Kapitel 9

Die nächsten Stunden ziehen sich endlos in die Länge. Nach einem kurzen Mittagessen haben wir noch die restlichen Schriftrollen auseinandergenommen und anschließend geschlagene drei Stunden unsere Notizen verglichen, ergänzt und wieder gekürzt.
Aber viel Brauchbares haben wir nicht gefunden, manches hat sich sogar gar nicht auf dieses Zeit-Ding bezogen, sondern handelte von irgendwelchen anderen Theorien, die noch tausendmal verrückter und abwegiger waren.

Ich wäre besagte Rollen ja gar nicht erst durchgegangen, hätte Carl nicht darauf bestanden. Er meinte wohl es könnten irgendwelche Hinweise versteckt sein, aber letzten Endes war es einfach nur verschwendete Zeit.
Als wir endlich fertig sind, ist Martin schon dabei sein Geschäft wieder zu schließen. Wir packen die Rollen wieder zurück in das Holzkästchen und verstauen es samt Attrappe wieder in Martins Bücherregal.

Ganz ehrlich, diese Vorsichtsmaßnahmen kommen mir wirklich ziemlich albern vor.
Wozu das Ganze?
Naja, wenn man unbedingt paranoid sein will... Ist ja nicht mein Problem.
Hoffe ich zumindest.
Denn wenn ihre Sorge doch nicht so unbegründet ist, stecke ich wohl automatisch mit drinnen. 

Schnell schiebe ich den Gedanken wieder beiseite und lenke mich ab, in dem ich Carl noch ein wenig ausfrage, während wir zurück zu seinem Haus laufen.

Was so seine Hobbys sind -was sind Hobbys?
Was für eine Musikrichtung er am liebsten mag -es gibt mehrere?!
Ob er sich vorstellen kann, dass Menschen den Mond betreten -völlig verstörter Blick von der Seite.
Was seine Lieblingsautomarke ist -Auto was?

Okay, das macht mir eindeutig viel zu viel Spaß, ich breche in haltloses Gelächter aus.

„Sag mal", fängt er an, nachdem ich mich wieder eingekriegt habe, „Meinst du das alles eigentlich ernst?"
Kurz überlege ich, so zu tun, als hätte ich das alles nur erfunden. Mein Gehirn hat nämlich einen hübschen, offenbar veralteten Vorsatz von mir ausgekramt, der besagte, ich solle möglichst nichts verändern.

Und ich weiß ja nicht welchen Schaden das anrichten würde, wenn ich ihm von Videospielen, Filmen, Handys oder Kopfhörern erzählen würde. Auf der anderen Seite bin ich jetzt schon länger hier, ich könnte schon so ziemlich alles verändert haben. Außerdem, was soll er mit Informationen anfangen die er sowieso nicht versteht?

Ziemlich verspätet antworte ich: „Naja, eigentlich schon. Aber weißt du, mach dir da mal keine Gedanken drüber."
„Keine Gedanken? Wie denn? Alexandra, der Mond!"
Er deutet hoch in Richtung Sonne.
„Das ist die Sonne, das ist dir schon klar?"

Er verdreht die Augen. „Ist doch völlig egal, dort oben irgendwo ist der Mond. Betonung auf oben und irgendwo. Wie wollen die Menschen da bitte hochkommen? Fliegen?"
Er lacht bei dieser anscheinend sehr absurden Vorstellung.
„Genau genommen ja. Aber ist es nicht egal wie? Fakt ist, dass es so ist. Mehr muss dich doch gar nicht interessieren."
Er schüttelt frustriert den Kopf. „Das wäre wie, wenn dir jemand erklären würde wir könnten zaubern, sagt dir aber nicht wie das bitte gehen soll. Das ist verwirrend. Nein, das ist frustrierend!"
„Soll ich dir besser gar nichts mehr erzählen, oder wäre das noch frustrierender? Ich meine, von vielem habe ich auch keine Ahnung. Ich weiß, dass es funktioniert und bei manchem vielleicht auch ungefähr wie, aber im Großen und Ganzen? Frag mich nicht."
„Interessiert dich das nicht? Man will doch wissen, wieso so etwas möglich ist." 

Nachdenklich lege ich den Kopf schief. „Ich glaube es gibt inzwischen einfach viel zu viele komplexe Dinge, als dass man wissen könnte wie alles funktioniert. Manches lernt man ja noch in der Schule, aber auch nicht im Detail. Man gewöhnt sich an solche Dinge einfach, so etwas normalisiert sich sehr schnell."
„Um noch einmal auf vorhin zurückzukommen: Für dich ist es normal, dass Menschen den Mond betreten können?"
„Bis zu einem gewissen Grad schon. Klar, wenn man mal so darüber nachdenkt, ist es schon ein kleines Wunder, aber das ist nicht mehr die Weltsensation."

Er schüttelt den Kopf und überlegt wohl gerade, ob ich ihm völligen Quatsch erzähle, oder ob er an Halluzinationen leidet.
„Eigentlich sollte ich dir solche Dinge wohl gar nicht erzählen, wer weiß was sich dadurch alles verändern kann. Ich gehe jetzt mal davon aus, dass du im eigenen Interesse nichts davon weitersagst, denn hier würde dich wohl jeder für verrückt erklären, aber ich bitte dich jetzt trotzdem darum: Sag so etwas nicht weiter. Und noch besser: Lass dich dadurch nicht irgendwie beeinflussen. Zum Glück lebst du wohl nicht nah genug an der Mondlandung dran, als dass du etwas groß verändern könntest, aber man kann ja nie wissen."

„Keine Sorge, ich möchte nicht den Rest meines Lebens in einer Anstalt verbringen und habe nicht vor, selber zu versuchen zum Mond zu fliegen -was mit den jetzigen Mitteln vermutlich sowieso unmöglich wäre. Zufrieden?" Ein wenig beruhigter nicke ich und wir konzentrieren uns auf das Momentane Hier und Jetzt.

„Okay, Themenwechsel: Wie willst du es schaffen, mich da oben einzuschleusen? Wer sagt, dass sie ein Dienstmädchen brauchen?"
„Ich habe einen Bekannten, dessen Vetter dort als Gärtner eingestellt ist. Und zufälligerweise schuldet mir dieser Bekannter noch einen Gefallen. Was noch hinzu kommt: Besagter Vetter arbeitet da nur, weil er gut bezahlt wird. Dem ist das Wort Loyalität ein Fremdwort, seit sie ihm wegen kleinsten Missgeschicken mit Kündigungen oder Lohnabzug drohen."
„Vettern und Bekannte hin oder her, wie komme ich da jetzt rein?"
„Ich habe meinen Gefallen vor geraumer Zeit bereits eingefordert und werde schon seit Monaten auf dem Laufenden gehalten."
„Wieso?"
„Ich habe doch bereits gesagt, dass es einige seltsame Überschneidungen gibt. Ich kann mich dort unmöglich blicken lassen, ich würde erkannt werden und konnte bis jetzt nicht selbst nachrecherchieren. Dem Vetter konnte ich auch keinen genauen Auftrag geben, er ist nicht die die ganze Sache eingeweiht."
„Das heißt du hast gehofft, ihm würden per Zufall irgendwelche Dinge auffallen, die dir weiterhelfen?"
„Exakt."
„Dir ist schon klar, dass ein solcher Auftrag dezent seltsam rüberkommt? Ich meine, unter welchem Vorwand hast du dem das bitte nachvollziehbar verkauft?"

Carl verzieht das Gesicht und schüttelt abwehrend den Kopf.
„Na, so schlimm?", frage ich belustigt.
„Schlimmer.", grummelt er, während er sichtlich die Zähne zusammenbeißt.
„Hm?"
„Na was wohl, ich habe ihn auf Amalia angesetzt, unter welchem Vorwand kannst du dir ja wohl noch denken."
Wieder einmal komme ich nicht umhin zu denken, dass da mehr ist als er zu gibt, denn sein Tonfall ist wirklich ungerechtfertigt pampig, abgesehen von der abweisenden Haltung, die er auf einmal zur Schau stellt.

Ohne weiter darauf einzugehen, spinne ich den Plan weiter: „Das heißt, über deine Bekannten ist dir zu Ohren gekommen, dass die ein Dienstmädchen suchen?"
„So ähnlich."
„Meine Güte, jetzt sei doch so liebenswürdig und lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen." Tatsächlich bequemt er sich daraufhin den Mund auf zu machen, wobei sein Gesichtsausdruck von Sekunde zu Sekunde zerknirschter und meine immer fassungsloser wird.

Als er fertig erzählt hat, bin ich einen Moment sprachlos, bevor ich ihn mit einem wütenden „Ihr habt was gemacht?" anfauche.
„Lass mich das kurz zusammenfassen: Ihr habt ein Feuer gelegt, in einem Zimmer oben im Schloss, in dem jemand drin war, wohl wissend, dass das total gefährlich für sie ist und sie, falls sie überhaupt überlebt, für alle die Schuldige sein wird und dieses Mädchen ist jetzt zwar noch am Leben, sitzt aber im Prinzip auf der Straße?
Ist dir klar was das bedeutet? Sie hätte sterben können, schlimmer noch, jetzt hat sie ihre Arbeitsstelle verloren! Nee shit, andersherum. Scheißegal, seid ihr denn völlig bescheuert?! Was habt ihr an der Stelle, wo andere Menschen ein Gehirn haben? Watte?
Moral? Das Wort habt ihr wohl noch nie gehört.
Anstand? Was soll das denn sein?
Mitgefühl? Nee, mit Watte im Kopf kommen wohl auch sowas wie Gefühle abhanden!?"

Wutschnaubend reiße ich dir Gartentüre auf und will sie eigentlich direkt hinter mir wieder zuknallen, doch da steht leider so ein lästiges, männliches Individuum im Weg.
Problemlösung: Ihm die Tür gegen das Schienbein donnern, um mich abzuregen.

„Ahh, spinnst du?", ruft er entgeistert.
„Nein, aber du!", schreie ich ihn an. „Was dachtest du denn? Das ich dir zu deinem gelungenen „Lass mal eben Lebensgrundlage von irgendjemandem zerstören, weil's einfacher für uns ist" gratuliere? Irgendwas stimmt mit meiner Menschenkenntnis nicht, muss kaputt sein, ich dachte in den letzten paar Tagen eigentlich, du seist doch ein ganz netter Mensch."

„Mir ist klar, dass das auf manche vielleicht hart wirken mag Aber es ist zum Wohle der Allgemeinheit, das Schicksal des Einzelnen ist hierbei nicht wi..." Bevor er auch nur daran denken kann, diesen Satz zu beenden, unterbreche ich ihn, doppelt so laut wie zuvor. „Wer hat dir denn dein Gehirn zermatscht?"

„Ich dachte ich habe kein Gehirn, sondern nur Watte da oben?", fragt er sarkastisch und in dem Moment ich überlege kurz, ob es moralisch verwerflich wäre, seinen Kopf gegen die nächstbeste Hauswand zu rammen.
„Sei. Einfach. Leise. Du bist ja völlig verrückt geworden, du Fanatiker.", zische ich und entscheide mich stattdessen dafür, in mit Blicken zu erdolchen, bevor ich mich an ihm vorbei dränge, das Gartentürchen wieder öffne und hindurchlaufe.

„Alexandra, wo willst du denn hin?", ruft er mir und fängt an mir hinterher zu laufen. Ich gebe ihm keine Antwort, laufe noch schneller und renne schließlich.
Dennoch holte er mich kurz vor dem Marktplatz ein und will mich am Arm packen, doch ich drehe mich um und fauche, ich würde um Hilfe schreien, wenn er mich nicht sofort losließe. Da ihm klar ist, wie das aussähe und als was er dann dastehen würde, lässt er von mir ab.

Ich bin gleichzeitig schockiert und enttäuscht von ihm und frage mich, wie weit er noch gehen würde.
Es gibt immer eine andere Möglichkeit und auch wenn es vielleicht schwieriger geworden wäre, hätten wir sicherlich etwas gefunden.
Aber jetzt ist es sowieso zu spät und ich kann entweder auf eigene Faust weiter machen, oder... Nee, kein „oder"!

Dieser verdammte Idiot kann gut und gerne auf meine Mithilfe verzichten und wenn der werte Pessimist meint, ich könne das nicht alleine schaffen, dann liegt er schlichtweg falsch, so einfach ist das!
Das es wohl nicht ganz so einfach ist, will ich mir in diesem Moment nicht eingestehen, ich brauche mich ja nicht auch noch selber zu entmutigen!

Meine einzige Möglichkeit ist eigentlich, wieder hoch zum Schloss zu gehen und hoffen, dass ich mich wieder in der Sattelkammer einquartieren kann.
Aber was dann?

Wieder einmal bin ich viel zu spät in dieser Stadt unterwegs und wieder muss ich dabei auch noch durch den Wald, aber in meinem aufgebrachten Zustand, wäre ich für jeden Meuchelmörder zur Gefahr geworden.

Dieses Mal habe ich kein Glück, alles ist fest verschlossen, daher bleibt mir nichts anderes übrig, als mir eine Ecke zu suchen, die wenigsten ein bisschen windgeschützt ist.
Der Wind rauscht durch die Bäume, im Herrenhaus ist entweder niemand mehr wach, oder sie haben verlernt, wie man Kerzen gebraucht und alle paar Sekunden knackt irgendwo ein Ast. Immer mal wieder schallt der Ruf eines Käuzchens durch die Nacht und obwohl ich inzwischen nicht mehr glaube, dass diese unheimlichen Geräusche von irgendwelchen Gespenstern kommen, fügt sich das alles zu einer Geräuschkulisse zusammen, die nicht gerade behaglich ist. 

Einschlafen hätte ich wohl sowieso nicht können, dafür bin ich immer noch viel zu aufgekratzt, aber an einem weniger gruseligen Ort ein bisschen auszuruhen, wäre ja wohl nicht zu viel verlangt gewesen!

Ich halte mich eigentlich nicht für einen ängstlichen Menschen, aber im Moment traue ich mich nicht einmal die Augen zu schließen – als ob ich bei dieser Dunkelheit mit offenen Augen auch nur irgendwas erkennen könnte.

Allein schon um mich abzulenken, fange ich an nachzudenken. Was sind Fakten, was sind Vermutungen, was ist Blödsinn und was hilft mir jetzt weiter?
Fakt ist, dass ich hier bin.
Fakt ist, dass ich im 19. Jahrhundert gelandet bin.
Fakt ist, dass irgendjemand damit gerechnet und Schriftrollen angefertigt hat.
Fakt ist, dass Carl ein Idiot ist!

Wir vermuten, dass in nicht allzu ferner Zukunft etwas passieren könnte, das ziemlich schlimme Folgen haben könnte.
Besser gesagt, Carl hat dies vermutet.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hat er mir nie eine Begründung dafür geliefert, scheinbar um mich nicht noch mehr zu belasten, aber ich fange an, misstrauisch zu werden. Denn das ist nicht das erste Mal, dass er mir keine Erklärung gegeben hat. 

Um genau zu sein, weiß ich so gut wie nichts. Er hat immer nur vage Andeutungen gemacht, die auf den ersten Blick vielleicht wie Erklärungen wirken, mich jetzt aber kein Stück weiterbringen. Wieso wollte er sich von Anfang an im Anwesen umsehen? Wir sind schließlich alle Schriftrollen noch einmal durchgegangen und da wurde das Grundstück mit keinem Wort erwähnt. 

Es sei denn... es sei denn er hat Rollen verschwinden lassen.
Aber wieso sollte er das tun? Was hätte er davon? Und wieso sollte dann ausgerechnet er mir von jenen Hinweisen berichten?
Das macht doch alles überhaupt keinen Sinn!

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Situationen fallen mir ein, in denen ich hätte stutzig werden sollen.
Wer sind die angeblichen Feinde, von denen er mir erzählt hat?
Wieso hat er mich zuerst von eine von ihnen gehalten?
Schließlich fällt mir auch unser erster Besuch bei Martin wieder ein. Denn wieso um alles in der Welt wusste dieser, wie ich heiße? Das hat zwar nicht direkt etwas mit Carl zu tun, aber ihm würde ich inzwischen wer weiß was zutrauen.


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