Kapitel 33 - Lia (ü)

Immer wieder wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen, doch ich kann nicht aufhören zu weinen.

Ich habe eine Entscheidung für mich getroffen, von der ich nicht weiß, ob ich sie irgendwann bereuen werde, doch jetzt gerade schien es das Beste zu sein – für Jay und für mich.

Ich renne so schnell wie möglich nach Hause und ignoriere die fragenden Blicke der anderen Leute einfach, denn ich weiß auch so, dass ich scheiße aussehe.

Das Bild von Jay, wie er dastand und jegliche Hoffnung aus seinem Gesicht gewichen ist, geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ich habe den Schmerz in seinen Augen gesehen, als ihm eine Träne entwischt ist, und seine Hand an meinem Arm langsam lockergelassen hat, bei jedem weiteren Wort, das ich von mir gab.

Er hat selbst wohl nicht mal gemerkt, dass er geweint hat, doch ich habe es genau gesehen. Ich habe ihn selten weinen sehen, in den letzten Wochen eigentlich nur einmal – vor dem Club, wo er mich zusammengekrümmt auf dem Boden wiedergefunden hat.

Ich könnte schwören, dass ich da Tränen in seinen Augen gesehen habe.

Vielleicht war es auch der Alkohol oder es waren meine eigenen Tränen, doch ich bin mir trotzdem ziemlich sicher.

Mittlerweile weiß ich, dass er derjenige war, der Jason so brutal von mir gerissen hat, bevor Amelie sich um mich gekümmert hat. Doch da sah ich in seinen Augen nur Hass, nicht mir gegenüber, sondern Jason.

Jedes Mal, wenn wir davon reden oder auch nur sein Name fällt, verändert sich Jays Gesichtsausdruck sofort.

Ich glaube, es belastet ihn beinahe mehr als mich. Ich schlafe zwar kaum bis gar nicht, und wenn, dann träume ich immer denselben Traum, doch tagsüber kann ich meine Maske aufsetzen.

Lars, Nico, Amelie und Jay wissen zwar, wie's mir wirklich geht, doch auch vor ihnen versuche ich, tapfer zu bleiben.

Und genau das stört Jay, und irgendwie verstehe ich es langsam.

Ich würde keineswegs wollen, dass er mir etwas verheimlicht oder gar seine Gefühle vor mir versteckt – und er will es umgekehrt wahrscheinlich auch nicht.

Aus der Ferne erkenne ich den Gebäudekomplex, in dem ich wohne.

Und Jay auch.

Fuck, das wird nicht einfach, ihm so aus dem Weg gehen zu müssen, wenn er ein Stockwerk oberhalb von mir wohnt.

Außerdem gehört er zum gleichen Freundeskreis wie ich.

Hast du dir fein ausgesucht, Lia.

Mittlerweile fängt es schon an zu dämmern, was heißt, dass es ungefähr halb acht sein muss. Nach dem Restaurantbesuch haben wir uns noch lange unterhalten und waren etwas in der Stadt, da der Film erst um fünf kam.

Und jetzt laufe ich seit einer halben Stunde, weil ich mich zwischendurch noch halbwegs verlaufen habe.

Und die ganze Zeit über habe ich geheult wie ein Schlosshund.

War es wirklich die richtige Entscheidung, es endgültig zwischen Jay und mir zu beenden? Ihm klar zu sagen, was er mit mir angestellt hat, und was ich fühle?

Keine Ahnung.

Die nächsten Tage werden wohl hart, wenn ich über Jay hinwegkommen will. Und das will ich.

Ich will nicht mehr, dass meine Laune und mein Tagesablauf von einer Person abhängig ist – ich will einfach nur glücklich sein, und an meiner neuen Schule werde ich bestimmt einen Jungen kennenlernen, der mich so behandelt, wie ich es verdient habe.

Der mich nicht immer in dem Moment verletzt in dem ich denke, dass endlich alles gut werden könnte.

Mittlerweile habe ich das Apartment erreicht und renne die Treppen hoch, ehe ich mir den Kopf beinahe an der Wohnungstüre stoße.

Mit zitternden Händen und verschwommener Sicht schaffe ich es nach unzähligen Minuten endlich, das Schloss zu öffnen, und falle regelrecht in die Wohnung herein.

Ich greife mit meiner Hand ins Leere, ehe ich eine Jacke erwische und damit auf den Boden krache.

Ich bleibe einfach liegen und stoße die Türe mit dem Bein zu, und als sie krachend ins Schloss fällt, schließe ich die Augen, um die Tränen aufzuhalten.

Mein Kopf schmerzt mittlerweile von den vielen Tränen, die meine Augen verlassen, doch es ist mir egal. Ich klammere meine Hände in die Jacke und rieche daran um herauszufinden, wem sie gehört – und erstarre sofort.

Elijah. Das ist Elijahs Jacke.

Schlagartig öffne ich die Augen und starre die Jacke an. Er hat noch gesagt, ich soll mich melden, wenn etwas ist... sollte ich das wirklich tun?

Jay hasst Elijah.

Wenn er das rausfinden würde... Fuck it.

Ich nestle nach meinem Handy und entsperre es. Eigentlich erwarte ich viele Nachrichten von Jay, wie immer – doch die Mailbox bleibt stumm. Auch unser Chat auf WhatsApp ist vor über einer Woche ausgestorben, und nicht mal per SMS habe ich etwas bekommen.

Er hat's wohl endlich begriffen, doch trotzdem macht sich ein unbehagliches Gefühl in mir breit.

So ist Jay nicht.

Ich suche in meiner Kontaktliste nach Elijah und tippe dann auf den kleinen, grünen Hörer. Es dauert eine Weile, doch dann geht Elijah ran.

„Lia?" keucht er in den Hörer, und ich höre Sirenen um ihn herum.

„Elijah? Was ist passiert, wo bist du?" frage ich sofort, denn die Sirenen scheinen wirklich neben ihm zu sein.

„Ich – wir... Unfall. Ich habe einen Unfall gebaut. Fuck, nicht ich. Jay ist dabei. Ich schicke dir den Standort – au, fuck."

Elijah legt auf bevor ich etwas sagen kann, und im gleichen Moment kommt Lars rein.

Er sieht mich mit dem Handy, Elijahs Jacke in der Hand und einem total verheulten und verwirrten Gesicht am Boden liegen, und beugt sich sofort runter.

„Lia? Was ist los?" Ich bringe nur ein Kopfschütteln zu Stande.

Elijah und Jay hatten einen Unfall? Was zur Hölle macht der eine beim anderen?

Meine Gedanken rotieren, als ich den Standort von Elijah zugeschickt bekomme.

„Lars, bring mich dahin" sage ich nur anstelle einer Begrüßung.

„Was ist los?" hackt er nach, und ich springe auf die Beine. „Ich erklär's dir gleich, fahr bitte los!"

Lars nickt nur und hält mir die Türe auf, und ohne nachzudenken schleife ich Elijahs Jacke mit mir raus.

„Elijah? Der Elijah?" hackt Lars zum fünften Mal nach, und ich nicke nur noch.

Meine Hände zittern, und ich bin krank vor Sorge.

Elijah und Jay hatten einen Unfall. Sirenen. Elijahs abgemühte Stimme. Schreie.

„Lia!"

Lars reißt mich mit seiner Stimme aus meinen Gedanken, und erst jetzt bemerke ich meine schnelle Atmung.

„Du musst ruhig bleiben, okay? Wir sind gleich da, das letzte Stück laufen wir. Es wird schon alles gut werden, mach dir bitte keine Sorgen."

Ich nicke nur, und langsam werde ich wieder etwas ruhiger.

Lars parkt Dads Ersatzwagen am Straßenrand, und ich hoffe, dass wir nicht durch eine Polizei angehalten werden, denn Lars dürfte eigentlich nur mit einer volljährigen Begleitung fahren – schließlich ist er noch siebzehn.

Sofort springen wir aus dem Auto und laufen los, und ich erkenne schon einen Krankenwagen und mehrere Polizeiwagen.

Neben uns rasen zwei weitere Krankenwagen mit Sirenen und Blaulicht vorbei, und Tränen fallen aus meinen Augen.

Lars greift nach meiner Hand, und so laufen wir weiter. Als wir bei der Absperrung sind, erkenne ich ein Auto – und etwas weiter weg die völlig zerstörte Maschine von Elijah.

Oh mein Gott.

Ich erkenne eine große Gestalt vor dem Krankenwagen, und identifiziere sie als Nico.

Dieser entdeckt uns und deutet dem Polizisten an, er soll uns durchlassen.

Wir werden herangewinkt, und ehe er es realisiert, umarme ich Nico fest.

„Was ist passiert?" frage ich zitternd, während Nico mich fest an sich zieht.

An meinem Rücken spüre ich Lars' Hand, welche mitfühlsam auf und ab streicht.

„Ich weiß es nicht genau. Scheinbar saß Jay mit Elijah auf dem Motorrad, und jemand ist seitlich in sie reingefahren. Elijah sitzt übrigens dort hinten, aber er ist nicht wirklich in der Lage, viel zu sprechen."

Ich löse mich von Nico und schaue in seine Augen.

„Was ist mit Jay?" frage ich leise, und eigentlich will ich die Antwort gar nicht hören.

Nico schaut mich bekümmert an, dann deutet er hinter die Maschine.

„Sie müssen ihn aus dem Graben holen. Bisher ist unklar, wie es ihm geht, doch es hat ihn deutlich schlimmer erwischt als Elijah, den Wichser."

Ich merke wie Nicos Stimme bebt, doch ob es vor Wut oder vor Trauer ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wegen beidem.

Irgendwie überkommt mich das Gefühl, Elijah zu verteidigen, also tue ich es auch.

„Hey, Elijah ist ein hervorragender Motorradfahrer. Er hat das sicher nicht zu verantworten."

Nico nickt nur, und ich umarme ihn nochmal. „Sie werden Jay da wohlauf rausholen, versprochen" flüstere ich, und mache mir selbst damit Mut.

Nico nickt abermals nur, dann deutet er auf Elijah.

„Ich glaube, du solltest mal zu ihm" sagt er heiser, und ich nicke. Ich drücke nochmal seinen Arm, dann gehe ich rüber.

Bei Elijahs Anblick stockt mir der Atem, und ich umklammere seine Jacke in meiner Hand noch fester als eben.

An der Stirn hat er eine große Platzwunde, und sein ganzer linker Oberschenkel ist voll Blut. Sein Arm zeigt einige blaue Flecken auf, und allgemein sieht er einfach nur schrecklich aus.

Ich will gar nicht wissen wie Jay wohl aussieht, wenn Elijah schon so ein Bild hergibt.

Ich umarme Elijah vorsichtig, da ich ihm nicht wehtun will, doch er schlingt seine Arme um mich und drückt mich an sich.

„Das ist meine Jacke" nuschelt er, und unter Tränen lache ich kurz auf.

„Ja, dachte mir es wäre ein guter Moment, sie dir zurückzugeben."

Elijah lacht auch kurz, dann löst er sich von mir.

„Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben. Ich wollte nach Amstelveen, mit Jay zusammen aufs Dach. Einfach reden, wie normale Menschen das tun. Bitte, das musst du mir glauben."

Ich nicke nur und streiche ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

„Ich glaube dir, Elijah. Ich glaube dir. Mach dir bitte keine Sorgen darüber. Sie werden Jay bestimmt schnell da rausholen, es muss einfach so sein."

Ich flüstere zwar nur, doch Elijah versteht mich. Wir weinen beide, und ich wusste nicht, dass Elijah überhaupt weinen konnte.

Er streicht mir schnell eine Träne weg, dann zeigt er hinter mich.

„Schau mal, wer da kommt" flüstert er, und ich drehe mich um.

Die Sanitäter hieven gerade eine Trage den Hang hoch, auf der deutlich eine Person liegt.

Zuerst erkenne ich nur schwarze Schuhe, dann erkenne ich den Rest.

Ich will loslaufen, doch Elijah hält mich am Handgelenk fest.

„Sie müssen sich jetzt zuerst um ihm kümmern, du kannst später bestimmt gehen."

Ich nicke, und sehe ein, dass Elijah Recht hat. Jetzt würde ich allen nur im Weg stehen, und das will ich auf keinen Fall, also setze ich mich neben Elijah hin und schaue zu, wie sie Jay schnell und wild diskutierend zum Krankenwagen schieben.

Nico stürzt sofort auf seinen Bruder zu, doch Lars hält ihn mit aller Kraft zurück.

Aus der Ferne erblicke ich plötzlich Amelie und Yamina, und ich laufe auf die beiden zu.

Wir umarmen uns, dann erzähle ich ihnen kurz, was passiert ist. Jedenfalls alles, was ich weiß.

„Wie geht's dir?" fragt Amelie plötzlich, und ich schaue sie etwas verwirrt an.

Mir?

Sie sollte fragen, wie es Jay und Elijah geht, aber wie's mir geht?

Ich zucke die Schultern und schlucke tapfer den Kloss runter, der sich in meiner Kehle gebildet hat.

Ich werde jetzt nicht schon wieder weinen.

„Mir geht's ganz okay. Es war ein riesiger Schock für mich, als Elijah mir am Telefon gesagt hat, er habe einen Unfall gehabt. Ich habe mir die schlimmsten Szenarios vorgestellt."

Amelie nickt verständnisvoll, dann schaut sie sich um.

„Nico ist dort hinten, ich glaube er könnte dich brauchen." Sofort eilt Amelie zu ihrem... Freund?

Yamina und ich schauen ihr nach, dann laufen wir zu Elijah.

Yamina und er kennen sich nicht wirklich, deswegen hat sie auch nicht unbedingt etwas gegen ihn.

Elijah schaut auf, sobald wir vor ihm stehen bleiben, und als er Yamina erblickt und erkennt, hellt sich sein Gesicht auf.

„Du bist doch Yamina, nicht?" Yamina nickt etwas verlegen, und die beiden umarmen sich.

„Wie geht's dir?" frage ich Elijah kurz, um eine Bestandsaufnahme in meinem Kopf absolvieren zu können.

„Naja, der Schock sitzt auf jeden Fall. Ansonsten glaube ich ganz gut, ich spüre keine Schmerzen. Die haben mir was dagegen gegeben, frag mich in paar Stunden nochmal."

Ich nicke nur, dann setze ich mich zwischen Yamina und Elijah.

„Ich glaube, Nico wird mich nach dem noch mehr hassen" sagt dieser plötzlich, und ich schaue ihn nachdenklich an.

„Meinst du?" frage ich, und Elijah nickt. „Bestimmt."

Er senkt den Blick, doch ich sehe trotzdem, wie sehr ihn das Ganze zu belasten scheint. Ich glaube, er will nicht, dass die Winston-Brüder ihn nicht mögen, immerhin waren die drei wirklich dicke Freunde.

Bis er gegangen ist.

Ich verdränge diesen Gedanken schnell wieder, jetzt ist eindeutig nicht der Zeitpunkt um in der Vergangenheit zu wühlen.

Aus der Ferne höre ich einen wütenden Mann wild fuchteln und schreien, während er mit seinen kleinen Händchen auf Elijah zeigt.

Wahrscheinlich ist er derjenige, der die beiden angefahren hat.

Ich spüre eine Wut in mir hochkommen, doch ich bleibe sitzen, als ich sehe, wie der Mann von zwei Polizisten abgeführt wird, doch aufatmen kann ich erst, sobald er im Streifenwagen sitzt.

Kurz darauf fährt der Krankenwagen los, in dem Jay sich befindet, und Amelie bleibt alleine zurück.

„Nico ist mitgefahren" berichtet sie uns, als sie bei uns angekommen ist.

„Herr Greyson, wir sollten Sie auch schnell ins Krankenhaus bringen. Sind Sie soweit?"

Elijah sieht auf und nickt dem Sanitäter zu.

„Entschuldigen Sie, kann ich mitfahren?" rutscht es mir heraus, ehe ich nachdenke, und Elijah schaut mich mit grossen Augen an. Der Sani nickt, und ich steige schnell ein.

Yamina und Amelie kommen mit dem Auto nach, und Elijah legt sich auf das Bett im Krankenwagen.

Als seine Atmung schneller und unregelmäßiger wird, greife ich unwillkürlich nach seiner Hand und drücke sie fest.

Du schaffst das, Elijah.

Iiiiii am cryingggggggg

- xo, zebisthoughts

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