»Aber sie scheint besagte Ausnahme zu sein.« | Kapitel 2
❝ Ein Tropfen Hilfe ist besser als ein Ozean voll Sympathie. ❞
Unbekannt
♕
Menschen sind undurchschaubare Wesen. Und trotzdem sind sie alle irgendwie, irgendwo berechenbar. In der Schule haben wir gelernt, dass Ausnahmen die Regel bestätigen, aber ich hatte schon nicht mehr dran geglaubt eine zu finden. Jede Person hat einen Grund so oder so zu handeln. Wenn man diese Grundlage ausfindig gemacht hat, mit der Person vertraut ist, bestimmte Reaktionen auf Einflüsse kennt, dann kann man sie einschätzen und sie durchschauen wie ein gläsernes Getriebe. Eine Maschine, die aus tausenden von klitzekleinen Zahnrädchen besteht, die ineinander greifen, den Mechanismus am Laufen und den Menschen am Leben halten. Sobald man meint diesen Prozess mit den antreibenden Motoren und all dem Schnickschnack ansatzweise durchdrungen zu haben, kann man die Handlungen der Person vorhersehen und sogar durchschauen.
Aber sie scheint besagte Ausnahme zu sein.
Mit ihren roten, wehenden Haaren ist sie jedem in der Bibliothek von Anfang an ins Auge gesprungen. Das lustige war, dass nicht eine Person sie angesprochen hat, obwohl sie offensichtlich nicht zur Universität gehört, denn dann würden die meisten sie kennen. Ich zumindest und ich hätte sie mir gemerkt.
Menschen merke ich mir immer. Sie sind wichtig für den Beruf und sie abzuschätzen gehört nun einmal dazu. Besser man lehrt es, bevor man es auf die harte Tour im Gerichtssaal erfährt. Mittlerweile bin ich richtig gut.
Die junge, groß gewachsene Frau hingegen bereitet mir Schwierigkeiten. Im ersten Moment dachte ich sogar, sie würde genau hier her und nirgendwo sonst hingehören. Wie sie hier hineingeschneit kam, einigen kurz zunickte, mit langen Schritten zielgerichtet die Eingangshalle durchquerte und trotz ihrer auffallenden Art mit Gesamtbild verschmolz. Faszinierend.
Jetzt allerdings sticht sie heraus und macht auch keinen Hehl mehr aus ihrer Anwesenheit.
Kein Student kann den Bibliothekar Mr. Haflot wirklich leiden, das ist kein Geheimnis und jedem von Beginn an bekannt. Einige Schüler sagen, er hätte schon zu der Zeit ihrer Eltern hier gearbeitet, andere sagen, er würde sich seit Jahren nicht mehr verändern. Beurteilen kann ich das nicht, und halte das meiste für sinnloses Geschwätz. Aufgrund von Gerüchten und Erzählungen allerdings einen Menschen so grundlegend zu verachten, widert mich an und manchmal frag ich mich, wie solche Einfallspinsel als Jurastudenten und Studentinnen enden konnten und warum sie den ganzen Aufwand überhaupt erst auf sich nehmen, wenn sie sich noch nicht mal ein eigenes Bild von dem Bibliotheksleiter machen können oder wollen — das ist ungewiss.
Eigentlich kam ich gut mit ihm klar, doch innerhalb der letzten Minuten droht meine schöne Neutralität, und schwererkämpfte Objektivität ins Negative zu kippen. Und zwar mit lautem Krach und Tarar. Einem schallenden Knall. Ähnlich dem, der entstanden ist, als die Rothaarige demonstrativ den schweren Wälzer auf den Tresen fallen lässt und sich nur kurz umblickt, ehe sie erneut beginnt energisch auf ihn einzureden.
Die Bibliothek ist voller als sonst und immer weitere Schüler wehen in das riesengroße Gebäude. Sämtliche Lerntische sind von Studenten eingenommen, die angeregt tuscheln und immer wieder auffällig zu Mr. Haflot und der hübschen Frau blicken.
Seufzend wende ich dem Geschehen den Rücken zu und stutze, denn die gemütliche Sitzecke am Kamin ist nun belegt. Obwohl ich vor nicht mal zwei Minuten aus dem Ohrensessel aufgestanden bin, meine Jacke, meine Notizen und das dicke Buch einfach habe liegen lassen, ist der Platz nun besetzt. Als ich näher komme, höre ich, wie Studenten aus meinem Jahrgang sich durcheinander Dinge zu flüstern.
»Wurde mal Zeit, dass jemand nicht nach seiner Pfeife tanzt.«
»Stimmt, aber sie gehört offensichtlich nicht hierher, dann hätte sie sich das nicht getraut«, antwortet ein Mädchen, mit der ich mindestens einen Kurs habe, hochnäsig und wirft ihre zu langen blonden Haare nach hinten, während sie Besagte mit zusammengepressten Lippen bedenkt.
Vermutlich, denke ich, hätte sie nicht anders gehandelt, selbst wenn sie von Mr. Haflots und all den Geschichten über ihn gehört hätte. Das passt einfach nicht zu ihrem gesamten Auftreten, das passt nicht ins Muster.
Wortlos greife ich mir meine Sachen und probiere ohne viel Aufsehen wieder davon zu kommen.
»Ahh, wen haben wir denn da, Lewis.«, grölt David mir entgegen und lenkt zu meinem Leidwesen die Aufmerksamkeit der anderen auf mich. Das wars wohl mit Unscheinbar. »Komm, setzt dich. Das Schauspiel ist die feierliche Eröffnung des neuen Semesters. Das kannst du dir doch nicht entgehen lassen, in deinem ersten und einzigen Jahr auf der University of international Right and Order. Die Süße legt ordentlich vor, scheint, als müsste Ethen nochmal an seinem Plan arbeiten, um sie zu übertreffen.«
Ich nicke einfach stumm und frage mich, wie ich nun rechtzeitig zu Mr. Haflot komme, ehe es zu spät ist.
»Komm, komm!«, fordert mich nun auch Ethen auf und deutet mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht auf den unbequemen Hocker. Vermutlich will er mir erzählen, was er vor hat.
»Danke, aber ich muss noch einiges vor morgen machen und dafür diesen Schinken durcharbeiten.« Mit einer Geste deute ich auf den Tisch und schnappe mir schnell meine Jacke, während die anderen mit dem Titel beschäftigt sind.
»Ach, das kannst du auch gleich noch machen. Sie ist schon bei dem Papierkram, danach wird es wieder ruhiger«, mischt sich ein anderer Mann ein, den ich nur vom Sehen aus einigen meiner Kurse kenne.
Kurz huscht mein Blick zu der Frau und ich frage mich plötzlich, welcher Namen wohl auf den Linien steht.
»Ein Glück, ich muss auch noch das Buch und ein paar andere ausleihen, dann geht das hoffentlich schnell«, quittiere ich nur und klemme mir die Jacke unter den Arm, damit ich meine Sachen zusammensammeln kann. Blau markierte Blätter nach unten, rote dadrüber und die mit den gelben Post-its nach ganz oben.
»Wenn du meinst. Bist du heute Abend eigentlich dabei?«
Heute Abend... , heute Abend — Was wir da nochmal? Trotzdem lächle ich breit und weiche aus: »Ich muss schauen, aber melde mich nochmal!«. Hoffentlich kann Ivan mir mehr sagen, worum es nochmal ging.
David nickt.
»Wir sehen uns«, lasse ich die Gruppe wissen und durchquere schnell die Eingangshalle des alten Gebäudes.
Überall stehen Studenten herum und beobachten gespannt, was als nächstes passiert. Teile kann ich ihnen vorhersagen.
»Lewis!«, begrüßt Haflot mich überschwänglich, sobald ich an den Tresen trete, und ich zwinge mich zu einem distanzierten Lächeln. Die Rothaarige schaut irritiert auf, als hätte sie nicht zu hoffen gewagt, solch begeisterte Worte von dem verklemmten Bibliothekar zu hören. Unsere Blicke treffen sich und sie grinst mich an. Vermutlich hat sie weit mehr in meinem Gesicht gesehen als Haflot, der schon nach meinem Buch greift.
Unweigerlich grinse ich vielsagend zurück, bevor sie sich wieder ihrem Papierstapel zuwendet, den sie ganz umsonst ausfüllt. Haflot wird sie nicht einfach ziehen lassent. Egal, wie überzeugend sie auch ist. Ihren vermeintlichen Gewinn kann er nicht auf sich sitzen lassen.
Der Bibliothekar registriert mit routinierten Bewegungen mein Buch. In der Zeit wandert mein Blick ein weiteres Mal zu der jungen Frau und ihren Papieren. Oben auf dem Zettel steht tatsächlich schon ihr Name: Ra ... Raja ... Raja, meine ich entschlüsselt zu haben, ihr Nachname, beginnt mit einem weiteren R, aber weiter komme ich nicht. Schmunzelnd registriere ich, dass sie im Gedruckten herum gekritzelt hat, als hätte sie etwas verbessert. Was genau es ist, kann ich nicht erkennen, trotzdem kann ich mich nur schwer daran hindern, laut aufzulachen. Kein Wunder, dass sie den alten Mann auf die Palme bringt. Wobei ich es andersherum noch besser verstehen kann.
»So, das wär's«, verkündet Haflot und schiebt mir das schwere Stück über die Theke, ohne Rücksicht auf die Papiere der Frau zu nehmen, wodurch er sie verschiebt, die Rothaarige mit dem Kuli abrutscht, einen tiefschwarzen Strich durch die ausgefüllten Zeilen macht und empört aufkeucht. Verständlich.
»Sonst noch etwas, Lewis?«, erkundigt er sich, als wäre nichts passiert und ignoriert sie einfach. Fassungslos ziehe ich meine Augenbrauen hinauf. Meine Fingerknöchel treten weiß hervor, weil ich die Theke fest umklammere, um ihn nicht lautstark anzufahren.
Also tut sie es: »Hallo, was ist bei ihnen los? Geht's noch? Was war das?«.
Um nicht zu grinsen, beiße ich mir fest auf die Lippe und zucke bei dem Schmerz zusammen, doch keiner der beiden scheint es bemerkt zu haben.
»Was hast du denn dort gemacht?«, verlangt Haflot mit verärgerter Stimme zu wissen, aus der er es ihm nicht gelingt, die verabscheuliche Freude herauszuhalten. Sie hat es ganz sicher auch gehört, es war ja nicht zu überhören.
»So kann ich die Papiere aber nicht annehmen. Die sind ungültig.«
Jetzt klappt ihr der Mund auf und ihre Wimpern umrahmten Augen sind weit aufgerissen. Auch ich kann meine Erschütterung schwer verstecken.
Mit einem ekelerregenden Lächeln zieht er demonstrativ neue Blätter hervor, als hätte er sie bereits dafür platziert.
»Du musst sie leider nochmal ausfüllen, Fräul-«
»Ich bin kein Fräulein«, faucht sie ihn durch zusammengekniffene Zähne an.
»Sie haben mich als eine erwachsene Frau zu behandeln und zu respektieren. Aber wenn sie nicht wollen, dann kann ich auch zur Leitung der Universität gehen, wissen sie?«, giftet sie ihn an und diesmal kann ich mir kein Grinsen verkneifen. »Die werden bestimmt ein Interesse daran haben, wenn ein Angestellter das Aushängeschild der Universität beschmutzt. Was denken sie? Diskriminierung an einer renommierten Uni für Jura, passt nicht so wirklich ...«. Ihre Worte stehen im Raum und es ist mucksmäuschenstill.
Mein Respekt für diese Frau steigt immer weiter und mir tut jetzt schon leid, was ich gleich tun werde, auch wenn ich hoffe, dass sie es verstehen wird. Ich hoffe es sehr. Sonst bin ich offensichtlich dem Untergang geweiht.
Während ihrer Worte scheint Haflot immer kleiner geworden zu sein, als wäre ihm bewusst geworden, dass er verloren hat, weil sie am längeren Hebel sitzt und ab sofort die Spielregeln macht.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, zieht sie die Papiere zu sich, nimmt den Stift und beginnt in einer Ruhe von vorne, die man nur gezwungen erschaffen kann. Bevor sie beginnt die Linie auszufüllen, fügt sie ihre Korrekturen hinzu.
»Noch etwas?«, wendet sich der Bibliothekar verkniffen an mich und ich muss aufblicken, ehe ich ihren Nachnamen entziffern kann.
»Ja, ich bräuchte ein Buch.«
»Sehr schön, welches?«, will er wissen und steht schon kerzengerade vor seinem Stuhl. Die Rothaarige schnaubt und funkelt ihn hasserfüllt an, obwohl er sie gänzlich ignoriert.
Die Worte fliegen über meine Lippen: »Das Recht der Frau«, und ich bereue sie augenblicklich.
Haflot lacht erfüllt von Zufriedenheit auf, doch ich blende ihn ganz aus und achte nur auf die junge Frau neben mir. Sie hält mitten in der Bewegung inne, als wäre sie erstarrt und ganz, ganz langsam blickt sie auf. Ihre braunen Augen sprühen, ihre Lippen sind fest zusammengepresst und ihre Hände bilden sich zu Fäusten. Für einen kurzen Moment habe ich Angst vor ihr. Sie richtet sich ganz auf und knallt den Stift mit ordentlich Schwung auf die Papiere.
»Na dann«, verkündet sie laut, sodass alle es hören können.
Im Augenwinkel bemerke ich den alten Mann, der ihr vergnügt das Buch aus den verkrampften Händen zieht.
Flink leiht er es auf meinen Namen aus und legt es feierlich auf das andere. Dass sie thematisch gar nicht zusammen passen, ist ihm ausnahmsweise wohl egal.
Während seiner Arbeit stehen wir uns einfach nur gegenüber und starren uns an. Abwertend huschen ihre Augen über mein Gesicht, mustern mich, nehmen jeden Zentimeter genauestens unter die Lupe, als könne sie so erfahren, was der Grund dafür ist.
Statt mich von ihrem Blick aus dem Konzept bringen zu lassen, konzentriere ich mich auf sie. In ihren Augen finden sich tausende von braunen Sprenkeln in den unterschiedlichsten Nuancen, ihre roten Haare umrahmen weich ihr schönes Gesicht. Auf ihrer Nase finden sich einige wenige Sommersprossen, ihre Wangen sind rosig und ihre Lippen geschwungen. Sie sind zusammengepresst und kräuseln sich. Zwischen ihren Augenbrauen vertieft sich eine klitzekleine Falte und ich bin mir sicher, das sie mir geschuldet ist. Augenblicklich verstärkt sich mein schlechtes Gewissen, aber ich kann es jetzt nicht mehr ändern.
Gerade als ich den Mund öffne, tritt sie einen Schritt zu mir heran und zischt in die wenige Luft zwischen uns: »Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen«. Das Getuschel bei den Schülern wird immer lauter und eindringlicher, aber ich nehme es kaum wahr. Sie blickt mir noch einmal in die Augen. Ich halte den Atem an und probiere sie zu ergründen.
Ihr Blick ist stark und gefasst.
Aber nur einen Moment bevor sie sich abwendet, sehe ich etwas anderes aufblitzen: Enttäuschung und — Verletzung. Erstaunt blicke ich ihr hinterher.
Mit schnellen Schritten marschiert sie aufrecht aus dem Gebäude. Den Rücken durchgestreckt, den Kopf erhoben, mit einem kurzen Blick auf die Uhr, geht sie einfach und lässt Haflot mit einem Triumph, der nicht der seine ist, die laut murmelnden und lachenden Studenten, die sie jetzt schon feiern, und mich — fassungslos — zurück.
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