8. Juni 2031

Ich war müde. Hundemüde. Mein Schädel brummte vor Schlafmangel. Dennoch schlug ich die Augen auf und machte mich zombieartig auf den Weg ins Bad. Ein Blick in den Spiegel und ich wäre am liebsten sofort wieder unter die Bettdecke gekrochen. Meine Haare standen wie die eines meiner Lieblingscharaktere aus Harry Potter von meinem Kopf ab. Ich hatte dunkle tiefe Augenringe. Es war 5 Uhr morgens. Und ich musste sehr, sehr dringend! Nach kurzem Verweilen im Badezimmer beschloss ich noch etwas Schlaf nachzuholen, damit ich nachher nicht mehr ganz so schlimm zombieartig-abstoßend aussah wie jetzt. Kaum hatte mein Kopf wieder das Kissen berührt sank ich in einen tiefen, zum Glück traumlosen, Schlaf.

Meine Nervosität stieg spürbar. Ich hatte feuchte Hände und auf meiner Stirn standen Schweißperlen. Ich bebte die ganze Zeit und mein Atem war unregelmäßig. So sehr Helena es auch versuchte, sie konnte mich nicht beruhigen – unnötig zu erwähnen, dass sie die einzige Person auf dem Planeten war, die es wenigstens hätte hinbekommen können. Die Patnerverlosungen würden in fünf Minuten beginnen – FÜNF!!!
Ich nahm kurz einen Schluck aus der Wasserflasche, die mir Helena gegeben hatte, da mein Mund und mein Hals ganz ausgetrocknet waren und atmete ich noch einmal tief durch. Dann erhoben Helena und ich uns und wir gingen nach vorne.
„Seit wir denken können leben wir in dieser Stadt – unserer Stadt. Wir kennen nichts anderes und das ist sicher auch gut so." Ich atmete kurz aus, der erste Teil von mir war abgehackt. Jetzt übernahm Helena. „Unsere Stadt, jede einzelne Person, jedes einzelnes Wort, das je zu uns gesagt wurde, hat uns so sehr geprägt, uns zum nachdenken gestimmt, uns weitergebildet." „Wenn wir anders leben würden, würden Zweifel, Schrecken, Angst, Verzweiflung, Trauer zum Alltag gehören. Zerstörung. Gewalt. Krieg. Doch hier sind wir sicher. Wir wissen, dass wir geborgen sind." „Darum soll es in dieser Rede auch gehen. Geborgenheit." „Wir alle lernen sie schon früh kennen. Schon im Mutterleib sind wir behütet. Unsere Eltern kümmern sich um uns, lehren uns unser ganzes Leben lang. Ihr Wort spendet Trost, stimmt zu Überlegungen, macht uns erwachsener, reifer." „Sobald wir eigene Aufgaben übernehmen müssen – selbst wenn es so etwas banales wie den Müll rauszubringen ist – und wir sie bewältigen, sehen sie mit so viel Stolz und Liebe auf uns herab, ein Blick, der uns Geborgenheit vermittelt." „Das ist auch der Sinn der Patnerverlosung. Sie vermittelt uns Sicherheit, Geborgenheit. Wieso es so lange im Leben dauern lassen, wenn es doch eh keine Zufälle gibt?! Wieso das Vorpflanzen der Menschheit in unsere Lust und Launen legen? Wir sind ein Volk und wir müssen für unsere Zukunft, für unseren Nachwuchs mit Bedacht sorgen." Beifall brandete auf und Helena und ich verließen vor Erleichterung strahlend die Bühne.
Erneut war ich vor Aufregung ganz angespannt. Ich wusste, dass ich gleich dran war – okay ich vermutete, denn nach dem Losprinzip konnte man sich nie sicher sein. In diesem Moment wurde Helena aufgerufen. Ich drückte für sie die Daumen. Die große Hand des Herrschers schob sich in das „Jungengefäß" und umschloss einen Zettel mit seinen schlanken Fingern. „John Michael Filton" Ich hätte vor Freude am liebsten auf gequietscht und wäre durch den ganzen Saal getanzt – für Helena war John Michael Filton gezogen worden, Helenas heimlicher Schwarm, wie sie mir mit hochroten Kopf gestern gestanden hatte – doch ich riss mich, leicht wiederwillig, zusammen.
Dann wurde mein Name ausgerufen.
Ich stand zittrig auf. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an und ich hatte meine schwitzigen Hände ineinander verknotet. Langsam machte ich mich auf den Weg nach vorne. Helena strahlte mich von ihrem Platz bei den Erwählten glücklich an und regte beide Daumen hoch als Zeichen, dass sie mir Glück wünschte. Ich spürte die Blicke der anderen Leute in meinen Rücken, worunter mir ganz warm wurde. Mein Herz pochte immer schneller unter meinen Rippen. Schweißperlen rangen meinen Körper hinab. Wahrscheinlich war mein Gesicht fleckig rot. Im Rampenlicht nahm ich das Flüstern der Anderen in zehnfacher Lautstärke war. Bitte jemand nettes! Bitte jemand nettes! Diesen Satz wiederholte ich den ganzen Weg nach vorne. Meine Schritte hallten dumpf auf dem Teppich. Der Weg schien unendlich lang zu sein. Endlich erreichte ich das Podium. Okay, jetzt bloß nicht stolpern! Wenn das passieren würde, wären die Lacher heute Abend auf meine Karte gegangen... Ich stellte mich neben die Herrscherin. Mein Körper bebte vor Aufregung. Gleich würde ich es erfahren. Gleich. Ich atmete tief ein und aus, um nicht zu hyperventilieren. Langsam hob der Herrscher die Hand und ließ sie in das Jungengefäß gleiten. Er schloss die Augen, wie wenn er nach einer Macht suche würde, die seine Finger anzöge. Langsam strich er über die Zettel und tauchte seine Hand tiefer in das Gefäß. Mein Atem kam wieder unregelmäßig. Mein Körper spannte sich an, als sich die Finger um einen Zettel schlossen. Der Herrscher öffnete die Augen und zog den Zettel aus dem Gefäß. Langsam, als ob er die Spannung noch mehr steigern wollte, entfaltete er ihn. „Tom McMilton" Ich atmete erleichtert aus und die ganze Anspannung viel von meinem Körper ab. Tom McMilton war ein nicht übermäßig gut, aber auch kein schlecht aussehender Junge – gesundes Mittelmaß eben. Er war ungefähr so groß wie ich, hatte ziemlich helle Haut – allerdings nicht blass wie meine – wilde dunkle Locken, die ihm bis zu den Schultern gingen und neugierig leuchtende matschgrüne Augen. Er war einigermaßen sportlich, konnte Klavier spielen, hatte eine schöne Stimme zum Singen und hatte großes Talent in Sachen Reden. Viele sahen ihn als den nächsten Herrscher. Er war sehr höflich zu jedem und war nie laut. Er überlegte stets strategisch und war folglich in Mathematik herausragend begabt. Seine Stimme ähnelte, wenn er sprach, flüssigen Honig, der den Stamm hinunter rang, so dass man sich von ihr einlullen ließ, sobald sie ertönte. Hilfsbereitschaft und Intelligenz waren für ihn selbstverständlich – mit anderen Worten, ich hatte verdammt Glück gehabt!

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