja zu schwärmen: »Absolut genial! Es ist einfach eine fantastische Stadt. Ich glaube, selbst wenn ich alle Zeit der Welt hätte, könnte ich mich nicht satt sehen«. Sie blickt verträumt auf die nasse Straße, die im warmen Sonnenlicht schimmert und glänzt. »Und offensichtlich hatte ich nicht ansatzweise den Hauch dieser Zeit. Zwar waren wir nun fast anderthalb Wochen hier, aber die Zeit hätte man, nach meinem Gefühl, sinnvoller nutzen können. Wirklich sehr viel sinnvoller!«

Ihr Blick wird wieder klar, als sie mich anblickt und ihre Hände den Kakao vor ihr umschließen.

»Wie waren deine Wochen? Deine Nachrichten waren nur so kryptisch mit Informationen gestückt.«

Ich grinse und setze die Tasse ab, ehe ich ihr erzähle, wie meine Uniwoche aussieht. Als ich bei der Orchesterprobe am Mittwoch angelangt bin, hält sie inne, mustert mich und nickt kaum merklich.

Zuvor hatte sie aufmerksam zugehört und an ihrem Kakao genippt, doch nun fragt sie neugierig: »Was spielst du denn?«. Sie hängt an meinen Lippen, als ich schmunzelnd antworte: »Geige«.

Rajas Gesicht zeichnet Erstaunen, wie ich es erwartet habe, aber schnell hat sie ihre Züge wieder unter Kontrolle und fixiert meine Finger mit einem kritischen Blick, der mich ganz nervös macht.

»Bist du gut?«
Mein Blick trifft ihren und gleichzeitig brechen wir in Lachen aus.

»Ich hoffe doch! Aber vermutlich musst du das selbst herausfinden.« Ich beiße mir auf die Lippe und Raja wendet mit einem verlegenen Lächeln ihren Blick ab.
Ungewohnt schüchtern murmelt sie: »Wenn ich darf«.

Ihre Finger huschen unruhig über die Tischplatte und trommeln einen unerkennbaren Rhythmus. Ich beobachte jede ihrer Bewegungen.

»Vielleicht hab ich noch was.«

Als ihre Hand plötzlich innehält, stoppt mein Herzschlag für einen Moment, aber als sich unsere Blicke finden, pocht er wieder los. Doppelt so schnell.

»Du hast ja schon geschrieben, dass die Zeit in New York zu kurz war und du sonst viel mehr gelesen hättest, deshalb«, ich lege den dicken Wälzer auf den Tisch und ihre Augen weiten sich erstaunt, »hab ich dir das mitgebracht«. Rajas Freude scheint Funken zu sprühen, überzuschwappen, anzustecken und augenblicklich ist die unsichere Atmosphäre von eben verschwunden.

»Lewis...«, haucht sie und jagt mir damit einen warmen Schauer über den Körper. Langsam schiebe ich ihr das Buch über den Tisch entgegen und als sich ihre Finger um das Buch schließen, streicht sie liebevoll über die alten Seiten. Ich hebe den Blick zu ihrem Gesicht und  entdecke unverhohlene Faszination.

»Wow!«, murmelt sie fassungslos, als ihr die Seiten durch die Finger fliegen und sie schließlich wieder auf der ersten Seite landet. Die Notizen am Rand sind ein Tribut der jahrelangen Unterstützung von jungen Studierenden, aber trotzdem verliert die Originalausgabe ihren Wert nicht. Mary Wollstonecraft, eine der ersten Kämpferinnen für Frauenrechte im Patriarchat, wenn nicht sogar die erste. Ganz nebenbei eine grandiose Autorin. Und sicher ein Idol.

Andächtig schließt Raja das Buch wieder und legt es ganz gerade vor ihr an die Tischkannte.

»Danke!« Eine kleine, kaum erkennbare Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel und rollt ihre Wange hinunter.
Schon hab ich die Hand gehoben und mich vorgebeugt, um sie ihr wegzuwischen, aber sie hält mich zurück. Mit einem behutsamen Lächeln auf den Lippen schüttelt sie sanft den Kopf und schließt ihre Finger um meine.

»Lass.«

Das Gefühl scheint vertraut und ganz so, als würde es so und nicht anders gehören. Unsere verschränkten Hände sinken auf den Sammelband zwischen uns. Sie schließt die Augen und atmet tief ein. Vorsichtig drücke ich ihre Hand, davon ermutigt erhebt sie ihre brüchige Stimme: »Tränen sollte man nicht verstecken. Besonders keine Freudentränen«.

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, also nicke ich einfach nur und fahre sachte mit dem Daumen über ihre weiche Hand.

Raja schluckt. »Das kann ich nicht annehmen.« Die Worte kosten sie viel Überwindung und Selbstbeherrschung, das sehe ich ihr an. Wehmütig blickt sie auf das Meisterwerk hinab, doch dann schiebt sie es zu mir zurück. Schwer wie Blei liegt es zwischen uns, unsere Hände, verschränkt, daneben und unser beider Blicke liegen auf den paar Seiten, die zwischen uns stehen. Niemand weiß, wie wir damit umgehen sollen.

»Es ist aus der Bib«, beginne ich, Raja verlangt gleichzeitig zu wissen: »Wie?«

Erstaunt schüttelt sie den Kopf. »Woher weißt du es?«

»Was? Dass du es unbedingt lesen willst?«
Sie nickt und drückt meine Hand sanft.

»Genau.«

»Vermutlich warst du etwas zu euphorisch, als du es ganz, ganz beiläufig erwähnt hast und bist dann vielleicht ins Schwärmen geraten«, vermute ich übertrieben zögerlich.

Die rothaarige Frau mir gegenüber nickt langsam. Ein verlegenes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel und tatsächlich färben sich ihre Wangen kaum merklich rosig. Raja wird rot. Tatsächlich. Verlegen blickt sie sich zum ersten Mal im Café um und hebt ihre freie Hand. Mit einem Kopfnicken zur Bedienung verschwindet die Unsicherheit.

»Was darf's sein?« Mit einem bedeutungsschwangeren Gesichtsausdruck inspiziert sie unsere Hände.

»Zwei Kakao«, ignoriert Raja den leicht säuerlichen Blick der kleinen Blondine und schenkt mir ein zufriedenes Lachen.

»Du bekommst keinen Kaffee mehr. Definitiv nicht.«
Ohne das Mädchen neben uns zu beachten beschwere ich mich und bringe Raja mit einer Schnute zum Lachen. Das unzufriedene Räuspern verrät, dass wir immer noch nicht allein sind, und so ergreife ich die Chance: »Und zwei Brownies bitte dazu noch«.

»Kommt«, murrt sie noch, während sie sich demonstrativ abwendet.

»Also gut«, Raja holt Luft, »Warum? Wozu das Ganze?«.

»Ich — ich weiß nicht.«
»Lewis, wirklich?«, spottet Raja.

»Naja, eventuell als eine Art wieder Gutmachung...« Die Worte hängen zwischen uns. Ich konzentriere mich auf den Buchrücken unter meiner Hand, weil mich Rajas zarte Hand und vor allem ihr ruheloser Daumen, der über meine Hand wandert, zu sehr aus dem Konzept bringen würde.

»Sehr gut, wir lernen also dazu.« Obwohl ich es bereuen werde, entziehe ich ihr meine Hand. Ihr Gesicht sieht für einen Sekundenbruchteil so aus, als hätte ich ihr gegen's Schienenbein getreten, aber innerhalb eines Augenblicks hat sie wieder ihre scherzhafte Maske aufgesetzt, hinter die sie nur selten Einblick gewährt.

»Ich kann — und werde im Zweifelsfall — auch das Buch wieder mitnehmen, das weißt du, oder? Dann musst du dir eine neue Bücherrei besorgen.«

»Ach, bist du das jetzt? Meine Library? Gibt es auch persönliche Empfehlungen?«

»Für dieses Luxus-Angebot muss ich deine Gewohnheiten nochmal etwas besser kennenlernen.«
»Wenn's weiter nichts ist«, neckt sie mich und greift wieder nach meiner Hand.

»Und was springt für mich dabei raus?«, verstecke ich die wohlige Wärme, die durch meinen Körper pulsiert, hinter aufgesetztem Schalk, von dem ich hoffe, hoffe, hoffe, dass sie ihn nicht direkt als solchen identifiziert.

»Naja, das System funktioniert bestimmt hervorragend in beide Richtungen, oder Library? Das fantastische an Lesestoff ist ja, dass er nie zu Ende geht. Fast ein Universum an Welten, wenn man so will.«

»Oder wie Rowling Dumbledore sagen ließ: ›Wörter sind meiner nicht ganz unbedeutenden Meinung nach, unsere unausschöpflichste Quelle der Magie.‹ Grandioser Satz, man sollte ihn viel öfter zitieren.«

»Davon gibt es so unendlich viele. So viele, dass man gar nicht allen einzeln gerecht werden kann, aber wann kann man das schon?«

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