Kapitel 9
Flatternd öffneten sich Haniels Augenlieder und seine sturmgrauen Augen versuchten vergeblich, die vor ihnen stehende weiße Wand zu fixieren. Er fühlte, dass sein Körper bereits wieder bei vollen Kräften war, doch wollte er aus einem Impuls heraus sein warmes Bett nicht verlassen. Noch fünf Minuten.
Vor sich hin dösend, bemerkte er, wie sich etwas versuchte, um seinen Bauch zu schlängeln, was ihn mit einem Schlag hellwach werden ließ. Er neigte seinen Kopf etwas nach unten und ein Arm kam in sein Sichtfeld.
Dann fiel Haniel das gestrige Geschehen ein. Er hatte sich, ohne zu zögern, all dem hingegeben, was Seraphion mit ihm getan hatte, und es sogar genossen. Sehr genossen, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Doch das würde der junge Erzengel dem Seraphen gegenüber niemals zugeben.
„Süß", murmelte Seraphion hinter Haniel und drückte diesen noch näher an seine Brust. Der Grauhaarige, der die angenehme Wärme an seinen Flügeln wahrnahm, sprang vor Scham aus dem Bett und blickte mit leicht rötlichen Wangen den noch liegenden Seraphen böse an. „Was fällt dir ein, mich so zu berühren?"
„Höre in dich hinein, Haniel, dort findest du die Antwort", beantwortete Seraphion die Frage mit einem Gähnen und streckte im Liegen seinen Körper. Noch ein Rätsel? Als ob ich von denen nicht bereits genug hätte.
Ohne ein Wort drehte der Erzengel sich um und ging in das Kinderzimmer, wo die kleine lila Flamme ihn freudig empfing. Sie loderte stärker auf, was ihn leicht lächeln ließ und er näher an sie herantrat. Unbewusst hob er seine rechte Hand und hielt sie der kleinen Flamme hin. Mit einer schnellen Bewegung streifte die Flamme seine Handfläche und ein Prickeln ging von dieser aus.
Plötzlich veränderte sich der Raum und zerrte an dem Körper des Erzengels, bis er auf einer Steinplatte im Nichts stand. Um ihn herum war alles in tiefste Schwärze getaucht und das gespendete Licht, welches ihm einen Bruchteil seiner Umgebung erleuchtete, kam von den vielen Treppen, die einem Labyrinth ähnelten.
Bevor Haniel seinen Brüdern ein Gefühl der Gefahr über ihr Geschwisterband zukommen lassen konnte, vernahm er Schritte und hörte ganz genau hin. Leider waren sie sehr hektisch und hallten von überall her.
Ein Schrei ertönte und ließ den noch ruhigen Erzengel langsam umdrehen, da er eine Präsenz hinter sich spürte. Endlich, dachte sich Haniel, als er die verzweifelte Energie wahrnahm, die er auch gestern bereits gespürt hatte.
Eine blutverschmierte Person kam langsam auf ihn zu, doch war ihr Gesicht nicht erkennbar. Es war, als ob sie kein Gesicht besaß, und nicht einmal anhand des Körpers konnte Haniel auf das Geschlecht schließen, da dieser von tiefen Wunden verunstaltet war. Erst als die blutende Gestalt mit gewissem Abstand zu dem Erzengel stehen blieb und sich auf die Knie begab, konnte der Grauhaarige den Ansatz von Engelsflügeln erkennen, welche herausgebrannt wurden.
Grausam. Die Schmerzen wollte sich Haniel nicht einmal vorstellen, denn die Flügel eines Engels waren sein Lebensinhalt. Waren diese weg, war auch der Lebenswille verschwunden.
Die am Boden kauernde Gestalt schrieb immer wieder mit dem von ihr stammenden Blut einen Buchstaben auf den Steinboden, was schon einem Zwang gleichkam.
Als der Grauhaarige andeutete in die Richtung der Gestalt zu gehen, fing sie plötzlich an, schrill zu schreien und riss den blutenden Kopf in die Höhe. Sie öffnete ihren Mund, aus dem Unmengen an Blut herausfloss, und versuchte etwas zu sagen.
Zwischen all dem Gluckern und Husten, erkannte er den Satz und machte sich kampfbereit.
„H-hinter e-euch!
D-D-Dämon!
D-Darf-f d-das Ge-esicht n-nicht-t se-eh-en!
D-denkt n-nicht a-a-an m-mich!
I-i-i-ihr m-müss-st ü-übe-erl-leb-ben u-und P-par-rtn-ner b-b-beschü-ütz-zen!"
„HANIEL!", schrie Seraphion, welcher dem Erzengel nach einigen Minuten gefolgt war, und fand diesen regungslos und hypnotisiert vor der Lebensflamme des Engelskindes stehen. Besorgt ging er auf diesen zu und redete auf die Schönheit vor sich ein, doch reagierte Haniel einfach nicht. Plötzlich spannte sich der Körper des Erzengels an und Energiebälle bildeten sich in seinen Händen. Das reichte dem Seraphen und er packte den Engeln vor sich fest an beiden Schultern und rüttelte ihn aus seiner Trance heraus. „KOMM WIEDER ZU DIR!", schrie der Seraph den Grauhaarigen an, welcher durch die laute Stimme schwer atmend wieder zu sich selbst fand.
Mit geweiteten Pupillen sah Haniel zu Seraphion, der mehr als nur erleichtert war, dass seinem wunderschönen Engel und dem Kind nichts passiert war.
„Was ist mit dir geschehen?", fragte der Seraph, während er dem Bedürfnis nachkam, Haniels Gesicht in seine Hände zu nehmen und über die zarten Wangen zu streichen. „Ich war in einer Zeitverschiebung gefangen", antwortete der Erzengel wahrheitsgemäß und das spürte Seraphion auch, doch war doch noch mehr. Viel mehr.
„Wie konnte das passieren? Und was hast du dort gesehen?" Die Besorgnis war ihm nicht nur anzuhören, sondern stand ihm auch regelrecht ins Gesicht geschrieben. Konnte man es ihm verdenken? Gestern sagte er noch, dass er auf den Erzengel aufpassen würde, und direkt am Morgen danach riss jemand dessen Geist in eine Zeitverschiebung.
„Meine Hand hat die Lebensflamme des Kindes berührt und anscheinend somit einen Weg für jemanden geöffnet. Ich fand mich in einer Art Labyrinth wieder und dachte zuerst allein zu sein, doch war dem nicht so. Ein anderer Engel war anwesend. Die Gestalt besaß nicht wirklich ein Gesicht und verlor viel Blut. Er oder sie wirkte wie in einer Trance zu sein, schrieb einen einzelnen Buchstaben auf den Steinboden unter unseren Füßen und schien die vielen offenen Wunden am eigenen Körper nicht wirklich wahrzunehmen. Die Flügel schienen herausgebrannt worden zu sein und es schien einer Strafe zu ähneln, leider konnte ich in der Kürze nicht herausfinden wofür.
Als eine negative Präsenz hinter mir erschien, schrie die Gestalt, doch galt der Schrei nicht der Angst um deren eigenes Leben, sondern der Sorge um mich. Sie versuchte mir etwas mitzuteilen, was ihr auch nach viel Anstrengung geglückt war", erzählte der Erzengel und hielt für kurze Zeit inne, da er das Bild des verunstalteten Engels verarbeiten musste.
Kein Engel im Reich des Himmels, hat so etwas Grausames verdient.
Bevor Seraphion weitere Fragen stellen konnte, sprach Haniel weiter und schien an dem Seraphen vorbei zu schauen. Es war so, als ob er die Gestalt weiterhin sehen würde.
„Hinter euch! Dämon! Darf das Gesicht nicht sehen! Denkt nicht an mich! Ihr müsst überleben und Partner beschützen!
Das waren ihre Worte. Ich verstehe, dass der Dämon nicht mein Gesicht sehen darf, denn nicht einmal normale Engel dürfen das. Doch leider verstehe ich den Teil nicht, dass mir nichts passieren darf und ich einen Partner schützen soll, den es nicht gibt."
In Seraphion tobte ein Chaos an Gefühlen, denn er war hingerissen zwischen der Wahrheit, was ihm durch das Kind seiner Freunde offenbart wurde, oder einer Ausrede, um den Erzengel vor sich zu schützen. Was wäre das Richtige und was das Falsche?
Als Haniel das Zögern in den Augen des Seraphen sah, zog er nachdenklich seine Augenbrauen zusammen. Verschweigt er mir etwas?
„Welchen Buchstaben hat der verwundete Engel hinterlassen?", wich Seraphion dem kritischen Blick des Grauhaarigen aus und stellte die entscheidende Frage, welche ihn entweder die Wahrheit sagen lassen würde oder nicht.
Der Erzengel der Liebe und Hoffnung war nicht dumm und bemerkte, dass der Seraph Zeit schindete. Wofür, das wusste er noch nicht, doch würde sich das in den nächsten Minuten klären, denn es war Zeit, dass sie beide offen miteinander sprachen und die Sache gemeinsam angingen.
Denn eines stand für Haniel fest, er würde ab sofort seine Brüder heraushalten und sie keiner weiteren Gefahr aussetzen. Einen Erzengel im Kampf zu verlieren war schlimm, doch drei auf einen Schlag war eine Katastrophe, die niemand so einfach verkraften konnte. Nicht einmal der Herrscher selbst.
„Sobald ich dir deine Frage beantwortet habe, verlange ich die absolute Wahrheit von dir. Im Gegenzug verrate ich dir alles, was ich weiß", stellte der Erzengel klar und wartete solange ab, bis er ein zögerliches Nicken von Seraphion erhielt. Dem Seraphen war nicht ganz Wohl bei der Sache, doch wenn es sie beide näherbringen würde, musste er es tun.
„Vergiss dein Versprechen nicht, Seraph des Kampfes. Ich vertraue dir und lege dir deswegen keine Fessel um dein Herz." Seraphions Herz machte einen gewaltigen Satz, als er die Worte Haniels vernahm und konnte ein freudiges Lächeln nicht verbergen.
Haniel, der sich selbst nicht verstand, versuchte das Lächeln des Schwarzhaarigen zu ignorieren, holte tief Luft und sprach den einzigen Hinweis aus, welcher der gepeinigte Engel hinterließ.
„R"
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