Kapitel 4

Ich wache auf als ich eine Tür zuschlagen höre und Schritte näherkommen. Noch völlig verschlafen kauere ich mich hinter meinem Heuhaufen zusammen und bin kurz davor wieder einzuschlafen. Bis auch hier die Tür aufgeht, eine Person den Raum durchquert und man kurz darauf Wasser plätschern hört.
Wer auch immer das ist, ist also nebenan im Raum mit dem einsamen Waschbecken.

Nebenan!

Es dauert bestimmt nicht lange bis man mich hier findet, es ist nicht gerade das beste Versteck, weshalb ich möglichst leise aufstehe, die Decke und den Rest vom Essen mitnehme und durch das Fenster nach draußen gelange.

Keine Sekunde zu spät denn kaum, dass ich draußen stehe schnappt sich die Person eine Heugabel und fängt an die Boxen einzustreuen. Ich fühle mich ehrlich wie ein Einbrecher und streng genommen bin ich das ja auch, aber im Moment gibt es wirklich keine andere Möglichkeit.

Ich beschließe, mir noch ein wenig die Stadt anzuschauen und eventuell zu versuchen das Anwesen hier näher zu inspizieren.

Doch da ich dieses Mal fest entschlossen bin, mir den Umweg über die Felswand und den Wald zu sparen und stattdessen die Straße zu benutzen, dauert es eine ganze Weile bis weit und breit niemand mehr zu sehen oder zu hören ist.

Diese Weile nutze ich, um mir Gedanken darüber zu machen wie es jetzt weiter geht.
Es ist klar, dass der Stall nur eine vorübergehende Lösung ist, früher oder später werde ich sicherlich entdeckt. Aber wohin mit mir? Die vernünftigste Lösung scheint mir, mir irgendeine Arbeitsstelle zu suchen um über die Runden zu kommen.

Auf einmal fällt mir ein anderes, wesentlich komplizierteres Problem ein:

Streng genommen darf ich hier nicht existieren.
Nichts verändern.
Ich darf nicht auffallen.
Jede noch so kleine Handlung meinerseits, könnte bereits Veränderungen in der Zukunft auslösen, oder?
Das wäre verheerend!

Angenommen ich laufe gegen eine Person, wegen den wenigen Sekunden der Verzögerung läuft sie später über irgendeine Straße als es eigentlich sonst wäre, eine Kutsche kommt und die Person wird überfahren.
Alles was ich mache könnte zu völlig anderen Konstellationen führen. Menschen könnten sterben, andere würden geboren werden, letzten Endes könnte sogar Krieg oder eine neue Seuche ausbrechen oder so!

Und das klingt jetzt irgendwie sehr viel größenwahnsinniger als beabsichtigt...

Aber reintheoretisch ist mein Gedankengang ja gar nicht so falsch, auch wenn ich momentan definitiv nicht genügend Gehirnzellen für solche Überlegungen habe.

So gut es geht schiebe ich sämtliche Quantenphysikalischen Theorien kurzerhand beiseite und mache mich auf den Weg in die Stadt.

Die Straße ist gepflastert und hier und da von Bäumen gesäumt und tatsächlich bin ich wesentlich schneller in der Stadt.

Und jetzt?
Na ja, solange ich unauffällig bleibe kann ja nichts passieren.

Nachdem ich von mindestens einem Dutzend Leute komisch angestarrt wurde, schminke ich mir meinen „Ich-existiere-nicht-weil-unsichtbar" Vorsatz ganz schnell wieder ab, denn wenn man sich mit komischem Gesichtsausdruck geduckt im Schatten der Häuser entlangschiebt, entspricht das wohl nicht ganz dem hier herrschenden Verständnis von unauffällig.

Also achte ich nur noch darauf niemandem in den Weg zu laufen und auch sonst so unbeteiligt wie möglich zu tun.

Als das Starren und Geflüster immer noch nicht aufhört, geht mir ein Licht auf:
Meine Kleidung!

Die Frau in der Bäckerei hat, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ja auch gedacht, ich käme geradewegs vom Mars heruntergeschwebt.
Klar, Jeans sind hier wohl nicht so alltäglich.

Also ist jetzt Punkt 1 auf der nicht vorhandenen To-Do Liste mir irgendwie neue Kleidung zu beschaffen.

Wie?
Absolut keine Ahnung!

Fürs erste muss ich mich dann wohl mit meiner neu angedichteten Existenz als Marsmännchen abfinden.

Ich schlendere ein wenig ziellos durch Stadt und versuche mir einen kleinen Überblick zu verschaffen. Glücklicherweise sind so gut wie alle Geschäfte um den Marktplatz herum angeordnet oder wenigstens in der Nähe. Von dort zweigen dann etliche Straßen ab, in denen fast nur Wohnhäuser stehen.

Sonderlich kompliziert hat der Stadtplaner hier anscheinend nicht gedacht.
Auch gut.

Verstohlen fange ich an, die Menschen um mich herum zu beobachten. Viele Frauen mittleren Alters laufen mit ihren Körben hektisch von einem Geschäft ins nächste und kaufen wohl für das Mittagessen ein, während sich einige ältere Damen in den Schatten eines Baumes zurückgezogen haben und sich offensichtlich angeregt unterhalten.

Ansonsten spielen nur noch ein paar kleine Kinder mit einer ziemlich ramponierten Puppe auf der Straße.
Vorhin habe ich noch mehrere junge Männer in relativ abgewetzter Kleidung in Richtung eines großen Gebäudes hetzen sehen, vermutlich eine Fabrik oder ähnliches.
Auch wenn wahrscheinlich niemand wirklich Hunger leiden muss, sind die meisten Menschen hier doch eher arm.

Es gibt allerdings auch Ausnahmen, wie der Herr der gerade in Richtung Rathaus stapft.
Er ist bestimmt schon um die sechzig, ziemlich rundlich und blickt nicht gerade freundlich drein. Seine Kleidung macht deutlich, dass er finanziell wohl nicht gerade schlecht dasteht.
Irgendwann haben die alten Damen ihr Kaffeekränzchen beendet, die Frauen sind mit dem Abarbeiten ihrer Einkaufsliste fertig und den Kindern ist es auf der Straße wohl zu langweilig geworden, denn im Moment wirkt die Stadt wie ausgestorben und ich weiß nichts mehr mit mir anzufangen. 

Ich schlendere noch ein wenig umher und betrachte die verschiedenen Geschäfte, wenn auch aus sicherer Entfernung.
Bis auf die Bäckerei gibt es noch mehrere Drogerien, eine Buchhandlung, sowie eine Weinhandlung und sogar ein Geschäft welches allerlei technischen Schnickschnack, vor allem aber etwas wie Fahrräder zu verkaufen scheint.

Die ersten Fahrräder wurden bereits in den 1820ern oder so verkauft, laut einer Doku die ich geschaut habe, als ich noch friedlich im 21. Jahrhundert vor mich hingedümpelt bin.

Die Drahtesel die hier verkauft werden sehen unseren Fahrrädern schon einigermaßen ähnlich, aber man merkt doch deutlich den Unterschied.
Dieses Geschäft sieht tatsächlich ziemlich interessant aus und kurz erwäge ich einfach hineinzugehen, aber in meinen Sachen würde ich zu sehr auffallen. 

Trotzdem, es wäre bestimmt ein guter Zeitvertreib. Durch das Schaufenster kann ich einige Nähmaschinen erspähen, meiner Meinung nach uralte Gerätschaften, aber im Moment vermutlich der letzte Schrei. Außerdem mehrere große Pendeluhren und auf einem erhöhten, mit rotem Samt ausgeschlagenen Platz thront eine wahres Metallmonster. 

Es ist groß, hat verschiedene Hebel und Ausgüsse und sieht durch und durch seltsam aus. Das Schild, welches davorsteht, weißt es doch tatsächlich als Kaffeemaschine aus!
Dieses Ding kommt wahrscheinlich geradewegs aus der Steinzeit und muss zu dieser Zeit Unmengen an Geld kosten.

Erst jetzt ist mir bewusst geworden, wie nahe ich an das Schaufenster herangetreten bin und trete schleunigst ein paar Schritte zurück.
Ich weiß genau, ich sollte die Tatsache ausnutzen, dass bis zum Mittag kaum Leute unterwegs sein werden, aber ich weiß nicht mehr weiter.

In diesem Moment -es ist fast schon filmreif wie ich erstarre- sehe ich ihn, ich bin mir ganz sicher es ist der Typ von gestern.

Ohne auf seine Umgebung zu achten hastet er an mir vorüber und verschwindet in Richtung Stadtkirche.
Ich denke nicht länger nach und folge ihm einfach, als die Glocke zwölfmal schlägt und sofort wieder reger Betrieb auf den Straßen herrscht.

Äußerst schlechter Zeitpunkt für eine Verfolgungsjagd.

Ich verliere ihn mehrmals fast, bis er endlich vor dem Rathaus zum Stehen kommt. Was will er denn da? Ich ziehe mich mehr oder minder unauffällig hinter einen Baum zurück und beobachte von dort weiterhin das Geschehen.

Nach kurzem Zögern öffnet er schwungvoll eine der Flügeltüren und tritt hinein. Kurz spiele ich mit dem Gedanken ebenfalls das Rathaus zu betreten, aber wenn ich schon mitten im Gewusel der Straßen aufgefallen bin, dann dort erst recht. Also bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten.

Und zu warten.
Und immer noch zu warten.
Und noch länger warten.
Was macht der da so lange?

Ich bin schon kurz davor aufzugeben, als er endlich wieder vor die Tür tritt und sichtbar entspannter wirkt. Nun hetzt er auch nicht mehr von A nach B, sondern spaziert vielmehr gemütlich die Straße entlang.
Kurz darauf betritt er dieselbe Bäckerei in der ich gestern gelandet bin und tritt mit einer großen Tüte wieder hinaus, bevor er weiter geht. Je weiter wir uns vom Zentrum der Stadt wegbewegen, desto leerer werden die Straßen, bis wieder so gut wie niemand zu sehen ist.

Ich vermute mal er geht wieder zurück zu sich nach Hause, die Richtung würde schonmal stimmen.
Und tatsächlich behalte ich Recht.

Ich bleibe am Anfang der Straße stehen und wende mich unschlüssig nach links und rechts.
Was soll ich jetzt machen?

Ihn bis zu seiner Haustür verfolgen? Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt, viele andere Möglichkeiten gibt es nicht.
Ich laufe noch eine Weile vor der Straße auf und ab, beschließe dann jedoch dem Fremden zu folgen, obwohl der innerliche Pessimist gerade mein Testament unterzeichnet und über Form und Farbe meines Grabsteines philosophiert.

Einen angeborenen Überlebensinstinkt scheine ich nicht zu haben, gut zu wissen!
Ich spaziere bis an das Ende der Straße und nehme das Haus noch ein wenig genauer in Augenschein.

Nach wie vor sieht es ausgesprochen hübsch und vor allem harmlos aus.

Die Straße mündet hier in einen Feldweg und führt hinaus aus der Stadt.
Große Felder und Wiesen erstrecken sich über die sanften Hügel, in der Ferne kann ich auch einen Bauernhof erkennen, sowie ein großes Waldstück dahinter.
Die Landschaft ist so kitschig idyllisch, es ist beinahe schon unwirklich.

In der Straße stehen auf jeder Seite etwa fünf oder sechs Häuser, alle mit steinerner Fassade und einem einigermaßen großen Garten.
Als ich genauer hinhöre bemerke ich schließlich auch das Klappern von Geschirr, welches aus dem Haus schräg gegenüber von mir zu kommen scheint, ein wenig weiter links lacht jemand und irgendwo spielt sogar jemand Violine.

Irgendwie beruhigen mich diese Alltagsgeräusche, so leise sie auch sind, denn sie beweisen mir, dass die Stadt nicht völlig ausgestorben ist.
Dennoch behalte ich das Haus des Zylinder Mysteriums genau im Auge, noch einmal lasse ich mich bestimmt nicht hinterrücks überfallen.

Mein eigentlicher Plan war, möglichst unentdeckt zu warten bis der Typ wieder heraus kommt und ihn dann zu verfolgen oder so.
Aber aufgrund von -wie ich jetzt leider feststellen muss- mangelnder Deckung wird das wohl eher nichts werden.

Außerdem, wer sagt denn das ich nicht längst durch eines der Fenster beobachtet werde?
Dieser Gedanke vertreibt die gerade beginnende Beruhigung binnen von Sekunden und auf einmal fühle ich mich schrecklich unwohl.
Ich nehme den Feldweg in Augenschein, welcher einfach nur geradeaus zu führen scheint, von wo ich aber hoffentlich einen einigermaßen guten Überblick über den Rand der Stadt bekommen kann. 

Nachdem ich einige Minuten gelaufen bin drehe ich mich schließlich um - und erstarre.
In dem Moment in dem ich mich umgedreht habe, ist jemand hinter einen Baum gehechtet, da gibt es keinen Zweifel.
Wie festgewachsen bleibe ich auf der Stelle stehen, unsicher was ich jetzt tun soll.
Ich kann unmöglich weiterlaufen und der Person den Rücken zukehren, das wäre viel zu gefährlich. Genauso wenig kann ich allerdings hier stehen bleiben oder gar zurück in die Stadt laufen, wenn die Person gut rennen kann wäre es ein leichtes für sie mich zu fangen. 

Langsam mache ich ein paar Schritte rückwärts, dann drehe ich mich um und renne einfach los.
Mein gesunder Menschenverstand hat sich hiermit verabschiedet, pure Panik übernimmt gerade.

Ohne langsamer zu werden drehe ich mich um und sehe, dass die Person hinter mir ebenfalls losgerannt ist und gefährlich schnell näherkommt.
Jetzt besteht kein Zweifel mehr, wer auch immer das ist hat es eindeutig auf mich abgesehen.
Der Weg macht keine Biegungen und der Wald ist noch viel zu weit entfernt, aber hier kann ich auch unmöglich bleiben, denn die Person kann wesentlich schneller rennen als ich.

Ich verlasse den Feldweg, springe hinunter in das Feld neben mir und renne direkt nach dem Aufprall weiter. Ich hatte gehofft irgendwelche Pflanzen wären schon hoch genug damit ich mich im Feld verstecken kann, aber ich werde enttäuscht.

Ist irgendwie auch logisch, dass man jetzt, Anfang März, man nichtmal den Ansatz eines Gewäches erkennt und mir bleibt nichts anderes übrig, als in halsbrecherischem Tempo weiter zu rennen.
Nicht weit entfernt von mir höre ich das laute Knirschen von Steinchen und Erde unter einem Paar Schuhe und ich weiß, auch ohne mich ein weiteres Mal umzudrehen, dass die Person nun ebenfalls hier hinuntergesprungen sein muss.

Mein Herz rast, ich schnappe förmlich nach Luft, aber ich kann nicht sagen ob das vor Angst oder vom anhaltenden Laufen so ist.
Was ich allerdings ganz genau sagen kann ist, dass ich nicht mehr lange durchhalte, obwohl ich eigentlich eher noch schneller sein müsste um zu entkommen.

Die Geräusche hinter mir werden kommen immer näher und als ich es schließlich doch wage mich umzudrehen, ist die Person keine drei Meter mehr hinter mir.

Ich schreie erschrocken auf, mache einen Satz nach hinten und rase weiter. Dann bleibe ich abrupt stehen und schlage einen Haken nach rechts.
Den Verfolger konnte ich in der Zwischenzeit als Mann identifizieren und ich könnte wetten es ist tatsächlich das Zylinder Mysterium, ohne Zylinder und Mantel, jedenfalls hat er das wohl nicht kommen sehen und bremst zu spät ab.
Der Vorsprung ist minimal, aber immerhin habe ich nun wieder etwas Abstand gewonnen. 

Auch wenn der Stadtrand nun nicht mehr weit entfernt ist, habe ich so meine Zweifel ob ich es bis dahin schaffe. Vorhin wurde ich ja auch innerhalb von wenigen Sekunden eingeholt.
Der Gedanke animiert mich dazu, noch einmal alles zu geben, doch inzwischen bekomme ich im Prinzip gar keine Luft mehr und das Brennen in meinen Muskeln nimmt immer mehr zu.
In diesem Moment höre ich hinter mir einen dumpfen Aufprall und drehe mich um. 

Die Situation ist so seltsam, dass ich automatisch laut auflache, bevor ich mich zusammenreiße und nun etwas langsamer zurücklaufe als zuvor.

Wer hätte gedacht, dass unser Zylinder Mysterium zwar ausgesprochen gut rennen kann, aber nicht in der Lage ist über einen Acker zu laufen ohne der Länge nach hinzufallen?

Mit dem Gesicht voran im Matsch gelandet, nicht nur filmreif, sondern auch herrlich amüsant.

Ich würde mal sagen, 1:0 für mich.

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