Kapitel 6
Ein paar Sekunden lang starren wir uns einfach nur an und mustern uns gegenseitig angespannt. Ich könnte einfach hinausgehen und ihn hier stehen lassen, aber inzwischen glaube ich, dass er der Einzige ist der mir sagen kann, was hier los ist.
Also warte ich ab bis er schließlich anfängt zu sprechen.
„Ich gehe jetzt mal davon aus, dass die Chancen, dass du freiwillig mitkommst äußerst gering sind. Allerdings hätten wir dieses ganze Theater schon hinter uns, wenn gestern alles nach Plan gelaufen wäre. Aber du musstest ja unbedingt rebellieren!"
Bei dem Satz verliere ich eindeutig die Beherrschung.
Spinnt der eigentlich komplett?
„Natürlich, es ist also meine Schuld von dir verfolgt zu werden, weil ich, nachdem du mich ohne ersichtlichen Grund in irgendeinen Keller gesperrt hast, die Frechheit begangen habe einfach abzuhauen? Ich muss schon sagen, das war ja direkt unverschämt von mir. Also nein, die Chancen das ich freiwillig mitkomme sind nicht „äußerst gering", sie sind non existent!"
„Das dachte ich mir schon.", erwidert er, von meinem kleinen Ausbruch scheinbar völlig unbeeindruckt.
„Allerdings wissen wir beide, dass ich weder zulassen kann, noch werde, dass hier irgendjemand den Plan sabotiert -besonders wenn du dieser Jemand bist. Wir werden einen zeitlichen Verlust auf Grund deiner Kontrollsucht nicht tolerieren!"
„Entschuldige mal? Du kennst mich nicht! Wieso duzen wir uns überhaupt, das ist ja lächerlich! Ich habe keine Ahnung von welchem Plan Sie reden oder was für Wahnvorstellungen Sie haben, ich weiß höchstens, dass Sie völlig verrückt sind.", empöre ich mich und füge noch hinzu: „Wenn Sie mich nun entschuldigen würden? Ich suche die nächste Psychiatrie auf und lasse Sie einweisen -ganz ohne Zeitverlust, aber hoffentlich mit viel Kontrolle!"
Ich dränge mich an ihm vorbei und will gerade die Türe öffnen, da schiebt er sich vor mich und versperrt mir den Weg.
„Entweder sind Sie eine ausgesprochen gute Schauspielerin und glauben Sie mir, dann werden Sie das bereuen oder Sie wissen tatsächlich nichts, dann wäre spätestens jetzt der Zeitpunkt es zu sagen."
Auf einmal klingt er wesentlich misstrauischer und wirft einen schnellen Blick hinüber zum Tresen.
Als ich seinem Blick folge bemerke ich, dass dort inzwischen wieder der alte Mann steht und uns belustigt mustert.
„Na, na Carl. So langsam solltest du doch gemerkt haben, dass sie von nichts weiß. Es gab wirklich genügend Anzeichen!"
Aha, das Zylinder Mysterium heißt also Carl. „Anscheinend gibt es hier auch noch vernünftige Leute.", sage ich mit einem vielsagenden Blick in seine Richtung.
Ohne darauf einzugehen erwidert er: „Sie haben mir meine Frage noch immer nicht beantwortet. Also? Was. Wissen. Sie?"
Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass ich überhaupt nichts mehr weiß und so langsam auch lieber gar nichts mehr wissen würde, weil eine Erfahrung verwirrender oder erschreckender als die Nächste ist, aber ich kann im Moment keinen zusammenhängenden Satz formulieren.
Was zu viel ist, ist zu viel.
Wieso hat er schon wieder mit Zeit angefangen?
Oder davon, dass ich es bereuen könnte, weil „wir es nicht zulassen".
Erstens: Was bereuen?
Zweitens: Wer sind „Wir"?
Drittens: Was nicht zulassen?
„Jetzt reicht es aber! Musst du sie so drängen? Du siehst doch wie fertig sie ist.", mischt sich der Mann erneut ein.
Carl -„Zylinder Mysterium" hat mir besser gefallen- dreht sich um und sagt sichtlich genervt: „Ist ja gut! Dann bleibt sie hier, mit deinen wunderbar diplomatischen Fähigkeiten kannst du ihr ja sicherlich alles erklären, oder vielleicht lieber umgekehrt? Ich bin ja nach wie vor der Meinung sie sollte eine Menge erklären aber bitte, mach wie du denkst! Ich besorg uns was zu Essen."
Und weg ist er, bevor ich das Gesagte auch nur annähernd hätte verarbeiten können.
Langsam drehe ich mich zu dem alten Mann um, unsicher was ich jetzt machen soll.
Woher soll ich wissen ob ich ihm vertrauen kann?
Doch er lächelt mir gutmütig zu, verschwindet erneut hinten im Laden und einen Moment später höre ich das Pfeifen eines Wasserkessels.
Kurz darauf kommt er mit zwei Tassen und einer Kanne Tee zurück, platziert diese auf einem kleinen Tischchen welches mir bis jetzt noch nicht aufgefallen ist und schiebt zwei sehr gemütlich aussehende Sessel heran.
Dann schenkt er uns beiden ein und bedeutet mir, mich zu setzen. Ich lasse mich in die weichen Polster senken, entspanne mich ein wenig, bin aber dennoch auf der Hut.
„Ich kann nur erahnen wie du dich gerade fühlst. Ich darf doch du sagen?", fängt er an.
Ich nicke und er fährt fort „Das alles muss erschreckend verwirrend sein und da ich ihm Gegensatz zu Carl fest davon überzeugt bin, dass irgendetwas schiefgelaufen sein muss und du nichts weißt, müssen wir dich offensichtlich einweihen. Aber du verstehst sicherlich das wir auch aufpassen müssen, ich bitte dich also mir einige Fragen zu beantworten um sicher zu gehen."
„Okaay?" erwidere ich unschlüssig, denn ich habe keine Ahnung was jetzt kommt.
„Woher kommst du?", fängt er direkt an.
„Sie meinen aus welcher Stadt?"
„Nein.", antwortet er bloß.
Ich warte, dass noch etwas kommt, aber er sieht mich nur erwartungsvoll an.
Ich bin versucht ihn zu fragen, ob er meint aus welcher Zeit ich komme, aber falls das hier so etwas wie ein riesengroßes Missverständnis sein sollte, wäre es wohl nicht geraten bei den falschen Personen mit etwaigen Zeitreisen zu kommen.
Also umgehe ich die Frage einigermaßen geschickt, indem ich frage, ob er meint wann ich geboren sei.
Er nickt und ich nenne ihm vorsichtshalber nur den Tag und den Monat, die Jahreszahl lasse ich erst einmal weg.
Als er nachhakt in welchem Jahr ich geboren sei, antworte ich nur mit einem knappen:
„Ich bin 16 Jahre alt."
Daraufhin nickt er zufrieden und irgendwie beschleicht mich das Gefühl, das hier ist so etwas wie ein Test gewesen, den ich augenscheinlich bestanden habe.
Dann macht er eine Kopfbewegung hinüber zur Wand und ich entdecke einen Kalender. „Würdest du mir bitte sagen, was dort ganz oben steht?", fragt er und in dem Moment weiß ich ganz genau worauf er hinauswill.
Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich erfahren möchte stehe ich auf, laufe hinüber und werfe vorsichtig einen Blick auf die Zahl.
Eine Eins.
Dann eine Acht.
Eine Sechs, gefolgt von einer Vier.
1864.
Da ich seltsamerweise nicht eine Sekunde an der Echtheit des Kalenders zweifle, braucht dessen Bedeutung eine ganze Weile um bei mir anzukommen.
Ich stehe wie paralysiert da und starre die Ziffern an. Ich traue mich gar nicht über das gesamte Ausmaß dieser Jahreszahl nachzudenken. Alles in mir schreit mich an, dass das nicht sein kann, aber ich ignoriere die Stimmen.
Es ist zu viel passiert als dass ich einfach so tun könnte, als wäre das irgendein Hirngespinst.
Ich drehe mich wieder zu dem Mann herum, welcher mich aufmerksam beobachtet. Wahrscheinlich hat er damit gerechnet ich würde in Ohnmacht fallen, aber ich gebe mich einigermaßen gefasst.
„Nicht ganz was du erwartest hast, oder?", fragt er vorsichtig.
„Doch", antworte ich mit einigermaßen fester Stimme, „Ziemlich genau was ich insgeheim erwartet habe."
Und in dem Moment in dem ich es ausspreche, weiß ich, dass es wahr ist. Es ist manchmal unglaublich schwer Verstand und Gefühl zu trennen, besonders wenn sich diese im Widerspruch befinden, aber hätte ich mich nur auf mich selbst und mein Empfinden verlassen, wüsste ich es längst.
Trotzdem macht mir der bloße Gedanke an die Wahrheit Angst.
„Ich nehme an du hast eine Menge Fragen?", setzt der Mann nach einer Weile das Gespräch fort „Wie ist das möglich?", fange ich mit der Frage an, die ich mir stelle seit ich hier bin, doch er schüttelt nur bedauernd den Kopf.
„Mir ist klar, dass das die Frage ist, die dich am brennendsten interessiert, aber leider kann ich dir ausgerechnet die nicht beantworten, zumindest nicht genau. Ich bin nicht direkt eingeweiht, ich helfe nur mit. Frag Carl, wenn er wieder zurückkommt, er kann es dir besser erklären."
Das wirft nur noch mehr Fragen auf und ich hake nach:
„Er kann mir was besser erklären? Und in was sind Sie nicht eingeweiht?"
Abermals schüttelt der Mann nur bedauernd den Kopf und zähneknirschend nehme ich meine Teetasse in die Hand um irgendetwas zu tun zu haben.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis Carl wieder erscheint, aber immerhin haben ich und Martin, Nachname Hofer, so heißt der Mann nämlich, die Zeit wenigstens einigermaßen sinnvoll genutzt und ein Gespräch begonnen.
Mal abgesehen davon, dass Herr Hofer mir ein wenig über die Stadt berichtet hat, habe ich eigentlich gedacht er wäre der Vernünftige in der Runde, denn manche Dinge waren echt total hilfreich -so viel zum Thema „wunderbar diplomatische Fähigkeiten".
Zum Beispiel die ganzen kryptischen Andeutungen die verdächtig nach Weltuntergang klangen, der psychologischen Test dem ich unterzogen wurde -so hat es sich zumindest angefühlt- im Sinne von „Na, was hast sonst so du für schwerwiegende Probleme im Leben, wie geht es dir mental, was war dein größter Verlust im Leben, trinkst du deinen Tee mit Milch oder mit Zucker, planst du gerade ein Verbrechen, vertraue niemandem?!" und natürlich der mehrmals wiederholte Satz nach sämtlicher meiner völlig verwirrten Antworten:
„Ich habe es geahnt, das kann ja nur schief gehen, ohje, ohje...".
Um meine psychische Verfassung also mal kurz zusammenzufassen:
Was. Zur. Hölle?
Irgendwann scheint ihm aufzufallen, dass ich ihn anstarre wie ein Reh im Scheinwerferlicht und er unterbricht sich mitten im, nun schon zum siebten Mal wiederholtem, oben genanntem Satz. Er lächelt entschuldigend und meint etwas zerknirscht: „Ich entschuldige mich in aller Form, manchmal geht meine Fantasie einfach ein wenig mit mir durch. Eigentlich wollte ich dich nur auf das vorbereiten was da noch so auf dich zukommt, denn du solltest dich wirklich auf was gefasst machen, was da so alles passieren kann, schlimmer geht es eigentlich nicht mehr, zum Beispiel...", abermals unterbricht er sich, diesmal noch zerknirschter und fährt nach einigen Sekunden fort, „Nun, so mache ich es wohl nicht gerade besser?"
Ich schüttle bloß ziemlich fassungslos den Kopf und verkrieche mich so gut es geht hinter meiner Teetasse, was natürlich überhaupt nicht gut geht.
Was sind das hier bitte alles für komische Vögel?
Danke liebes Schicksal, katapultiere mich halt quer durch die Zeit, zerknautsche meine Weltanschauung komplett und streiche das Wort „Unmöglich" aus meinem Wortschatz, aber könnte ich dann wenigsten bei Leuten landen die nicht gerade den größten Dachschaden haben?
In dem Moment geht die Tür wieder auf und Carl tritt mit einer ziemlich großen Brottüte herein. Als er meinen Blick auffängt zieht er spöttisch eine Augenbraue hoch, schaut zwischen mir und Martin hin und her bevor er an denselben gewandt sagt: „Achja, aber ich soll sie fertig gemacht haben, hm?".
Man sieht mir wohl an, dass die letzten paar Minuten eigentlich alles nur verschlimmert haben.
„Also", fange ich an „Was, um alles in der Welt. Ist. Hier. Los?"
Martin schaut Carl auffordernd an, doch der braucht auf einmal verdächtig lange um sich hinzusetzen, dann legt er seinen Mantel ab, öffnet in aller Ruhe die Tüte, steht noch einmal auf und holt irgendwo aus dem Hinterraum ein Messer, schneidet das Brot an und fängt genüsslich an zu essen, bevor er noch einmal aufsteht und sich ebenfalls eine Tasse holt, er schenkt sich ein und...
Und dann verliere ich endgültig die Geduld.
Es ist klar, dass er das nur macht um mich buchstäblich in den Wahnsinn zu treiben, was allein schon sein schlecht verborgenes, selbstgefälliges Grinsen beweist.
Ich mache kurzen Prozess, schnappe mir die Teekanne die auf dem Tisch steht und schütte ihm kurzerhand den gesamten Inhalt über seine Hose -der Tee ist kochend heiß? Umso besser!
„Ahh! Sag mal spinnst du jetzt völlig?", ruft er entgeistert und flüchtet mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Küche um sich kaltes Wasser zu holen.
Als er tropfnass wieder zurückkommt, kommen schon kleine, imaginäre Rauchwölkchen aus seinen Ohren und er zischt wutentbrannt: „Leg es nicht darauf an, dich mit mir anzulegen!"
Er überragt mich um mindestens einen Kopf aber ich bleibe unbeeindruckt stehen. „So? Das Letzte mal hat es doch auch ganz gut funktioniert! Ich bin schließlich nicht im Matsch gelandet und war auch nicht so blöd mich entkommen zu lassen."
Jetzt bin ich es die selbstsicher lächelt, wahrscheinlich selbstsicherer als ich mich in Wirklichkeit fühle, aber das braucht er ja nicht zu wissen.
Er schnaubt bloß, aber als er sich wieder hinsetzt fängt er endlich an zu Reden.
„Was hat Martin dir schon alles erzählt?", fragt er mich als Erstes.
„Nichts, was glaubst du wieso ich so ungeduldig bin? Denn auch wenn es dich überraschen mag, ich bemühe mich normalerweise meine Mitmenschen nicht mit Pfefferminztee zu ertränken, es sei denn ist unbedingt notwendig."
„Kamille." Erwidert er nur.
„Was?", frage ich, ziemlich aus dem Konzept gebracht.
„Kamillentee. Einen Geschmackssinn hast du offenbar auch nicht.", sagt er seelenruhig.
Ich bin einen Moment lang fassungslos über das Ausmaß seiner Ignoranz und verspüre das dringende Bedürfnis ihm meine Tasse ins Gesicht zu pfeffern, aber ich bin unfähig mich zu rühren, aufgrund von zu viel Idiotie.
Wie kann ein einziger Mensch von so viel Blödheit umgeben sein?
Ziemlich wortwörtlich sage ich ihm das auch so, bevor ich ihn anfauche er hat mir jetzt gefälligst sofort zu sagen was hier los ist, sonst mache ich Ernst mit der Tasse.
Es war wohl eher nicht mein Kleiner Wutanfall, als das ziemliche strenge Zurechtweisen von Martin was ihn schließlich dazu bringt, mir endlich mehr zu erzählen.
Als er fertig ist bin ich so verwirrt wie nie zuvor und in Anbetracht der Tatsache, dass in den letzten Tagen so einige unerklärliche Dinge passiert sind, ist das wirklich beachtlich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top