Kapitel 11
Als ich runter auf den Hof vor dem Eingang des Wohnheimes kam, wartete Ginzou bereits auf mich. Mit den Händen in den Hosentaschen stand er zwischen Jungen- und Mädchenwohnheim und blickte in den sommerlichen Morgenhimmel. Die Sonne färbte den Himmel in ein wunderschönes Spiel zwischen Lila und Pink. Alles sah so echt und schön aus und ganz kurz kam mir der Gedanke, dass ein leben hier gar nicht so schlimm sein könnte. Schließlich wäre ich ja nicht alleine.
"Guten Morgen. Na, hast du die erste Nacht in der neuen Welt gut überstanden.", fragte er mich mit seinem freundlichen Lächeln und wuschelte mir als Begrüßung den Pony durcheinander.
"Ja danke, das habe ich.", antwortete ich und versuchte dabei meine Haare wieder zu richten, "du hättest mir aber ruhig sagen können, dass ich eine Mitbewohnerin habe." Ich dachte an die plötzliche Begegnung mit Nakasawa von gestern Abend in meinem Zimmer zurück. Das hätte mir echt jemand eindeutiger erklären können.
"Ach ja stimmt. Nur die etwas wohlhabenden Schüler, wo Mama und Papa mehr Geld investieren, bekommen ein Einzelzimmer. Na ja, außer du bist Vorsitzende eines der hoch angesehenen Schulclubs, dann gibt dir die Schule auch freiwillig so ein hübsches Ding mit eigenem Balkon.", erklärte Ginzou während er die Augen verdrehte, doch ich erkannte leichte Bitterkeit in seiner Stimme. Wollte er etwa auch so ein tolles "Ding" mit Balkon? Ich konnte mir bei den Gedanken, Ginzou auf seinen eigenen Balkon liegend, mit diesen selbstzufrieden Ausdruck im Gesicht, einen kühlen Drink in der Hand und die Füße in einem eisgekühlten Eimer gesteckt, das kichern einfach nicht verkneifen.
„Was grinst du denn jetzt so blöd?", fragte er, beugte sich ein Stück zu mir herunter und blickte mir forschend in die Augen, als ob ich ein kleines Kind wäre.
"Nichts.", erwiderte ich jetzt mir einen noch breiteren grinsen und starrte herausfordernd zurück. Sein Blick wurde für einen kurzen Moment noch durchdringender und ich hatte kurz Angst ihm nicht länger in die Augen schauen zu können, so durchbohrte mich dieser plötzliche Ausdruck in seinen Augen. Doch dann richtete er sich mit einem Seufzer wieder auf seine normale große. „Na komm, ich will mir noch Frühstuck in der Kantine holen bevor der Unterricht anfängt.", sagte er dann und lief mal wieder ohne auf mich zu warten los.
Es stellte sich heraus das Ginzou und ich in derselben Klasse waren, er allerdings gestern den ganzen Tag schon geschwänzt hatte und wir uns somit nicht schon früher begegnet waren. Ein Glück für mich, denn alleine hätte ich den Klassenraum nie erreicht. Diese gefühlt unendlich vielen Räume und Gänge machten es einem aber auch echt nicht leicht. In der ersten Unterrichtsstunde hatten wir japanische Geschichte und ich versucht so gut wie möglich den Unterricht zu folgen, in der Hoffnung etwas über diese Welt herausfinden zu können, während Ginzou mit dem Kopf auf der Tischplatte lag und der Rhythmus seines gleichmäßigen Atems zu mir herüber kam.
Er machte sich anscheinend wirklich rein gar nichts aus dieser Welt.
Im Laufe der Stunde musste ich feststellen, dass mir das fleißige zuhören und mitarbeiten überhaupt nichts brachte, außer etwas über den zweiten Weltkrieg, der Zerstörung Japans und der Wiederherrichtung des Landes zu lernen.
Ungeduldig rutschte ich auf meinen Stuhl hin und her. So konnte es doch nicht weiter gehen! Anstatt etwas zu unternehmen saß ich nun hier rum und musste Dinge lernen die ich schon kannte. Ich fühlte mich überflüssig und hilflos.
Wie könnte ich am schnellen an neue Infos aus dieser Welt kommen, ohne direkt wieder zum Direktor geschickt zu werden?
Vielleicht wenn ich Einblick in die Schülerkarteien hätte oder allgemein auf die Daten der ganzen Schule zugreifen könnte. Aber das wäre nicht richtig, ich würde mich strafbar machen. Es musste einen anderen Weg geben, um Infos über diese verdrehte Welt zu erhalten.
"So die Stunde ist fast vorbei und ich als euer Klassenlehrer habe die Aufgabe bekommen, diese Anmeldeformulare auszuteilen. Jedes Mitglied des Schulrates darf sich zur Wahl stellen und seine Bewerbung abgeben. Es werden drei Wahlen stattfinden; in der ersten werden die Top 5 ausgewählt und aus diesen Top 5 wiederum in der zweiten Wahl die Top 2, wobei sich aus der dritten Wahl der neue Schulratspräsident ergibt. Ich wünsche den Teilnehmer viel Glück und ihr könnt euch jetzt bei mir die Zettel abholen. Die anderen dürfen schon in die Pause.", riss mich der Sensei aus meinen Gedanken. Ach ja die Wahlen.
"Na los Kanade-Chan, melde ich dich an.", Nakasawa lächelte mich im vorbei gehen breit an und hielt mir ihren hoch gehaltenen Daumen ins Gesicht: "Ich werde dich wählen!"
„Vielen Dank, Nakasawa-Chan.", ich verbeugte mich kurz und eilte rüber zum Lehrertisch. Da der Direktor und meine Klassenkameradin beide schon meine Kandidat Schaft zur Schulratspräsidentin erwähnt hatten musste ich schlussfolgernd auch Mitglied im Schülerrad sein. Und das wiederrum erlaubte mir an der Wahl teilzunehmen. Ein triumphierendes lächeln schlich sich auf meine Lippen. Als Schulratspräsidentin standen mir alle Wege und Mittel zur Verfügung, um endlich mehr über dieses Jenseits heraus zu finden und vor allem um Ginzou zu unterstützen. Vielleicht konnte ich ein gutes Wort für ihn einlegen und ihm so ein Balkonzimmer zu beschaffen oder ich machte ihn zum Vorsitzenden eines Sport-Clubs, dann würde er erst recht so ein Zimmer bekommen. In Gedanken malte ich mir schon aus was wir beide für Lustige Dinge erleben werden, bis wir beide glücklich und zufrieden zurück in unser altes Leben zurückkehren könnten.
„Was hast du da?", Ginzou stand auf einmal hinter mir und schaute über meine Schulter auf das Formular.
„Ich werde mich zur Schulratspräsidentin wählen lassen. So habe ich die Möglichkeit Zugang auf sämtliche Daten zu erhalten.", erklärte ich ihm meinen grandiosen Plan, allerdings ließ ich den zweiten Grund, warum ich kandidierte, weg. Er hätte es nicht akzeptiert, dass ich mich um ihn bemühe.
„Das ist eine gute Idee.", stimmte er mir zu und ich war wirklich stolz drauf, bis er im vernichtendem Ton weiter sprach: „Aber es ist nicht sicher, dass du auch wirklich gewinnst. Also überlege dir schon mal einen anderen Weg." Und schon ging er an mir vorbei, raus aus dem Klassenzimmer und lies mich verdattert stehen.
Es dauerte ein wenig bis ich reagierte und ihm hinterher eilte: „Ey, ich habe mir wenigsten was überlegt. Du kannst ja auch mal was tun."
„Willst du zurück oder ich?", antwortete er ohne sich dabei umzudrehen. Mürrisch knirschte ich mit den Zähnen. Ja, ich wollte zurück und ich wusste, dass er am liebsten weder hier noch in seinen alten Leben sein wollte. „Siehst du.", sagte er als ich keine Antwort von mir gab, „Ich werde dich unterstützen bei dem was auch immer du vorhast, aber keinen eigenen Weg suchen um in den scheiß zurück zu kehren, was sich mein Leben nannte."
Ich konnte ihn verstehen, wirklich. Wer wollte schon in ein grausiges Leben zurück? Bestimmt hatten ihn schon vor langer Zeit die Lebensgeister verlassen und nun war ihm alles scheiß egal geworden. Es machte mich Traurig ihn so zu sehen. Ich musste ihm einfach helfen ein glückliches Leben zu finden.
„Ja, du hast Recht. Aber mir scheint das momentan die einzige Lösung zu sein, um an Informationen zu kommen. Also bitte, hilf mir Schulratspräsidentin zu werden!" Jetzt blieb er doch stehen und schaute mich ernst an: „Wenn du das gerne möchtest, werde ich dich unterstützen.", doch dann breitet sich wieder das leicht gehässige grinsen auf seinen Gesicht aus, „Ich bau dir einen Hocker damit du ans Rednerpult passt." „Ohhh, das hast du nicht gerade ernsthaft gesagt, oder?", rief ich aus und versuchte Ginzou zu erwischen, um ihm eine runter zu hauen. Lachend und rumalbernd liefen wir durchs Schulgebäude, denn als nächstes hatten wir Informatik, weshalb der Unterricht im PC-Raum stattfand. Doch anstatt aufzupassen diskutierten wir lieber eine anständige Wahlstrategie aus und Ginzou erstellte sogar einen Fleier für meine Wahlkampagne. Allerdings war ich von dem Slogan: *Kleine Schülerin mit großen Zielen. Tachibana, Kanade eure neue Schulratspräsidentin!*, nicht so begeistert. Erst recht nicht, als er mir seinen ausgedruckten Entwurf, mit rosa Schrift und kitschigen Blümchen drauf, Stolz ins Gesicht drückte.
"Mizuki, Tachibana. Denkt bitte an euren Ordnungsdienst.", erinnerte der Sensei uns, nachdem der Unterricht vorbei war, "Ach und wenn ihr schon dabei seid, könnt ihr auch mal die Schränke aufräumen. Ich hol euch mal die Putzmittel" Mit schnellen Schritten hatte der Sensei sich auch schon, Wort wörtlich, aus dem Staub gemacht und lies mich und ein verdattert rein blickenden Ginzou zurück.
"Wie jetzt? Ich muss doch schon Ordnungsdienst machen und jetzt muss ich auch noch Bücher oder sowas sortieren?! Ich bin doch keine Putzfrau.", schoss es nur so aus Ginzou heraus und ich spürte die ansteigende Wut in ihm.
"Ach Ginzou-kun, ist doch nicht schlimm. Besser das als ein Schuldverweis oder so.", entgegnete ich und begann die ersten Stühle hoch zu stellen, um nachher besser durchfegen zu können.
"Von mir aus sollen sie mich wegschicken. Ich hab eh keinen Bock mehr auf diese dumme Schule.", trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust.
Ein kleiner Hauch von Entsetzen machte sich in mir breit.
"Was ist wenn du nicht nur von der Schule fliegst, sondern auch noch komplett aus dieser Welt verschwindest?! Du hättest keine Chance mehr in dein Leben zurück zu kehren.", meckerte ich ihn schon fast an. Mit schnellen Schritten kam Ginzou auf mich zu. Seine grünen Augen funkelten mir wütend entgegen und ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um seinen Blick standzuhalten. Ich hatte nicht nachgedacht und einfach ausgesprochen was mir durch den Kopf ging. Irgendwie musste ich die Situation wieder retten. "Außerdem wäre ich dann ganz alleine.", nuschelte ich und wich jetzt doch seinem durchdringend Blick ausweichen.
Als Antwort hörte ich nur ein mürrisches schnauben und das unangenehme Gefühl beobachtet zu werden löste sich langsam auf. Überrascht schaute ich hoch und beobachtete wie er etwas genervt in die Ecke schlurfte, wo der Besen stand.
Diese kleine Tatsache hatte ihn tatsächlich umgestimmt.
Ich war mir nicht sicher gewesen ob es wirklich funktionieren würde, aber da es in seinem alten Leben nichts gab was er vermisste, wollte ich ihn mit etwas aus seinen neuen Leben überzeugen und das war nichts anderes als ich selbst. Klar, wir kannten uns noch nicht lange, aber ich hatte das Gefühl ihm alles, sogar mein Leben, anzuvertrauen und anscheinend Erging es ihm genauso.
Nun begann Gibzou lustlos den Fußboden zu malträtieren und ich musste mir das kleine Kichern verkneifen. Es sah einfach zu lustig aus.
Ich würde ihn vermissen wenn er einfach so verschwinden würde.
Nachdem der Sensei uns sämtliche Putzmittel gebracht hatte fühle selbst ich mich wie eine Putzfrau. Mit hochgebundenen Haaren, Gummi Handschuhe, Putzeimer und Lappen bewaffnet machte ich mich auf, einen der schmalzig aussehenden Schränke von seinen Leiden zu befreien.
Ginzou hingegen kümmerte sich um den Fußboden. Nachdem er mit dem Besen nicht wirklich erfolgreich war, hatte ihm der Sensei einen Wischmop in die Hand gedrückt, was Ginzous Laune nicht unbedingt besser machte und nur mit einem flehenden Blick konnte ich ihn davon abhalten das Putzgerät dem Sensei ins Gesicht zu klatschen.
Dieser bekam davon zum Glück nichts mit und verabschiedete sich mit den aufmunternden Worten: "Ihr habt ja jetzt eine Freistunde, bis zum nächsten Unterricht macht ihr hier bitte sauber und ich komme gleich wieder. Wehe ihr seid schon weg wenn ich zurück komme."
Die zwei Pausen, plus die Freistunde würden grob geschätzt über eine Stunde putzen bedeuten. Deprimiert lies ich den Kopf hängen; das würde der schlimmste erste Schultag meines Lebens werden. Na ja wenn ich noch leben würde.
"Ich hab keinen Bock mehr auf diese Mist!", meckerte Ginzou ununterbrochen vor sich hin während er mit dem Wischmop eher Pfützen auf dem Boden verteilte, anstatt zu wischen.
Ich hingegen fing an sämtliche Schränke auszuräumen und deren Inhalt auf die daneben stehende Tische zu verteilen.
Gerade war ich an einem besonderes hässlichem Exemplar angekommen. Mühselig räumte ich Fachbücher, CDs, Tastaturen und Mäuse aus dem Schrank. Als ich dann endlich mit der letzten Schublade fertig war, wollte ich diese schließen, doch irgendwas klemmte dahinter und die quietschende Ablage wollte nicht zu gehen. Irgendwas musste dahinter gefallen sein.
Ich verdrehte die Augen und kniete mich vorsichtig auf den Boden. Mit einer Hand griff ich in die Schublade und versuchte das Etwas dahinter ausfindig zu machen. Nach kurzen blinden hin und her tasten, fand ich endlich das rechteckige Teil. Mit Mühe und einen verrenkten Arm bekam ich es endlich zu greifen und konnte es heraus ziehen. Das staubige Ding stellte sich als dickes Buch mit labbrigem Einband heraus. Vorsichtig hielt ich es ein Stück von mir weg und pustete die locker schon 5 Jahre alte Staubschicht herunter.
"Ey, da hab ich schon gewischt! Mach das gefälligst wo anderes.", meckerte Ginzou ein Stück weiter hinter mir. Er hatte die Jacke seiner Schuluniform beiseitegelegt und sich die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt. Mit einem sauberen Lappen hatte er sich die Haare aus dem Gesicht gebunden. So wie er nun leicht wütend mit dem Wischmob in meine Richtung wedelte, erinnerte er mich an meine schon längst verstorbene Oma. Sie hatte genauso grimmig wie Ginzou geguckt, wenn jemand ihren frisch gewischten Boden betreten hatte. Unwillkürlich fing ich etwas an zu kichern, was Ginzou grimmige Mine nur verschlimmerte und meine Laune weiter aufheitere bis ich schließlich laut lachen musste.
"Ok?! Was ist jetzt so komisch?", mit schnellen Schritten stapfte die Ginzou-Oma zu mir herüber und blickte von oben auf mich herab.
"Nichts, nichts alles gut, Ginzou.", lachte ich noch ein wenig und wischte mir die kleinen Freudentränen aus den Augenwinkeln.
"Ach ja findest du.", sein wütender Blick wandelte sich in ein verschmitztes, wenn nicht schon gemeines breites Lächeln und keine Sekunde später spürte ich eine plötzliche Kälte in meinem Gesicht. Langsam rannen mir ein paar nasse Tropfen die Wangen herunter. Verdattert blickte ich Ginzou an...er...er hatte mir allen Ernstes den Putzlappen ins Gesicht geworfen! Immer wieder blinzelte ich und musste erstmal mit dieser Tatsache klarkommen, währen Ginzou sich nicht mehr ein bekam vor Lachen.
"Oh dieses Gesicht, einfach zu gut.", gackerte er zwischen den Lachanfällen, "Du siehst aus wie ein nass gewordenes Reh, was mich aus seinen großen Glubschaugen anstarrt." Spielerisch nahm Ginzou meine Wangen in die Hände und drückte mein Gesicht zu einen Schmollmund zusammen: "Awww, einfach zu gut."
Nun war ich dran und schlug ihn mit voller Wucht das staubige Buch um die Ohren. "Mizuki, Ginzou das werdet Ihr mir büßen.", lachte ich und schlug weiter auf den Blondschopf ein.
"Na dann kommt und holt mich.", scherzte er und rannte durchs Klassenzimmer dicht gefolgt von mir mit meiner schweren Lektüre als Waffe schwingend, von der ich noch immer nicht wusste worum es eigentlich ging. Lachten und rumalbernd jagten wir uns durch das Klassenzimmer, nur um auf den noch feuchten Boden beinah auszurutschen. Vor Schreck lies ich das Buch fallen und kümmerte mich lieber um mein Gleichgewicht, anstatt auf das Wohlergehen meiner Waffe zu achten.
Als das Buch auf dem Boden aufschlug rutschte eine CD heraus und schlitterte auf den nassen Boden zu Ginzou's Füße. Vorsichtig hob er die CD mit dem weiß roten Aufdruck hoch. "Angel Player", las er die aufgedruckten Schriftzeichen vor, "was das wohl sein mag?"
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