»Jemand musste den Job ja übernehmen.« | Kapitel 3

Die Dankbarkeit ist am besten und effektivsten, wenn sie nicht in leeren Phrasen verdampft.
Isaac Asimov

Fehler helfen einem besser zu werden, geben einem die Möglichkeit, an seinen Schwächen zu arbeiten und sie zu Stärken zu machen. Sofern man sie sich eingesteht. Wenn man das nicht kann, dann ist man erstens dumm, bleibt es zweitens auch und soll sich drittens nicht beschweren, wenn andere einen das spüren lassen. Vielleicht war es ein Fehler hier herzukommen, ich weiß es nicht, vielleicht bin ich dumm, wenn ich weiß, dass ich es trotzdem nicht aufgeben werde. Man darf Fehler nur nicht vergessen.

Sobald ich die Bibliothek weit genug hinter mir gelassen habe, verselbstständigen sich meine Beine und ich jogge viel mehr die Wege durch das Campusgelände entlang, als dass ich hindurch spaziere.

Die Wut brodelt weiterhin tief in mir und spornt mich dazu an, noch schneller zu werden.
Wie? Wie um alles in der Welt geht so etwas?

Vermutlich habe ich noch gar nicht wirklich realisiert, was gerade geschehen ist, aber, um ehrlich zu sein, will ich auch gar nicht, dass mir das bewusst wird. Was bedeutet das bitte für die Gesellschaft?

Der Zorn brennt sich durch meine Muskeln und feuert mich an noch schneller zu werden. Über die breiten und schmalen Kieswege, durch den hübschen Park, der mich verzaubert hat, als ich auf dem Hinweg hindurch geschlendert bin, an den kleinen Hütten, riesigen Lehrhallen und den irritiert dreinblickenden Studenten und Studentinnen vorbei.

Als ich aus dem großen Tor, das fälschlicherweise einladend offen steht, laufe und langsamer werde, fühlt es sich so an, als hätte ich die ätzende Wut hinter mir gelassen.

Sollte ich nicht irgendjemandem Bescheid sagen, der Leitung oder sonst wem, damit ich die Einzige bleibe?
Das kann so nicht weitergehen.

Heiße Zornestränen glühen auf meinen geröteten Wangen und bahnen sich eine nasse Spur über mein Gesicht.  Ungerechtigkeit ist so grausam.
Es kann nicht immer so weiter gehen und damit sich etwas ändert, muss auch etwas verändert  und nicht einfach stumm alles hinuntergeschluckt werden, weil es doch sowieso nichts ändern würde.

Und es muss sich etwas ändern. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich vermutlich sowieso nicht pünktlich kommen werde, also schreibe ich kurz, dass ich mich etwas verspäte und eine Bahn später nehmen muss, wodurch mir dreißig Minuten geschenkt werden. In denen will ich einen Unterschied machen.
Entschlossen drehe ich mich zum Universitätsgelände um und atme einmal tief ein. Es scheint, als hätte der Sprint mir etwas von meiner Fassungslosigkeit genommen, doch ich werde sie schnell wieder hervor rufen können, wenn es sein muss. Gerade trete ich auf das Tor zu, als jemand mich am Arm zurück hält.
»Entschuldigung, Miss. Geht es ihnen gut? Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigt sich eine kleine, rundliche, alte Frau, die eine Hand an ihrem Rolltor hat, aber erstaunlich aufrecht steht. Verwundert blicke ich sie an, denn ich fühle mich nicht so, als würde ich hilfesuchend auf der Straße herumirren. Vermutlich schätzt sie das anders ein.

»Ja, warum?«
»Nun ja«, sie deutet zögernd auf mich. Schlagartig erinner ich mich an die Tränen, den Wind, der meine Haare durchfegt hat, als wäre er ein Wirbelsturm und meine geröteten Wangen. So kann ich da definitiv nicht auftauchen, wenn ich ernst genommen werden will.

»Achso, ja ja, alles gut. Dankeschön.«
Sorgenvoll mustert sie mich, aber ich lächle ihr nur noch einmal distanziert zu und drehe um.
Ein Mann wäre nicht angesprochen worden. Ist das jetzt gut oder schlecht?

Von der anderen Straßenseite weht der Geruch von frischem Kaffee herüber und zielsicher steure ich auf das klitzekleine Café zu.
Als ich endlich einen heißen Becher in der Hand halte und wieder vor dem überfüllten Laden im Freien stehe, ist die brennende Wut erloschen und nur noch ein Haufen glühender Empörung übrig geblieben.

Ich hätte es wissen müssen, als dieser Ekel von Mann den Schnösel angrinste und er es erwiderte. Was habe ich mir eingebildet, die Reaktion wäre gezwungen und distanziert? Ein spöttisches Schnauben entweicht mir und eine Studentin dreht sich amüsiert zu mir um. Soll sie nur.

Einige Meter weiter lehne ich mich gegen die Häuserwand und wage einen Schluck von dem braunen Getränk, dass ich noch nie wirklich mochte. Um Energie zu bekommen, muss ich nicht erst einen Kaffee trinken. Das ist absurd. Alleine die Überzeugung dazu ist lächerlich.

Bitter rinnt mir das heiße Getränk die Kehle hinunter und ich muss mich zwingen nicht zu würgen. Das wars dann wohl, ein Versuch war es wert. Nächstes Mal wieder einen guten, alten Tee.

Die Wand an meinem Rücken ist kalt und kleine Steinchen bohren sich durch meine Strickjacke. Von vorne scheint die sanfte Frühlingssonne auf die Welt und wärmt mein Gesicht. Genießerisch lehne ich mich noch weiter zurück und strecke es der Wärme entgegen.
Wäre die Wand nicht so kalt und steinig, hätte die Umarmung der Sonne nicht den selben Wert. Vermutlich braucht es Gegensätze, um die Bedeutung des Wertvollen erkennen zu können.

Aber wo war das Gegenstück zur Beschränktheit des Bibliothekars? Dieser —

Tief atme ich ein und balle meine Hand zu einer Faust. Offensichtlich war irgendwo ein trockenes Feuerholz versteckt, wenn ein kleiner Zornesfunke solch eine enorme Reaktion hervorrufen kann.

Seufzend öffne ich die Augen und blinzle in das viel zu grelle Licht.

»Raja! Hallo. Raja?«, wird eine Stimme lauter. Ohne wirklich etwas mehr als Umrisse zu erkennen, suche ich nach dem jungen Mann, der, Gott weiß woher, meinen Namen kennt.

Nach Luft ringend bleibt die breitschultrige Silhouette vor mir stehen und wirft einen kalten Schatten auf meinen Körper. Ein Frösteln jagt über meinen Haut.
»Genau. Das ist mein Name. Und wer — Du!«

Ich funkle den blonden Studenten an. Allen Hass in mir lege ich in diesen Blick und offensichtlich gelingt mir das ausgesprochen gut. Er knirscht mit dem Kiefer und ein klitzekleiner Punkt zwischen seinen Augenbrauen wird zu einem verkniffenen Grübchen.
»Sieht wohl so aus«, spottet er nach Atem ringend einen Sekundenbruchteil zu spät.

»Hier«, schnaufend streckt er mir etwas entgegen. Er stützt sich auf seine Knie und atmet tief ein und aus.
Ohne wirklich zu realisieren, was es ist, nehme ich den Gegenstand in die Hände, hocke mich zögerlich zu ihm und frage: »Ist alles okay?«

Eigentlich will ich ihn hassen, meine Wut an ihm auslassen, ihn genauso hintergehen, so bloßstellen wie er mich. Ein Glück, dass Mama mich jetzt nicht sehen kann. Sie als Juristin wäre entsetzt und ich bin ganz ihrer Meinung. Manchmal muss man über Fehler hinwegsehen, um Platz für Veränderung zu schaffen.

Und trotzdem überwiegt die Hilfsbereitschaft nur minimal, aber sie reicht, um meinen Zorn zu überdenken. Verschwunden ist er dadurch nicht. Es ist eine Illusion, Gefühle würden einfach so verpuffen und dann für immer von dieser Welt sein.
Kurz blickt er auf und nickt. Dann deutet er auf meine Hand, in der sicher und so, als hätte es nie wo anders seinen Platz gehabt, das dunkelrote Cover auf dem in alter Schrift eingraviert der Titel des Werkes prangt, Das recht der Frau, im Sonnenlicht glänzt.

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen und ich kann das Lachen, das sich meine Kehle hinauf bahnt, nicht abwürgen, selbst wenn ich wollen würde, aber ich will nicht.

Was ist jetzt die angemessene Reaktion, es ihm vor die Füße werfen? Um die Ohren jagen? Oder einfach aufstehen, umdrehen und gehen? Mit Buch, versteht sich.

Zu viele Szenarien jagen im Schnelldurchlauf vor meinem inneren Auge ab, aber bevor ich mich für die mit dem lustigsten Gesichtsausdruck entscheiden kann, rappelt mein Überbringer sich auf und reicht mir die Hand.

»Lewis.«
Ich nicke.
»Weißt du ja schon — Raja.«

Seine aufhelfende Geste ignorierend richte ich mich auf und drücke ihm stattdessen das Buch in die sinnlos in der Luft schwebende Hand. Jetzt hat sie wenigstens auch eine Aufgabe.

Sein ernstes Gesicht weicht einem Grinsen. Auf seiner linken Wange entsteht ein winziges Grübchen, seine gerade Nase kräuselt sich ein bisschen und die Haut um seine Augen zieht sich zu Lachfältchen zusammen. Es steht ihm. Macht ihn noch attraktiver, wenn ich ehrlich sein muss. Ein Funkeln legt sich auf seine blau-grauen Augen.

»Du musst mich wirklich hassen«, stellt er mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln fest.
Ich schnaube. Mit verschränkten Armen lehne ich mich zurück an die Wand.

»Wundert's dich?«
»Ne, nicht wirklich, wenn ich ehrlich bin.«
»Dann sind wir uns da wenigstens schon mal einig. Wobei — Ich denke, verabscheuen trifft es auch ganz gut.«
»Ach, und warum genau?«, fragt er und spiegelt meine Haltung.

»Weil du dich mit einem Ekel wie diesem Bücher-Heini verschworen hast, um jungen, hübschen Frauen das Leben schwer zu machen, weil ihr Angst habt, sie wären besser als ihr. Schlauer, schneller, zu gut für euch.«

»Du hast recht.« Er grinst und fügt hinzu: »Zu Teilen.«
»Aber bevor wir das klären, lass uns eins klar stellen: sehe ich aus wie ein Frauenhasser?«

Nein. Nein, tut er nicht. Aber Taten sind das, wonach man Menschen beurteilen sollte, nicht ihr Aussehen. Denn Taten folgen auf Gedanken und die zeigen, wer ein Mensch sind. Eigentlich schade, bei ihm.

»Das interpretiere ich als Nein. Dankeschön. Sehe ich auch so, hätte mir echte Sorgen gemacht, wenn's anders gewesen wäre.«
Meine Mundwinkel zucken und ich presse die Lippen zusammen, damit sein aufmerksamer Blick es nicht registriert. Anscheinend versage ich. Er fährt sich breit grinsend durch die blonden Haare.

»Und womit liege ich nun falsch?«, lenke ich zurück aufs Wesentliche. Bloß nicht ablenken lassen, Raja!

»Haflot ist zwar ein absolut —«, ich falle ihm mit lauter Stimme ins Wort, »bescheuertes, nur um sich selbst drehendes Individuum, das sich keinen Deut um andere schert und nicht Mensch, sondern«, ich suche nach Worten, »unbekannte Spezies, der man ins Gehirn geschissen hat, sofern eins vorhanden ist, kein Empfinden für Empathie und sonstige menschliche Regungen hat, nennen sollte. Ich finde, Ekel trifft es ganz gut.«
Zufrieden erlaube ich mir ein Lachen.
»— festgefahrener, verschrobener und auf seine Welt beschränkter Mann, wollte ich eigentlich sagen. Wobei du es auch triffst. Ist vermutlich Ansichtssache.«

Er erwidert mein Lachen und ich wisch mir meins vom Gesicht.

»Und weiter?« Meine Stimme klingt trocken und ich bin stolz auf mich selbst.
»Ich habe zwar Angst davor, dass junge, hübsche Frauen mir das Leben schwer machen — und zwar zu recht — aber deshalb muss ich mich nicht mit diesem Ekel, wie du ihn nennst, verbünden. Das ist, ehrlich gesagt, ziemlich unklug. Es gibt so viel intelligentere Bündnisse an einer solchen Stelle.«
Bedrückende Ernsthaftigkeit hat während seiner Worte die schwebende Leichtigkeit abgelöst, die sein Gesicht geziert hatte.

»Sonst wär ich wohl nicht hier. Das wäre dumm«, endet er schlicht.
Ich lache. Diesmal richtig und probiere es auch nicht zurückzuhalten. Ein Hauch der Schwerelosigkeit erobert mit einem schmunzelnden Mundwinkel seine Liebenswürdigkeit zurück.

»Also hast du was getan?«

»Mir eine junge, hübsche Frau als Verbündete gesucht. Hier«, er drückt mir das Buch in die Hand, »Ich brauchte es nicht für mich.«

Groß blicke ich ihn an. Mir ist bewusst, dass mir meine Gesichtszüge entglitten sind, aber er ignoriert es und zuckt entschuldigend mit den breiten Schultern.
»Haflot hätte dich spätestens zwölf Stunden nach der Ausleihe zurück gepfiffen und behauptet, ein Student würde es brauchen«, »Oder eine Studentin«, werfe ich automatisch ein und er nickt und verbessert sich: »Ein Student oder eine Studentin würde es brauchen.«

Der Buchumschlag ist weich und rau zugleich unter meinen Fingern.

»Er kann dir diesen Sieg nicht zugestehen. Immer muss er das letzte Wort haben. Wenn du wüsstest, wie die anderen Studenten — und Studentinnen«, sein Grinsen vertieft sich, »über ihn sagen...«

»Muss ich nicht wissen, kann's mir lebhaft vorstellen. Das reicht mir«, murmle ich und wende mich dem Buch zu. Die Seiten zwischen meinen Fingern sind schon gelblich angelaufen, überall finden sich Spuren ehemaliger Leser und Leserinnen.

Ich sauge die vorbei fliegenden Worte in mich auf und würde am liebsten direkt in ihnen versinken. Aber das muss warten, bis die Kinder im Bett sind.
Der sanfte Geruch von Shampoo, AfterShave, gemischt mit einer Nuance Gewürze und etwas leicht süßlichem, das ich nicht zuordnen kann, umhüllt mich und ich halte den Atem an.

Auf der aufgeschlagenen Buchseite schiebt Lewis mir einen kleinen, zusammengefalteten Zettel zu. Seine Finger sind lang und an den Kuppeln, sieht die Haut etwas dicker aus. So, wie bei mir auch. Die Hände von Gitarristen. Bevor ich sie auf mehr Anzeichen absuchen kann, hat er sie schon zurück gezogen. Mit einem lauten Knall, klappe ich das Buch zusammen und blicke herausfordernd zu ihm hinauf. Er ist so groß, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen muss, um ihm ins Gesicht zu schauen. Man kann es nicht leugnen, er ist hübsch.

»Was ist das?«, verlange ich nach einer Antwort und blicke ihm direkt in die Augen.
»Ich muss das Buch ja schließlich irgendwann wieder abgeben. Du kannst es nicht ewig behalten. Und ich denke nicht, dass du es Haflot selbst zurückbringen willst, oder?«

»Ne, nettes Angebot. Ich verzichte«, spotte ich trocken und stoße mich von der Wand ab.
Nur noch wenige Zentimeter liegen zwischen uns und ich könnte seine Wimpern zählen, wenn ich wollte. Will ich nicht. Um trotzdem der Versuchung zu entgehen, senke ich den Blick und sehe mich seinem Schlüsselbein gegenüber. Wie sich wohl die Haut auf unter meinen Finger anfühlen würde, wenn ich — ?
Wirklich? Bemüht kontrolliert atme ich ein und werde durch seinen unverwechselbaren Duft an seine Nähe erinnert.
»Das Problem ist nur, dass du jetzt zwar meine Nummer hast, aber ich —«

Ich greife nach meiner Tasche, lege das Buch hinein und erwidere schärfer als gewollt, um das Zittern in meiner Stimme zu verstecken: »Ich verstehe schon. Du hörst von mir.«

»Äh, nein. Entweder du klingelst mich schnell an, oder ich bekomm das Buch wieder. Ich war so stolz darauf, mich in meinem ersten halben Semester nicht mit dem Drachen angelegt zu haben. Das geb ich selbst für dich nicht auf«, empört er sich und seine raue Stimme ist paradoxerweise trotz ihrer Dringlichkeit so leise, dass sie zwischen uns hängt.

»Also?«
Ich nicke und krame in meiner Tasche nach meinem Handy.
»Hosen- oder Jackentasche?«, schlägt er vor.
»Danke. Ich verleg es immer. Jedes einzelne Mal.«
Er lächelt und gesteht: »Ich auch, was denkst du woher die Taschen-Idee kam? Wenn ich noch eine Handtasche hätte... Das wäre eine Katastrophe.«

Tatsächlich steckt es in einer Innentasche meiner Sweatshirt-Jacke und ich bin mir ganz sicher, dass diese Tasche vorher noch nicht da war. Egal wie strukturiert, organisiert und geordnet alles andere ist, Taschen sind die Hölle. Alyah, meine kleine Schwester, weiß immer, wo was ist und wann sie es darein getan hat. Manchmal — in Momenten wie diesen — wünsche ich mir ihr Taschen-Gedächtnis. Und dann fällt mir ein, was für ein Chaos in ihrem Leben herrscht, außerhalb dieser Taschen. Vielleicht lieber doch nicht.

Lewis diktiert mir seine Nummer und nur Sekunden später ertönt ein nerviges Piepen. Schnell lege ich auf und erhasche einen Blick auf die Uhrzeit. Mir gefriert das Blut in den Adern.

»Fuck!«
»Ach komm, so schlimm bin ich auch nicht.«
Verständnislos blinzle ich ihn an und probiere mir nicht allzu exakt auszurechnen, wie schnell ich zur Bahn renne muss.

»Was? «, fahre ich ihn an.
»Was ist los, Raja?«, fragt er und berührt mich flüchtig am Arm. Ein Schauer jagt über meinen Körper.
»Ich muss los. Vermutlich ist es jetzt sowieso schon zu spät«, erkläre ich hastig, greife nach dem vollen Becher Kaffee, der auf dem kleinen Vorstand abgekühlt ist. Jetzt ist er kalt und rutscht auf der Skala von unappetitlich auf eine Ebene mit Haflot, wie Lewis den Drachen-Bibliothekar nennt.

»Wohin?«
»Bahn, fertig mit der Fragestunde? Ich verliere meinen Job, Lewis, verdammt nochmal«, fluche ich und entziehe ihm meinen Arm, den er gegriffen hat.
»Nein —«

Genervt drücke ich ihm das braune Gesöff in die Hand und mache mich mit langen Schritten auf den Weg zur Bahnstation.
Schneller als mir lieb ist, ist er auf einer Höhe mit mir und hat mit seinen langen Beinen auch kein Problem mein Tempo zu halten.
»Was noch?«, fauche ich.

»Was hältst du von einem Danke?«, neckt er mich und ich halte meinen Blick starr auf den Weg vor mir gerichtet, um sein schiefes Grinsen und die funkelnden Augen nicht zu sehen, die sich schon in mein Gedächtnis gebrannt haben.

»Dafür, dass du mich aufgehalten hast, ich vielleicht meinen Job verliere und mir jetzt auch noch hinterherläufst wie ein Dackel?«, stelle ich mich doof, »Ne, lass mal.«

Er lässt nicht locker: »Und das Buch?«
»Achso, stimmt ja. Das Buch, das ich selbst nicht ausleihen konnte, weil du behauptet hast, es zu brauchen.«
»Mensch, Raja! Du machst es einem aber auch schwer.«

Wie angewurzelt bleibe ich stehen.
»Was?«
Vorne am Gleis fährt eine Bahn ein und mein Gehirn setzt aus. Scheiße.
Ohne ein Wort zu sagen, drückt Lewis mir den Becher, den er — warum auch immer — die ganze Zeit mitgetragen hat, in die Hand und beginnt zu rennen.

»Das schaffst du nicht mehr«, rufe ich ihm überrascht hinter. Ein Giggeln schleicht sich meine Kehle hinauf.
»Wer sagt das? Du?«, erklingt als dumpfe Antwort und er wirft einen schnellen Blick über die Schulter. Seine Haare fallen ganz durcheinander und mit jedem federnden Schritt hüpft der weite Pulli auf seinen breiten Schultern auf und ab.

»Komm! Worauf wartest du?«, fordert er mich auf und kopfschüttelnd verfalle auch ich ins Rennen.
Das wird doch eh nichts.
Der Kaffee im Pappbecher schwappt über den Rand auf meine Hand und ich bin dankbar dafür, dass er kalt ist. Auch wenn meine Hand klebt und ich mich frage, wie ich den Becher je wieder lösen soll.

Als ich aufblicke, sehe ich Lewis, der über die Köpfe der ausgestiegenen Passagiere zu erkenne ist, und sich automatisch einen Weg durch sie hindurch bahnt. Gerade als die Türen schließen erreicht er eine und dreht sich triumphierend nach mir um.
»Wie war das? Ich schaff das nicht mehr?«, formen seine Lippen und ich schüttle grinsend den Kopf, ehe ich in die Menschenmasse eintauche und mich zu ihm durchkämpfe.

Zufrieden steht er in der Tür und ignoriert die vernichtenden Blicke der anderen Menschen in der Bahn.
Meine Lunge explodiert, als ich neben ihm in die Bahn steige und lachend auf einem der wenigen freien Sitze zusammenbreche.

»Was hast du da denn gemacht?«, verhört mich Lewis, der sich an einer der Schlaufen festhält, und deutet auf das Fiasko mit dem Klebe-Kaffee.
»Jemand musste den Job ja übernehmen«, kommentiere ich nur und nehme mit spitzen Fingern den fast leeren Becher aus der anderen Hand. »Überraschung: Du warst es nicht.«
»Taschentuch?«

Unter seiner Beobachtung wische ich mir meine Hand ab, und probiere den Schaden so gut es geht zu begrenzen.
»Bekomm ich jetzt ein Danke?«

»Danke«, seufze ich und ziehe scharf die Luft ein. Nicht nur meine Hand ist voll mit dem Mist, sondern auch meine Jacke und tausende kleine kaffee-klebe Punkte verteilen sich über meine Hose.

»Das kann doch nicht wahr sein. Argh!«
»Das geht raus. Ich schick dir nen Link«, sagt Lewis mit ruhiger Stimme und sofort erscheint mir das Desaster nicht mehr ganz so riesengroß.
»Danke!«

Diesmal meine ich es ernst und blicke ihn an.
»Guck, das war doch nicht so schwer«, witzelt er.

»Ach, aber was willst du sonst hören?«
Ohne eine Antwort zu geben, zuckt er mit den Schultern und schaut gedankenverloren aus dem Fenster.

»Du bist ein Engel«, huschen die Worte über meine Lippen, ehe ich sie überdenken kann.
Verdutzt wendet er sich mir zu.

»Ach, schön wär's. Flügel wären fantastisch.«
Er grinst frech und schon wieder ist da dieses Funkeln in den blau-grauen Augen, das es mir unmöglich macht, einfach den Blick abzuwenden.

»Warum? Offensichtlich gibt es doch auch Engel ohne Flügel«, antworte ich ernst und lächle ihn vorsichtig an. Es fühlt sich richtig an.

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