Kapitel 3 - Lia (ü)
Das klirrende Geräusch von Geschirr aus dem Stockwerk oberhalb von uns hat mich trotz Kopfhörern doch dazu bewegt, mein Bett zu verlassen, in das ich mich vor Stunden verkrochen habe in der festen Überzeugung, einen Geist gesehen zu haben.
War das wirklich Jay? Oder nur jemand, der ihm sehr ähnelt?
Kopfschüttelnd und grübelnd steige ich die Treppenstufen zum vierten Stockwerk hoch. Eigentlich hätte ich auch den Lift benutzen können, doch der war schon im vierten Stockwerk, also dachte ich mir, ein wenig Bewegung täte auch mal gut.
Sobald ich nach der halben Treppe schnaufend stehen bleibe wird mir klar, dass ein wenig Bewegung wirklich mal wieder guttun würde.
Zwar bin ich schlank und so, doch meine Ausdauer kennt mich wohl nicht mal mehr, seit ich vor zwei Jahren jeglichen Sport aufgegeben habe.
Komm, noch fünf Stufen. Und dann ruhst du dich zwei Stunden aus damit dich der Nachbar nicht mit einer Tomate verwechselt.
Ich stimme meinem eigenen Plan zu und nehme die letzten Stufen noch, dann atme ich tatsächlich sicher zwei Minuten aus.
Komisch, da sind drei männliche Stimmen zu hören, bei einer könnte ich schwören, dass es Lars ist.
Der war doch einkaufen?
Vielleicht hat er mich auch angelogen. Ach egal, ich klopfe einfach.
Erstaunlich schnell wird mir die Türe geöffnet, als hätte der Bewohner auf meinen Besuch gewartet.
Sobald ich jedoch den Gesichtsausdruck des Bewohners sehe wird mir klar, dass er das ganz bestimmt nicht getan hat.
Jay schaut mich an als wäre ich eine Ausserirdische.
Hinter ihm sehe ich, wie mir Lars verlegen grinsend zuwinkt, und Nico – mit braunen Haaren – schaut mich einfach nur frech an.
„Was ist denn?" fragt er mich, doch meine Zunge streikt – ich bringe kein einziges Wort raus. Leider ist mein Hirn gerade auch nicht hilfreich, denn mir fallen nur Sachen wie „Suppe" und so ein.
Life struggle No. 1 eines verfressenen Mädchens.
„Ich – äh... ich... ach nichts, nicht der Rede wert, habe wohl das Stockwerk verfehlt. Lars, wenn du später einkaufen gehst, dann bring doch bitte Suppe mit, ja? Also, Beutelsuppe, du weißt schon. Also dann, eh, tschüüsss!"
Bevor ich wieder erröten kann bin ich die Stufen in Rekordtempo runtergeflitzt.
Was war das denn bitte?! Wie peinlich kann ich sein... Suppe ey, was soll ich denn bitteschön mit Suppe?! Ich hasse Suppe.
Schnell knalle ich die Wohnungstüre hinter mir zu, dann mache ich das Gleiche noch mal mit meiner Zimmertüre. Schön laut, damit Lars meine Wut oben hören kann.
Wusste er davon?
Nein, bestimmt nicht.
Er sah nicht gerade so aus, als würde er dieses Treffen schon lange geplant haben.
Plötzlich sehe ich mich in meinem Spiegel, und würde am liebsten im Boden versinken. Ich trage mein pinkes Oberteil mit Kätzchen drauf, darunter eine Sternchenpyjamahose. Na super, das erklärt auch Jays Blick.
Immer noch ausser Atem ziehe ich mir das Oberteil, welches durch die Aufregung und dem Schock an mir klebt, über den Kopf und lasse es einfach irgendwo auf den Boden fallen. Dann öffne ich meinen Kleiderschrank und fische ein schwarzes Trägertop raus, welches ich schon Jahrelang besitze. Jay hat es mir mal geschenkt.
Bei dem Gedanken an Jay beginnt mein Kopf sofort wieder zu rotieren, und der Fakt, dass der gute Herr jetzt im gleichen Gebäude wohnt, dringt langsam aber sicher zu mir durch.
Ich fange an, schneller zu atmen, und langsam aber sicher erkenne ich die Symptome einer Panikattacke.
Frische Luft. Ich brauche frische Luft.
Schnell reisse ich das Fenster auf und hänge mich so weit raus, dass man meinen könnte, ich wolle springen, doch eigentlich schnappe ich nur wie ein verrücktgewordener Fisch nach Luft.
Ich merke, dass das hier nicht genug Luft ist – ich muss raus. Schnell ziehe ich mir eine normale Hose an (definiere normal...?), packe meine Tasche, schnappe mir mein Handy und verlasse die Wohnung.
Abermals ist mir der Lift egal, und ich renne die Stufen runter. Unten angekommen werfe ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die schwere Türe, und sie schwingt so schnell auf, dass ich direkt mitgehe.
Unsanft lande ich auf dem Boden, wo ich dann eine Zeit lang einfach sitzen bleibe, um zu verschnaufen. Die vorbeifahrenden Leute in ihren Autos schauen mich etwas komisch an, doch das ist mir gerade wirklich egal. Ich versuche hier gerade Luft zu bekommen, das ist ein Notfall.
Ich krieche zur Hauswand und lehne mich mit dem Rücken gegen sie.
Na wenigstens du gibst mir Halt denke ich mir, und muss daraufhin kurz lächeln. Nein, nicht nur sie gibt mir Halt. Lars ist auch noch da, der es mit einer ganzen Klasse und PCs aufgenommen hat, nur um mich zu beschützen.
Was Jay wohl alles so gemacht hat in den letzten Jahren? Hat er an mich gedacht, oder hat er mich vielleicht sogar vergessen? Man weiss ja nie, wie viel man einem wirklich wert ist. Bei Jay dachte ich eigentlich, unsere Freundschaft wäre für die Ewigkeit bestimmt gewesen, doch auch er hat mich von sich gestossen. Ohne eine richtige Begründung, doch die habe ich ja dann nach den Ferien selbst erhalten.
Ich hätte es ehrlich gesagt gerne aus seinem Mund gehört, dass er Mist gebaut hat. Wovor hatte er denn Angst? Dass ich wütend auf ihn gewesen wäre oder ihn sogar aus meinem eh nicht vorhandenen Freundeskreis gestossen hätte? Schwachsinn. Ich hätte ihn genauso geliebt wie vorher. Jeder macht mal Scheiss, das ist menschlich.
Okay, er hat's übertrieben, doch trotzdem – es ist nichts wodurch die Welt untergeht. Ausserdem hat er sich laut Zeitung bei dem Mädchen entschuldigt und seine Strafe erhalten. Auch Nico hat sich entschuldigt und seine Strafe erhalten, somit haben beide ihre Sache erledigt.
Doch wieso haben sie das überhaupt getan? Sie sind doch sonst nicht die Schlägertypen.
Ich schliesse meine Augen und atme ein paar Mal tief durch, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Ich schrecke auf und entdecke Nico neben mir.
„Bist du okay?" fragt er mich, und da ist tatsächlich sowas wie Sorge in seinen grünen Augen. Zuerst nicke ich, dann schüttle ich den Kopf.
Grinsend setzt Nico sich neben mich auf den harten Boden, dann seufzt er. „Na los, lass es raus."
Ich schnaube fast verächtlich, dann richte ich meinen Blick auf den Boden.
„Ich verstehe es nicht. Wieso? Jay und ich haben uns damals am Strand das Versprechen gegeben, zusammen durch dick und dünn zu gehen. Jeden Mist zusammen auszubaden, uns nie alleine zu lassen. Doch Jay hat es trotzdem getan – er hat mich weggeschickt, und dabei nicht mal eine Miene verzogen. Das war der Moment in dem ich realisierte, dass diese blauen Augen auch extrem Kalt rüberkommen können. Ich habe sogar gefroren, während es draussen 34 Grad waren. Dann hat er vor Amelie einfach so ausgepackt als wäre es nichts Grosses, doch ich habe tagelang geheult. Dann konnte ich endlich einigermassen abschliessen und euch meiner Vergangenheit zuschreiben, und dann steht ihr plötzlich vor meinem Fenster."
Nico schaut hoch in den blauen, wolkenlosen Himmel, während er den Zipfel seines Shirts zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her dreht.
„Es war nicht leicht für ihn."
Das ist alles, was er dazu sagt.
Ich stehe auf und will davonlaufen, als Nico mich an der Hand zurückzieht.
„Tu es nicht schon wieder, okay?" bittet er, und ich schaue ihn verwirrt an.
„Was denn?" frage ich, und er schaut mich merkwürdig traurig an.
„Davonlaufen. Davon habt ihr nämlich beide genug."
Mit diesen Worten lässt Nico meine Hand los, steht auf und verschwindet im Gebäude. Kurz bevor er jedoch die Türe hinter sich zu fallen lässt, schreit er mir noch was zu.
„Die Blue Bubble Bar ist übrigens zum Schreien! Schau da mal vorbei." Dann verschwindet auch sein Kopf.
Ich beobachte meine Hand für einige Sekunden, dann nicke ich. Ich werde nicht mehr davonlaufen, Nico hat Recht – ich habe genug davon.
--
Einige Stunden später sitze ich in der Bar, die Nico mir empfohlen hat, und stelle fest, dass das hier eher ein Coffee Shop ist.
Nichts gegen Gras oder so, nur fühlt es sich etwas komisch an, die einzige nüchterne hier drin zu sein.
„Bitte noch eine Cola" rufe ich der jungen Kellnerin zu, und sie nickt. Das wäre meine vierte Cola jetzt, und ich will immer noch nicht nach Hause gehen.
Was, wenn Jay dort ist?
Plötzlich höre ich einige Pfiffe hinter mir, und etwas später merke ich, dass die mir gelten. Leicht verunsichert bleibe ich stocksteif auf meinem Barhocker sitzen, während ich mich langsam frage, ob die Handvoll ekliger Typen da hinten high oder betrunken sind.
Die Kellnerin stellt mir die Cola vor die Nase, dann beugt sie sich zu mir. „Mach dir nichts draus. Die Jungs sitzen hier jeden Nachmittag, tu einfach so als ob sie nicht da wären." Ich nicke ihr dankbar zu, dann entfernt sie sich wieder und richtet ihr Dekolleté.
Kurz frage ich mich, ob ihre Oberweite wohl echt oder nicht ist, dann tadle ich mich selbst dafür.
Schnell nehme ich einen Schluck meiner Cola, dann verschlucke ich mich sofort. Mist. Peinlich.
Der Husten wird noch Schlimmer, als mir plötzlich jemand auf den Rücken klopft. Unsicher schaue ich zur Seite, und blicke sofort in ein Paar graue Augen.
„Geht's wieder?" fragt mich der Junge, und erst dann merke ich, dass ich aufgehört habe, zu husten. Ich nicke nur, und er setzt sich neben mich. Dann streckt er mir die Hand entgegen.
„Ich bin Jason."
Ich nehme seine Hand und stelle mich ebenfalls vor.
„Was machst denn du hier so alleine?" ist die nächste Frage, und ich versuche mir schnell eine Ausrede einfallen zu lassen. „Ach, eine Freundin hat mich kurzfristig versetzt. Nicht so schlimm, ich bin auch gerne alleine."
Jason nickt, dann ruft er der Kellnerin zu, sie solle ihm doch bitte ein Bier bringen. Ich nutze die Gelegenheit, um ihn etwas genauer zu mustern, durch das gedämpfte Licht erkenne ich jedoch nicht viel.
Ertappt schaue ich verlegen zur Seite, als Jason mich dabei erwischt, wie ich ihn mustere. „Und, was hast du heute noch so vor?" fragt er, und ich lasse mir panisch eine weitere Ausrede einfallen.
„Ach, nichts, also doch, ich muss meinem Bruder helfen. Eigentlich den ganzen Nachmittag, müsste auch bald los." Jason nickt nur bedacht, und ich merke, dass er mir nicht glaubt.
„Und was ist denn mit deiner Freundin, die du treffen wolltest?" hackt er nach, und zum Glück kann er in dem schwachen Licht nicht erkennen, wie ich langsam rot anlaufe. „Die wollte auch helfen, da sie aber nicht genau weiss wo ich wohne, haben wir uns hier treffen wollen. Woraus ja jetzt offensichtlich nichts geworden ist."
Wieder nickt Jason, doch ich glaube, dass er mir diesmal wirklich alles abkauft.
„Und du? Was machst du hier?" frage ich schnell, damit er nicht noch mehr unlogische Dinge an meiner Lüge findet. Unbeteiligt zuckt Jason die Schultern und nimmt einen grossen Schluck von seinem Bier, welches ihm die Kellnerin hingestellt hat, als ich panisch am Lügen war.
„Ich erwarte eigentlich jemanden, doch die Person ist schon eine halbe Stunde zu spät. Momentan kann ich es noch auf den Verkehr schieben, der heute wirklich sehr dicht ist, doch bald wird auch diese Entschuldigung etwas spröde. Schliesslich kommt sie aus Amstelveen."
Bei dem Namen des ehemaligen Wohnortes meines Vaters zucke ich unwillkürlich zusammen. „Ist was?" fragt Jason und blickt mich etwas besorgt an. „Nein, alles gut. Ich habe nur nicht so gute Erinnerungen an Amstelveen – mein Vater wohnte dort mal." Fast entschuldigend nickt Jason, dann herrscht eine kurze Zeit Ruhe.
Plötzlich kommt ein junges Mädchen rein und blickt sich um. Sobald sie die Jungs entdeckt, von denen ich immer noch nicht sagen kann, ob sie jetzt betrunken oder bekifft sind, rümpft sie angewidert ihre kleine Stupsnase.
Sofort verdrehe ich unauffällig die Augen. Als wären Gras und Alkohol etwas ganz neues der Gesellschaft.
Plötzlich erhaschen ihre blauen Augen Jason, und mit einem breiten Grinsen stöckelt sie auf ihren viel zu hohen und sehr schmerzhaft aussehenden High Heels auf ihn zu. Sobald sie näher kommt entdeckt sie auch meine Wenigkeit, und ihr Lächeln gefriert.
„Jason? Wer ist denn das?"
Sobald sie mich meint, zeigt sie mit ihren spitzen Nägeln auf mich, und ehe Jason etwas sagen kann, stehe ich auf, schnappe mir meine Tasche und stelle mich direkt vor der jungen Lady hin.
„Lia mein Name, schön deine Bekanntschaft zu machen. Keine Angst, Jason und ich haben uns nur ein wenig unterhalten. Habt noch einen schönen Tag!" Den letzten Satz flöte ich Jason und dem Mädchen zu, dann verschwinde ich aus der Bar.
Gezahlt habe ich zum Glück schon, sonst wäre das jetzt peinlich geworden.
Kopfschüttelnd und grinsend laufe ich weiter in Richtung Innenstadt, und setze mir zum Ziel, in einer etwas ruhigeren Strasse ein Restaurant zu finden, um dort zu essen – mein Magen hat sich nämlich soeben dazu entschieden, Walgeräusche mit knurrendem Unterton nachzumachen.
Schnell lege ich die Hand auf meinen Bauch und beschleunige meine Schritte. Tatsächlich lande ich bald in einer ruhigen Gasse, doch schnell merke ich, dass ich hier wohl eher eine alte Ruine finden würde, als ein freundliches und einladendes Restaurant.
Die Hausfassaden sind alle abgewetzt und mit Moos bewachsen, auch der Pflasterboden hat wohl schon bessere Tage gesehen.
Gerade als ich mich umdrehen will, erkenne ich die gleichen Songs, die eben in der Bar gelaufen sind. Tatsächlich sehe ich bald eine Terrasse, und durch das milchige Fenster erkenne ich dunkelblaues, fast violettes Licht.
Keine Frage, das da muss die Bar sein. Beinahe glücklich will ich wieder umdrehen, als mir jemand von hinten die Hände auf die Schultern legt.
In der Hoffnung, es ist nur Lars oder so der mir einen Streich spielen will, drehe ich mich zu der Person um, doch leider werde ich enttäuscht: Es ist nicht Lars, sondern einer der Männer die eben in der Bar sassen.
„Ist was?" frage ich so nett wie möglich, während ich vergeblich versuche, mich aus dem Griff des Mannes zu winden. Sobald er auch noch grinst, rieche ich ganz klar eine starke Alkoholfahne aus seinem Mund.
„Du bist zum vernaschen" nuschelt er, und kommt mir immer näher. „Hey, lass das. Lass mich sofort los, sonst schreie ich" sage ich mit möglichst fester Stimme, doch er fährt einfach weiter.
Der Mann ist über einen Kopf grösser als ich, und wohl auch doppelt so breit, also habe ich eigentlich keine Chance.
Der Mann drückt mich so hart gegen eine der Hausfassaden, dass ich kaum Luft bekomme, und mein Puls rast. Ich spüre, wie seine Hände langsam unter mein Top gleiten, und ich wünschte mir, ich wäre stärker. Ich versuche, mich mit Händen und Füssen zu wehren, doch es hat keinen Sinn – er ist einfach stärker als ich.
Sobald ich das erste Mal laut um Hilfe schreie, schaut er mich wütend an, dann presst er mir seine Hand auf den Mund. Während seine andere Hand gefühlt überall an mir ist, merke ich, wie mir heisse Tränen über die Wangen rollen.
Bitte, lass es aufhören. Geh weg, lass mich in Ruhe denke ich mir immer wieder, und gerade als der Mann meinen BH erreicht hat, und ich endgültig die Hoffnung auf Hilfe aufgebe, wird er plötzlich hart zur Seite gestossen.
Vorerst erkenne ich nur zwei muskulöse Arme, die wohl einem Mann angehören. Immer noch zitternd stehe ich da und versuche, meine Atmung etwas zu beruhigen. Dann öffne ich die Augen wieder und sehe, wie ein Junge wütend auf den Mann einschlägt, der mich eben angefasst hat.
Plötzlich nimmt der Mann seine Hand von dem Gesicht des Jungens, und ich entdecke wieder diese eisblauen Augen.
„Jay" flüstere ich, und wieder rollen mir die Tränen über die Augen.
Er ist hier.
--
Jay, unser lieber Held. Was hat er wohl in der Gasse gesucht?
Und was denkt ihr, dass es mit Jason auf sich hat? ;)
- Xo, Zebisthoughts
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top