Neun.

"When love awakens in your life, in the night of your heart, it is like the dawn breaking within you. Where before there was anonymity, now there is intimacy; where before there was fear, now there is courage; where before in your life there was awkwardness, now there is a rhythm of grace and gracefulness; where before you used to be jagged, now you are elegant and in rhythm with your self. When love awakens in your life, it is like a rebirth, a new beginning."

John O'Donohue

Januar 1978

Ruhe hatte sich wie eine Atempause über Hogwarts gelegt. Die Stimmung war immer noch gedämpft, zu viele hatten jemanden verloren und immer wieder merkte wie sehr die ermordeten, vermissten oder einfach nur nach Hause gereisten Schüler fehlten. Hogwarts schien nicht mehr das alte zu sein. Es war für sie ein Wendepunkt gewesen, ein jeder von ihnen hatte gemerkt, dass der Krieg nahe war, viel zu nah. Die Gefahr war real und es konnte jeden von ihnen treffen. Ihre Zeit in den sicheren Mauern von Hogwarts war gezählt und dann würden sie plötzlich in der wirklichen Welt sein und mussten sich den Gefahren stellen.

Aber dennoch ging das Leben unerbittlich weiter, egal ob draußen der Krieg tobte oder nicht, der Winter streckte seine eisigen Klauen weiter aus und das Schloss versank beinahe in dem ganzen Schnee, alle mussten lernen und irgendwann kehrte auch für alle ein Stück Normalität zurück.

Auf die Rumtreiber wartete der erste Vollmond des neuen Jahres und freuten sich schon auf all die Abenteuer im tief verschneiten Verbotenen Wald. Immerhin hatten sie Glück und der Vollmond fiel auf einen Freitag, so dass sie das ganze Wochenende Zeit hatten um sich auszuruhen, deshalb waren sie hibbeliger denn je. Sogar die anderen bemerkten die Unruhe der vier, aber da aus keinem etwas herauszubekommen war, ließen sie es sein. Am Ende war es sowieso nichts Unübliches die Rumtreiber so zu sehen.

Es war schon früher Nachmittag als Sirius Remus in den Krankenflügel begleitete, denn der Mond stand schon früh am Himmel. So kam es auch, dass Sirius, James und Peter noch vor dem Abendessen unter dem Schutz des Tarnumhangs aus dem Schloss schlichen.

„Irgendwie war das einfacher als wir kleiner waren", flüsterte James als er zum fünften Mal gegen Sirius rannte, weil sie so dicht gedrängt gehen mussten.

„Klappe", zischte Sirius. „Was kann ich dafür, dass du so viel isst."

„Ich esse gar nicht zu viel", verteidigte James sich leise. „Ich habe einen gesunden Appetit. Außerdem spiele ich Quidditch und du isst mehr als ich."

„Jajaja, das ist jetzt unwichtig", winkte Sirius ab und zog seinen Zauberstab hervor um ihre Spuren im Schnee zu verwischen.

„War ja klar, dass du jetzt dem Thema ausweichst", beschwerte sich James mürrisch.

Peter seufzte, er war die Wortwechsel zwischen den beiden schon gewöhnt. „Hört auf, sonst kommen wir nie an."

Mürrisch hielt Sirius seine Klappe und nach ein paar weiteren Rangeleien und gezischten „Pass auf wo du hinläufst", kamen sie endlich an der Peitschenden Weide an. Peter verwandelte sich sofort und schlüpfte durch den Schnee zu dem Wurzelknoten der den Baum ausschaltete. Nacheinander huschten Sirius und James in die Passage hinein und klopften den Schnee von ihrer Kleidung.

„Hat Moony sich schon verwandelt?", fragte Sirius während sie dicht gedrängt am Anfang des schmalen Ganges standen.

Der Vollmond im Winter war immer ein zweischneidiges Schwert: einerseits bedeutete es, dass sie mehr Zeit für ihre Abenteuer hatten, aber andererseits ging der Vollmond für lange Zeit nicht unter, Zeit die Remus in seiner Wolfsform verbringen musste.

Ein langgezogenes Heulen beantwortete seine Frage, sofort verwandelten sich Sirius und Peter in ihre Animagusformen. James folgte ihnen sobald sie durch die Falltür am Ende des Ganges hindurch waren. Schnell liefen die vier aus der Hütte hinaus, begierig den verschneiten Wald zu erkunden. Im Schutze der dichten Kronen lag zwar nicht mehr so viel Schnee, doch es reichte immer noch um James, Sirius und Remus einsinken zu lassen.

Peter saß zwischen James Geweih und schien den Spaß seines Lebens zu haben, wenn man nach seinem Quieken urteilte.

Auch unter dem ganzen Schnee war der Wald nicht still, immer hörte James das Krachen des Schnees wenn ein Tier dort entlang lief und immer wieder fielen ganze Ladungen Schnee donnernd zu Boden. Aber trotzdem wirkte es ganz anders, einsamer und verlassener.

Für James hatte der Verbotene Wald schon immer seine ganz eigene Anziehungskraft gehabt und die Tatsache, dass der Wald voller gefährlicher Kreaturen war, hatte ihn nie abgeschreckt, sondern seine Faszinierung nur noch gesteigert. Aber vielleicht lag es auch daran, dass James einfach keine Angst vor dem Wald hatte wie so viele andere.

Er ertappte sich bei dem Gedanken daran wie Lily den Wald wohl finden würde, doch Sirius unterbrach James Gedankengänge sehr effektiv in dem er den Hirsch zu einem Wettrennen aufforderte. James konnte sich die Herausforderung natürlich nicht entgehen lassen und so rasten der Werwolf, der Hund und der Hirsch kurze Zeit später Seite an Seite zwischen den Bäumen entlang.

***

„Ist Remus wieder im Krankenflügel?", fragte Alice beim Frühstück die Jungen.

„Mhhmhm", war das einzige was James zustande brachte, trotz der drei Tassen Kaffee die er bereits hinunter gestürzt hatte.

Sirius Kopf lag auf der Tischplatte und wenn man genau hinhörte, bemerkte man sein leises Schnarchen. Nach fast sieben Jahren zusammen mit den Rumtreibern, hatten sich alle schon daran gewöhnt, dass Sirius schon mal beim Frühstück oder im Unterricht schlief, James literweise Kaffee trank und Peter das Kunststück beherrschte mit offenen Augen zu schlafen. Ab und zu sah Remus genauso müde aus, aber schaffte es dennoch immer wieder die anderen drei zu ermahnen nicht einzuschlafen, ihnen im Notfall ein paar Schläge zu verteilen und im Unterricht noch exzessiv mitzuschreiben (sein Weg um im Gegensatz zu den anderen nicht wieder einzuschlafen).

„Was habt ihr denn diese Nacht wieder für Blödsinn angestellt?", fragte Lily und beobachte misstrauisch wie James sich die vierte Tasse Kaffee einschenkte.

„Kein Blödsinn." Sirius schien aufgewacht zu sein und blickte müde in die Gegend drein. Sein schwarzes Haar, das sonst so makellos war, war strubbelig und fiel ihm ins Gesicht. „Kein Blödsinn", wiederholte er, lallend als ob er in der Nacht zu viel getrunken hätte. „Nur die allertollsten Sachen."

„Mhhhmmm", bestätigte James. „Alles in Ordnung, Lily." Er versuchte den Kopf auf seinen aufgestützten Händen legen, rutschte dabei aber ab und wäre beinahe auf seinen Teller gefallen. „Haben Remus nur ein bisschen zu lange Gesellschaft geleistet."

„Remus liegt im Krankenflügel", sagte Marlene. „Erzählt uns nicht, dass Madam Pomfrey euch erlaubt hat bei ihm zu bleiben."

Lily runzelte die Stirn. Sie wusste warum Remus fehlte und es gab keinen Weg wie die Jungen Remus in der letzten Nacht hätten Gesellschaft leisten können. Also hatten sie doch irgendwelchen Blödsinn angestellt, aber das wunderte sie jetzt nicht wirklich. Sie fragte sich wen dieses Mal der Streich treffen würde. Dabei hatte Lily gedacht, dass James so vernünftig gewesen sei und seine Freunde von jeglichen Streiche abhalten würde. Dem war anscheinend nicht so.

Marlene bekam auf ihre Frage allerdings keine Antwort, da Sirius schon wieder schlief und James in seine Kaffeetasse starrte als ob er sich daran ertränken wollen würde.

Doch nichts passierte und als nach ein paar Tagen Remus wieder zurückkehrte und immer noch niemand von einem Streich berichtete, musste sich Lily eingestehen, dass die Rumtreiber vielleicht doch keinen Blödsinn veranstaltet hatten. Lily stürzte sich wieder in die Arbeit. Auch wenn die UTZ-Prüfungen noch lange hin waren, begann sie schon mit dem Lernen und Wiederholen. Einzig Dorcas schien mit ihr mithalten zu können, während die anderen noch zu faul waren um mehr für die Schule zu tun als nötig. Die einzigen, die sie von der Arbeit weglotsen konnten, waren James und Sophia, die es auch oft genug taten.

Lilys Geburtstag am 30. Januar kam und ging, sie machte kein großes Aufheben darum und war froh, dass es die anderen auch nicht taten. Von ihren Eltern kam ein riesiges Paket, schließlich war sie jetzt auch in der Muggelwelt volljährig. Und irgendwie half so etwas auch wieder in die Normalität zurückzufinden, auch wenn es immer noch weh tat das leere Bett im Schlafsaal zu sehen. 

Es half, dass in den Wochen nach Weihnachten keine Angriffe mehr geschahen, dennoch blieben die Schulsprecher und die Lehrer immer noch wachsam, ganz so wie Dumbledore es ihnen immer wieder einschärfte. Lily fiel auf, dass Dumbledore immer öfters abends fehlte und dass sich eine gewisse Müdigkeit in die blauen Augen geschlichen hatte. Auch McGonagall fehlte an so manchen Abend und Lily musste wieder an das Gespräch zwischen Moody, Dumbledore und Charlus Potter auf der Silvesterfeier denken. Außerdem war Dumbledore einer der mächtigsten, wenn nicht sogar der mächtigste Zauberer ihrer Zeit, da war es klar, dass er ständig an die Front gerufen wurde.

James hatte wieder mit dem Quidditchtraining begonnen, sehr zum Leidwesen seiner Spieler, denn es war immer noch bitterkalt draußen und es schneite oft. Allerdings war James was Quidditch betraf unerbittlich und so sah man Woche für Woche rotgoldene Schemen durch die Luft flitzen, umgeben von Wölkchen als ihr Atem auf die kalte Luft traf. Die Gryffindors waren das erste Team, das dieses Jahr mit dem Training begonnen hatte, doch schnell zogen die anderen Teams nach. Das hatte wiederum zur Folge, dass James noch härter trainierte. Es war schließlich sein letztes Jahr hier in Hogwarts und er wollte unbedingt noch einmal den Pokal holen.

Außerdem schien er nur noch Quidditch als Thema zu kennen. Wenn Lily und er abends durch das Schloss patrouillierten, konnte er ohne Punkt und Komma die ganze Zeit von seinem Lieblingssport reden, während Lily davon nicht viel verstand. Quidditch hatte sie bis jetzt nie interessiert, sie war zwar immer zu den Spielen von Gryffindor gegangen und hatte die Mannschaft angefeuert, aber mehr auch nicht. Das letzte Mal mit einem Besen geflogen war sie in der ersten Klasse beim Flugunterricht. Für jemanden, der davor niemals geflogen war, hatte sie sich ganz ordentlich angestellt, aber Fliegen war einfach nichts für sie. Außerdem war der Gedanke nur von einem dünnen Stück Holz in der Luft gehalten zu werden, ziemlich beängstigend.

Doch als James auch den dritten Abend in Folge von Quidditch quatschte (Lily schien ihm wohl besser zuzuhören als seine Teamkameraden, denen er sowieso schon auf die Nerven ging) und Lily nicht viel verstand, hatte sie genug und ging direkt am nächsten Morgen in die Bibliothek und lieh sich „Quidditch im Wandel der Zeiten" aus, nur um James wenigstens ein bisschen zu verstehen.

Doch auch das genaue Lesen, erklärte ihr nicht, warum James und so viele andere so verrückt nach diesem Sport waren. Es war genauso wie bei den Muggeln und Fußball, das sie auch nicht verstand. Und Lily mochte es nicht, wenn sie etwas nicht verstand.

So fasste sie sich eines Tages ein Herz und fragte James was die ganzen krummen Linien und Pfeile auf dem zerknitterten Zettel bedeuteten, vor dem schon den ganzen Abend brütete und immer wieder unverständliche Sachen murmelte. Sie saßen gerade abends im Gemeinschaftsraum und Lily las eigentlich in einem Schulbuch, doch sie hatte sich immer wieder dabei ertappt wie sie James beobachtete.

Das dunkle Haar war strubbeliger als sonst, weil er so oft mit der Hand durch die Haare gefahren war und seine Brille hing ein bisschen schief. Im warmen Licht der Lampen erkannte sie, dass sich über sein markantes Kinn ein Hauch von dunklen Bartschatten zog und sein Gesicht wirkte im Zusammenspiel mit den Schatten feiner und schärfer gezeichnet. Irgendwie verstand Lily jetzt warum so viele Mädchen James als gutaussehend bezeichneten, es war ihr früher nie aufgefallen, wahrscheinlich weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war über ihn zu schimpfen.

James sah sie allerdings erstaunt als sie ihn fragte. Bevor er antwortete, rückte er seine Brille zurecht und sein Blick huschte für einen winzigen Blick suchend über ihr Gesicht, als ob er wissen wollte, ob sie diese Frage ernst meinte. „Es sind Strategien", erklärte er dann langsam. „Ich würde sie gerne im nächsten Training mal ausprobieren. Vielleicht werden wir dann besser."

„Darf ich mal sehen?" Lily deutete auf den Zettel.

James schob den Zettel zu ihr herüber, nicht ohne ihn vorher einmal glattzustreichen. „Sorry, ist ein bisschen unordentlich-

„Macht nichts", murmelte Lily und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. Dann beugte sie sich über das Blatt. Auf dem ersten Blick war alles ziemlich verwirrend, doch dann erkannte sie, dass doch ein System dahinter steckte. Winzige Punkte, die Lily als die Spieler identifizierte und Pfeile, die wohl darauf deuteten wo sie hinfliegen sollten, daneben in winzigen Buchstaben Fachbegriffe, von denen einige Lily aus „Quidditch im Wandel der Zeiten" bekannt vorkamen.

„Das sind so ein paar Sachen, die ich mir zwischendurch ausgedacht habe", sagte James. „Keine Ahnung ob sie gut sind oder nicht, aber ausprobieren kann man sie ja mal." Er klang fast schon unsicher.

Lily sah wieder auf. „Ich finde es toll, dass du dir solch eine Mühe machst. Ich verstehe zwar kein bisschen davon, aber es sieht beeindruckend aus."

„Danke." James strahlte sie an. „Soll ich es dir erklären?"

Lily nickte, obwohl sie nicht genau wusste warum, schließlich interessierte Quidditch sie ja nicht so. Aber James sah sie so hoffnungsvoll an, dass sie nicht Nein sagen konnte.

„Also, dass ist etwas was ich mich für die Jäger überlegt habe", begann James. „Du weißt, doch wer die Jäger sind, oder?"

Lily warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ganz dämlich bin ich nicht was Quidditch betrifft. Schließlich gehe ich seit sieben Jahre zu den Spielen und wohne mit Marlene und Sophia in einem Schlafsaal."

„Tschuldige. Nun, es geht darum, dass wir die gegnerischen Jäger möglichst geschickt täuschen, damit einer unserer Jäger unbemerkt ein Tor werfen kann." James Gesicht leuchtete auf als er begann ihr detailliert zu erzählen was er sich vorstellte. In seinen braunen Augen erkannte Lily die Leidenschaft, aber auch wie viel Anstrengung, Enthusiasmus und Herzblut er in diesen Sport steckte.

Lily war schon vorher bewusst gewesen, dass James diesen Sport liebte und auch gut darin war, schließlich hatte er oft genug vor Lily damit angegeben, doch, dass er Quidditch so ernst nahm, hatte sie nicht geahnt, mehr gedacht, dass er Quidditch spielte weil es so beliebt war und die Spieler immer zu den coolsten Leuten gehörten. Doch sie mochte, dass er so leidenschaftlich war. Es war wieder eine andere Seite von ihm.

„Ich habe mir auch noch einiges für Sirius und Sophia überlegt", sagte James gerade. „Auch wenn die beiden schon ein sehr gefährliches Duo bilden." Er grinste.

„Warum gibt es überhaupt Klatscher im Spiel?", fragte Lily stirnrunzelnd. „Als ob Quidditch nicht schon gefährlich genug wäre." Sie konnte kaum mit ansehen wie Marlene und Sophia nach dem Training oder Spielen mit Verletzungen zurückkamen, weil sie gestürzt waren oder ein Klatscher sie getroffen hatte, auch wenn die beiden immer darüber lachten.

„Sonst wäre es ja viel zu langweilig." James sah sie entsetzt an. „Wozu bräuchte man sonst die Treiber?"

„Die könnte man doch ganz abschaffen", schlug Lily vor. „Oder sie spielen als auch Jäger."

„Man kann doch nicht so einfach die Treiber abschaffen." James klang immer entsetzter. „Das ist Quidditch." Dann grinste er plötzlich.

„Was hast du?", fragte Lily misstrauisch.

„Wir gehen morgen fliegen."

„Nein", erwiderte Lily entschieden. „Auf gar keinen Fall."

„Doch", sagte James genauso entschieden. „Das wird lustig. Komm schon, Lily."

„Nein. Ich will lernen und ich muss noch Hausaufgaben machen", redete Lily sich heraus. Das eine Mal Fliegen hatte ihr durchaus gereicht.

„Nur eine Stunde", bettelte James.

„Nein."

„Bitte. Bitte. Bitte."

„Nein." Lily verschränkte die Arme vor der Brust.

„Oder hast du etwa Angst?" James versuchte sie unschuldig anzusehen, doch dazu glitzerten seine Augen zu verdächtig.

Lily biss sich auf die Unterlippe. Auf keinen Fall würde sie zugeben, dass sie zwar keine Angst hatte, oder zumindest nicht viel, aber sie es sehr viel sicherer mit zwei Beinen auf dem Boden fand. „Na gut."

„Perfekt." James lachte sie an, so mitreißend, dass sie nicht anders konnte als auch zurück zu lächeln.

***

Am nächsten Nachmittag stand Lily mitten auf dem Quidditchfeld, das noch die letzten Reste Schnee trug und wartete auf James. Sie hatte sich auf sein Anraten warm angezogen, dennoch fror sie in der Januarkälte. Ungeduldig hüpfte sie auf der Stelle auf und ab, um sich wenigstens ein bisschen warm zu halten. Innerlich fragte sie sich zum tausendsten Mal warum sie überhaupt eingewilligt hatte mit James fliegen zu gehen, wenn sie jetzt auch im warmen Schloss sitzen könnte. Aber manchmal hatte sie auch ihren Stolz.

Endlich trat James aus dem Schatten der Stände, er hatte seinen Besen geschultert und kam schnellen Schrittes auf sie zu. Sein Atem traf in hellen Wolken auf die kalte Luft, genauso wie Lilys. „Wir haben genau eine Stunde Zeit, danach wollen die Ravenclaws aufs Feld. Also kannst du mich nachher nicht beschuldigen, dass wir zu lange hier draußen sind." Er lächelte sie entwaffnend an.

„Dann los", sagte Lily mit mehr Enthusiasmus als sie eigentlich hatte.

„Wie lange ist es her, dass du geflogen bist?", fragte er noch.

Lily wurde ein bisschen rot. „Erste Klasse."

„Was? Solange?" Er drehte sich abrupt zu ihr. „Wie kann man solange nicht fliegen?" Auf seinem Gesicht lag ehrliche Verwunderung.

„Es ist nicht jeder so verrückt danach wie du." Lily klang zickiger als sie wollte, aber sie wäre lieber schneller als später mit dieser ganzen Unternehmung fertig.

Doch James lachte nur und ließ seinen Besen nun neben sich schweben. „Steig auf."

Lily seufzte und kletterte etwas ungeschickt auf den Besen. Ihre Hände umklammerten den Stiel so fest, dass ihre Knöchel unter den dicken Handschuhen wahrscheinlich so weiß wie Schnee waren. James stieg hinter ihr auf und schlang seine Arme um sie, damit er vor ihr den Besen festhalten und steuern konnte. Lilys Körper versteifte sich unwillkürlich als sie spürte wie nah er war. „Ich dachte du fliegst nebenher?"

Er lachte. „Meinst du ich lasse dich alleine fliegen?"

„Ich kann ganz gut auf mich alleine aufpassen."

„Weiß ich doch", erwiderte er. Er stieß sich vom Boden ab und langsam stieg der Besen in die Höhe.

Lily umklammerte den Besen noch stärker als sie merkte, dass ihre Beine den Boden nicht mehr berührten. Es war James zugute zu halten, dass sie wirklich nur langsam flogen, doch Lily konnte ihren Blick nicht vom Boden lösen, der immer weiter weg war.

„Lily, schau nach vorn", sagte James beruhigend. „Und entspann dich. Ich hab alles unter Kontrolle."

„Warum beruhigt mich das jetzt nicht gerade", antwortete Lily, aber sie blickte dennoch nach oben. Sie waren höher, als sie gedacht hatte, etwa auf der Höhe der Zuschauertribünen. Am Himmel zog bereits die Dämmerung auf, aber ein paar wenige goldene Sonnenstrahlen erleuchteten immer noch die unzähligen Dächer von Hogwarts.

„Achtung", warnte James sie noch, bevor sie einen Halbkreis flogen. Lily quiekte erschrocken auf als der Wind über ihr Gesicht fuhr und sie sich schneller bewegten als sie erwartet hatte. James hatte sie so gedreht, dass sie nun die andere Seite von Hogwarts im Blick hatten, den Schwarzen See, die Ausläufer des Verbotenen Waldes und ein Stück in der Ferne Hogsmeade.

Es war eine wunderschöne Aussicht und Lily hielt unwillkürlich für einen Moment den Atem an. Der See glitzerte im Rest des Sonnenlichtes, während der Große Krake ab und zu auftauchte. Es war fast schon still hier oben, sie hörte nur das laute Rauschen des Windes. „Es ist schön hier", flüsterte Lily.

Sie verharrten noch ein paar Augenblicke so, doch dann ließ James den Besen weiterfliegen. Sie drehten große, ruhige Kreise über dem Feld und langsam gewöhnte sich Lily an das Gefühl zu fliegen. Es half auch, dass James immer noch seine Arme um sie geschlungen hatte, so dass sie praktisch gar nicht herunterfallen konnte.

„Schneller?"

„Ja", sagte Lily zögerlich.

„Ihr Wunsch sei mir Befehl, my Lady", witzelte James und Lily hätte wahrscheinlich die Augen verdreht, wenn sie nicht gerade auf dem Besen gesessen hätte. Jetzt hatte sie genug damit zu tun sich an die Geschwindigkeit zu gewöhnen. Sie hatte vergessen wie schnell diese Besen werden konnten. Der Wind peitschte ihr scharf und kalt ins Gesicht und ließ sie frösteln, obwohl sie sich extra dick angezogen hatte. Aber gleichzeitig fing das Adrenalin an in ihren Adern zu rauschen, ihr Herz schlug immer schneller und langsam begann das ganze ihr Spaß zu machen.

Sie hörte James hinter sich lachen und jubeln, während sie über den Himmel sausten. James jagte den Besen immer höher und höher, bis sie sogar wahrscheinlich höher als die Türme der Schule waren. Erst dort ließ er sie auf der Stelle schweben. Das Licht der Sonne war fast ganz verschwunden, dafür leuchteten jetzt die Lichter von Hogwarts auf. Niemals hatte Lily die Schule aus dieser Perspektive gesehen und es war fantastisch. Es erinnerte sie an den Abend als sie Hogwarts zum ersten Mal gesehen hatte und dort wirklich gemerkt hatte, dass sie magisch war.

„Willst du noch höher?", fragte James leise und riss Lily aus ihren Erinnerungen.

Lily schüttelte den Kopf. Es war für sie schon hoch genug.

„In Ordnung." James drehte den Besen und flog sie in Richtung des Sees. „Wie wäre es wenn wir einfach davon fliegen würden? Einfach immer auf den Sonnenuntergang zu und dann ganz weit weg?"

Lily musste lachen. „Die Sonne ist doch schon untergegangen, Potter." Obwohl sie ihn Potter nannte, war ihre Stimme spielerisch und leichtherzig, nicht voller Wut und Hass, wie sonst so oft. „Außerdem haben wir morgen Schule." Doch für einen winzigen Moment überlegte sie wie es wäre wirklich mit ihm davonzufliegen.

„Da hast du Recht", seufzte James. „Und unsere Stunde ist leider auch bald vorbei." Mit diesen Worten kehrten sie um, in Richtung des Quidditchfeldes. „Vertraust du mir?"

„Ich sitze mit dir auf einem Besen und fliege hundert Meter über dem Boden", erwiderte Lily mit einem kleinen Lachen, das nicht verriet, wie sehr sie ihm vertraute, dass sie ihm tief in ihr drin vertraute, dass sie sich sicher bei ihm fühlte.

James lachte und dann merkte Lily wie sich der Besen nach vorne beugte und rapide an Geschwindigkeit zunahm. James Arme zogen sie näher an sich, während sie im Sturzflug auf den Boden zujagten. Lily kreischte erschrocken auf, damit hatte sie gar nicht gerechnet, doch schneller als sie erwartet hatte, war ihr Sturzflug beendet.

Vorsichtig öffnete Lily ihre Augen wieder und erkannte, dass sie nur ein paar Meter über dem Boden schwebten. Ihr Herz schlug so schnell und hart, dass sie meinte James müsste es ebenfalls spüren.

James landete sanft auf dem Boden und stieg ab. Lily stolperte mehr vom Besen, so wackelig waren ihre Knie. Aber James fing sie auf, bevor sie auf hinfallen konnte und sie vergrub ihren Kopf an der Brust.

„Alles in Ordnung mit dir?", fragte James besorgt.

„Mach das nie wieder", murmelte Lily. „Ich dachte wir knallen auf den Boden."

„Das würde ich niemals zulassen." Er strich ihr sanft über das Haar. „Aber es hat dir wenigstens ein bisschen Spaß gemacht, oder?"

„Ja." Sie musste lachen. „Ich glaube, ich habe noch nie so etwas Verrücktes gemacht."

***

Abends saß Lily auf ihrem Bett, ein Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoß, doch sie hatte noch kein Wort davon gelesen. Zu sehr waren ihre Gedanken anderswo. Sie war ganz alleine, die anderen Mädchen schwirrten wer weiß wo im Schloss herum, aber Lily war froh um die Ruhe. Ruhe, die in ihren Gedanken nicht herrschte.

So viele Erinnerungen und Momente huschten herum, vermischten sich und verwischten zu einem bunten Sturm aus Bildern und Gefühlen. Und irgendwo im Auge des Sturms, eine einzelne Person.

James.

Sie kannte ihn seit fast sieben Jahren, dennoch hatte sie das Gefühl in erst in den letzten Monaten wirklich kennen gelernt zu haben. Aber er hatte sich verändert, genauso wie sie. Sie waren nicht mehr die gleichen Personen wie damals bei ihrer ersten Begegnung im Zug. Sie waren schon längst nicht mehr Kinder.

Dennoch waren James Gefühle immer noch die gleichen. Lily wusste, dass James sie liebte. Er hatte ja nie mit seinen Gefühlen hinter dem Berg gehalten. Doch die Macht und Stärke seiner Gefühle erschreckte Lily auch ein bisschen.

Aber die große Frage war, was Lily für ihn empfand.

Da war jedes Lächeln, dass er ihr jemals auf die Lippen gezaubert hatte. Jedes Mal, wo er für sie dagewesen war und sie aufgefangen hatte. Jede Unterhaltung, in der sie ihn mehr und mehr kennen und schätzen gelernt hatte.

Es blieben nur die unzähligen Streiche, die er ihr und anderen gespielt hatte. Die tausenden von Streitereien zwischen ihnen beiden, wenn seine Arroganz auf ihr wildes Gemüt traf oder ihre Besserwisserei auf seine Lockerheit.

Lily war verwirrt. Sie wusste, sie empfand etwas für James. Er war wichtig, wichtiger als sie sich jemals eingestanden hatte und jemals gedacht hatte. Manchmal stellte sie fest, dass sie ihn vermisste. Sie mochte wie er lächelte, vor allem wenn sie ihn dazu bringen konnte.

Sie wusste nicht weiter und dass machte ihr Angst. Lily wusste sonst alles, doch das hier konnte man nicht aus Büchern lernen. Es gab keine Logik, Fakten und Rezepte mehr, sondern nur noch ihr Herz.

Lily ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen und schloss die Augen. Wieder tanzten die Bilder von James herum und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen.

Ja, vielleicht hatte sie sich doch irgendwie in James Potter verliebt.

veröffentlicht: 11/04/2014 | editiert: 01/02/2022

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