74. Geschichten
74. GESCHICHTEN
Das Frühstück im Krankenflügel war genauso himmlisch, wie Emily es sich auf dem langen Weg zurück zum Schloss vorgestellt hatte. Es hatte nie besseres Toast mit Marmelade gegeben. Auch der Kürbissaft war perfekt, schön kühl und süß. Danach kippte sich Emily allerdings zwei Tassen tiefschwarzen Tees auf Ex hinunter und dachte ernsthaft darüber nach, noch zwei Tassen Kaffee hinter her zu kippen. Dabei mochte sie eigentlich gar keinen Kaffee.
Aber drastische Zeiten verlangten wohl nach drastischen Maßnahmen, dachte Emily und beschloss es dann vielleicht doch mit dem Kaffee zu lassen. Die Mischung aus völliger Müdigkeit, zuviel Tee und einer gehörigen Dosis Aufpäppeltrank führten nicht dazu, dass sich ihre Gedanken groß beruhigten. Nicht zu vergessen, dass milde Schmerzmittel, dass Madam Pomfrey ihr eingeflößt hatte, nachdem sie sich Emilys Rücken angesehen hatte. Immerhin waren es nur blaue Flecken auf ihrem Rücken und keine Prellungen oder gar Brüche.
Emily wollte gar nicht wissen wie ihr Rücken aussah, eine Masse an blau schillernden Flecken zwischen den Wolfsnarben. Noch ein Grund mehr, sich nicht im Spiegel zu betrachten. Emily schüttelte leicht den Kopf um die morbiden Gedanken, die wie Spinnweben an ihr klebten, wieder zu vertreiben.
Wenigstens hatte sie letzte Nacht kaum Zeit gehabt über den Vollmond nachzudenken. Noch froher war sie allerdings darüber, dass wirklich keine Werwölfe im Verbotenen Wald aufgetaucht waren und sie wenigstens einmal Unrecht über die Carrows behalten hatten.
“Wir gehen zum Turm und wollen unsere Schulsachen holen.” Ginnys Stimme riss Emily endgültig aus ihren Gedanken. “Kommst du mit?”
“Klar.” Emily stürzte den letzten Schluck Tee hinunter und stand dann auf um Ginny zu folgen. Auch Inga, Luna und Neville machten sich auf den Weg. Trotz des Frühstücks und Madam Pomfreys Pflege, stand ihnen alle die Nacht noch ziemlich ins Gesicht geschrieben.
“Wenn wir uns beeilen, schaffen wir noch eine Dusche, bevor wir wieder in den Unterricht müssen”, sagte Inga und schaute auf ihre Uhr. “Eine sehr kurze Dusche, aber Dusche ist Dusche.”
“Eine Dusche klingt himmlisch”, seufzte Ginny und gähnte lauthals. “Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht einschlafe.”
“Ich versuche auf dich aufzupassen”, versicherte Emily. “Wenn ich nicht vorher selbst einschlafe.”
“Die größte Strafe ist eigentlich, dass wir noch ungefähr vier Stunden Unterricht vor uns haben”, sagte Inga, “bevor wir überhaupt zum Mittagessen dürfen. Und dann haben wir noch mal Unterricht.” Sie klang fürchterlich entsetzt bei diesem Gedanken.
“Ich habe noch einige Kräuter von Daddy”, sagte Luna, die ihnen hinterher schlurfte, “er nimmt sie immer auf Expeditionen, wenn er für Beobachtungen lange wach bleiben möchte. Er hat sie von einem indigenen Volk.”
“Heute nehme ich alles”, sagte Neville. Seine Augen waren blutunterlaufen. “Vielen Dank, Luna.”
Im Treppenhaus verabschiedeten sich Inga und Luna von den Gryffindors um zu ihren jeweiligen Schlafsälen zu kommen.
“Denk an die Trickstufen im dritten Stock”, warnte Neville noch.
Inga winkte fröhlich ab. “Ich werde mal testen, ob ich die im Schlaf kenne.” Sie lachte. “Ansonsten müsst ihr mich später rausholen. Bis dann.” Sie begann die Treppen hinunter zu rennen, aber sie hatte auch den weitesten Weg.
Die Gryffindors beeilten sich nun ebenfalls zurück zum Turm. Auch wenn Emily beinahe gegen eine der vielen Ritterrüstungen rannte, schafften sie es heile zurück in ihre Schlafsäle und unter die Duschen.
Nach der Dusche, die sie kurz auf Eiskalt drehen musste, um nicht einzuschlafen, fühlte Emily sie wie ein ganz neuer Mensch. Zumindest fast. Auf dem Weg zurück nach unten, warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf ihr Bett, blieb aber standhaft.
Im Gemeinschaftsraum wartete Neville auf Emily. “Ginny ist schon los, sie hat Zaubertränke.”
“Was haben wir eigentlich?” Emily runzelte die Stirn. “Zauberkunst, oder?” Dann mussten sie wenigstens nur in den dritten Stock und nicht bis hinunter in die Kerker.
Neville schmunzelte. “Ja. Heute ist das erste Mal, wo ich wirklich gerne Geschichte der Zauberei hätte.”
“Red bloß nicht vom Schlafen”, drohte Emily spielerisch, während sie nach unten zu dem Klassenzimmer gingen. “Es ist sonst alles an was ich denken kann.”
“Wer wird denn wohl in Geschichte der Zauberei schlafen?”, erwiderte Neville lachend. “Ich meinte natürlich, dass die Stunden bei Binns so spannend sind, dass ich niemals ein Wort verpassen würde.”
“Natürlich.” Emily schnaubte leise.
Vor dem Klassenzimmer für Zauberkunst hatte sich bereits ihr Jahrgang fast vollständig versammelt. “Da sind sie ja”, schrie Lavender aufgeregt. “Neville und Emily sind da.”
Emily sah irritiert zu Neville. “Hab ich was verpasst?”
“Keine Ahnung.” Neville zuckte mit den Schultern. “Ich bin mir allerdings sicher, dass Lavender es uns gleich erzählen wird.”
Lavender strahlte Emily und Neville an. “Ihr seid gemeinsam gekommen.”
“Wir kommen aus der gleichen Richtung”, erwiderte Neville und deutete auf den Gang hinter sich. “Da kann das schon mal passieren, Lavender.”
“Ich weiß, dass eure Betten heute Nacht leer geblieben sind.” Lavenders Strahlen hatte nichts an seiner Kraft verloren. “Leugnet es nicht, ich hab dein Bett gesehen, Emily. Es ist schon seit zwei Nächten leer.”
Theoretisch waren es nur anderthalb, aber Emily wollte darüber nun wirklich nicht mit Lavender diskutieren. Oder mit Parvati, die sich nun neben Lavender gestellt hatte.
“Seamus hat gesagt, dass dein Bett”, sagte Parvati an Neville gerichtet, “ebenfalls leer war.”
So langsam ahnte Emily worauf die beiden hinaus wollten.
Neville anscheinend nicht, denn er fragte: “Was willst du, Parvati?”
“Ihr seht ziemlich müde aus”, sagte Parvati langsam und fast schon genüsslich, “ich denke, dass ihr die Nacht miteinander verbracht habt.”
“Eine ziemlich wilde Nacht”, fügte Lavender hinzu. “So wie ihr ausseht.” Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll über die beiden wandern. Im Hintergrund versuchte kaum einer mehr zu verbergen, dass er zuhörte. Am Ende der Woche würde es garantiert in Hogwarts heißen, dass Emily mit Neville auf einem Drachen durchgebrannt war oder eine ähnliche, an den Haaren herbeigezogene Geschichte.
Jemand lachte lauthals auf und schob sich zwischen den Schülerinnen und Schülern durch. “Mein Bett war heute Nacht auch leer”, sagte Inga breit grinsend. “Susan und Hannah können das bestätigen. Ich habe meine Nacht auch mit Neville verbracht.” Sie zwinkerte Neville zu, dessen Wangen sich leicht rot färbten.
“Du auch?” Lavender klappte der Mund auf.
Fast musste Emily lachen, denn eigentlich entsprach es sogar der Wahrheit. Wenn auch wirklich nicht so, wie Lavender und Parvati es sich vorstellten.
Parvati sah interessiert von Emily und Inga zu Neville. “Das hätte ich gar nicht von dir erwartet, Neville.”
Neville hob abwehrend die Hände. “Wir mussten Nachsitzen, deshalb war niemand von uns letzte Nacht in seinem Bett. Nichts weiter.”
“Echt?” Lavender blickte fast schon enttäuscht drin. “Mehr ist nicht passiert?”
“Wirklich nicht”, bestätigte Emily.
Neville nickte. “Es ist nichts passiert.”
Neben Inga hatte sich in der Zwischenzeit Hannah gedrängelt, die sich bei Emilys und Nevilles Worten sichtlich entspannte. Stand Hannah etwa auf Neville? Die beiden würden zumindest ein deutlich besseres Paar abgeben als Emily und Neville oder Inga und Neville.
Parvati kniff die Augen zusammen und betrachtete die drei misstrauisch. “Ihr habt die Nacht also miteinander verbracht, weil ihr Nachsitzen musstet?” Emily, Inga und Neville nickten. “Weswegen musstet ihr Nachsitzen?”
Lavenders Gesicht leuchtete auf, sie witterte eine nächste, bessere Geschichte. “Was habt ihr angestellt, dass ihr eine ganze Nacht Nachsitzen musstet?”
Emily verdrehte die Augen. Vielleicht würde am Ende der Woche nicht die Geschichte von Emily, Neville und dem Drachen kursieren, sondern wilde Gerüchte, dass sie Dumbledores Porträt geklaut hatten oder gar Ravenclaws Diadem.
Inga lachte. “Wir haben versucht das Schwert von Gryffindor unter Snapes Nase weg zu stehlen.”
“Wart ihr erfolgreich?”, fragte Parvati neugierig.
“Klar”, erwiderte Inga, bevor Emily oder Neville etwas sagen konnten. “Wir haben uns das Schwert geschnappt und es dann an einen peruanischen Zauberer verkauft.” Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. Hinter ihnen spitzen alle die Ohren. Vermutlich sogar die Slytherins. “Wir haben fünf Millionen dafür bekommen. Für jeden von uns.”
“Fünf Millionen”, hauchte Parvati mit großen Augen.
“Natürlich waren wir nicht erfolgreich”, donnerte Inga. Parvati und Lavender und alle anderen zuckten erschrocken zusammen. “Deshalb mussten wir ja auch nachsitzen. Bei fünf Millionen wäre auch niemand mehr von uns hier, sondern vermutlich irgendwo auf einer Karibikinsel.”
“Auch wieder wahr.” Parvati grinste. “Aber es ist ne prima Geschichte, dass muss ich dir lassen.”
Inga deutete grinsend eine Verbeugung an. “Danke dir.”
“Was habt ihr dann gemacht?”, fragte Lavender, doch dann öffnete Flitwick die Tür zum Klassenzimmer und bat alle herein.
Immer noch grinsend rauschte Inga an Lavender vorbei, ohne eine weitere Antwort oder Erklärung zu geben. Nicht sonderlich hilfreich für die Gerüchteküche, aber das konnte gerade Inga nicht weniger kümmern.
Emily beeilte sich zu ihrem Platz zu gelangen, nicht dass Lavender oder Parvati noch mehr Fragen stellen konnten. Als einer der Letzten schlüpfte Leo in das Klassenzimmer, sein Gesicht seltsam stürmisch. Emily hatte sich schon daran gewöhnt, dass Leo seine Emotionen selten zeigte, dass es ihr jetzt umso mehr auffiel.
Was hatte Leo von dem Gespräch mitbekommen und welche Schlüsse hatte er daraus gezogen? Emily zog ihre Galleone hervor.
Wir müssen reden. Dein Ort, deine Zeit. - EP.
☽ ◯ ☾
Pünktlich nach dem Abendessen fanden sich Neville, Ginny und Emily vor McGonagalls Büro zum Nachsitzen ein.
“Was müssen wir wohl machen?”, fragte Ginny, die Stirn gerunzelt.
“Ich hoffe nicht, dass wir Kessel schrubben müssen.” Emily lief ein Schauder über den Rücken. “Oder sämtliche Trophäen polieren müssen.”
Ginny grinste schief. “Ich glaube, das letzte Mal wurden die Trophäen von Fred und George geputzt.”
“Oder von Ron und Harry im zweiten Schuljahr”, erinnerte Neville die beiden.
“Stimmt”, murmelte Emily. Sie konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, warum die beiden damals zum Nachsitzen verdonnert worden waren.
“Das sollte hoffentlich sauber genug für die nächsten zehn Jahre sein”, sagte Ginny.
Die Tür zu McGonagalls Büro öffnete sich. “Sie sind pünktlich”, begrüßte McGonagall die drei kurz und knapp. “Kommen Sie herein.”
In einer Ecke des Büros stand nun ein riesiger Eichenholztisch und drei Stühle. Diese Möbel waren zu Beginn des Schuljahres noch nicht da gewesen, aber andererseits musste das bei Zauberern und Hexen auch nicht viel bedeuten, wenn man seine Möbel einfach herauf beschwören konnte.
McGonagall schwenkte ihren Zauberstab. Ein leichtes Rauschen war zu vernehmen, dann flogen zwei Stapel Akten aus einem Schrank hinter ihrem Schreibtisch durch die Luft und krachten auf den Tisch, der unter dem plötzlichen Gewicht ganz schön ächzte.
Eine Staubwolke stieg auf und erfolglos versuchte Emily ihr Husten zu unterdrücken. Was zur Hölle hatte McGonagall aus den tiefsten Ecken ihres Büros da hervorgezaubert? Ginny und Neville sahen ebenso ratlos aus.
“Die Hauslehrer führen die Schulakten ihrer Schülerinnen und Schüler”, erklärte McGonagall, sie schien der ganze Staub überhaupt nicht zu stören. “In diesen Akten werden alle Notizen und Aufzeichnungen zu Diszplinarmaßnahmen aufbewahrt. Die Archive von Gryffindor müssen dringend aufgeräumt und sortiert werden.” Sie stellte eine schmale Box mit Karteikarten auf den Tisch. “Eine Übersicht finden Sie hier. Sortieren Sie die Unterlagen nach dem Nachnamen der Schülers oder der Schülerin. Am Ende stellen Sie die Akten bitte nach Jahrgängen zurück in den Schrank. Sie dürfen ihre Magie nutzen um Beschädigungen auszubessern, die Akten wieder kleiner oder größer zu zaubern. Ansonsten sortieren Sie von Hand.”
Die drei tauschten entgeisterte Blicke. Ohne Magie? Vor allem wenn die zwei Kisten, die beinahe überquollen, nur der Anfang waren? Die geöffnete Schranktür verriet den etwas chaotisch wirkenden Inhalt. Emily sah ihre ganze Freizeit schon aus dem Fenster fliegen.
“Fangen Sie an”, sagte McGonagall. Sie nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und griff sich einen Stapel dicht beschriebenes Pergament und ihre Feder. Vermutlich die Aufsätze der Siebtklässler von letzter Woche. “Im Gegensatz zu Hagrids Büchern, beißen die Papiere Sie nicht, also können Sie ruhig loslegen.” Ihre Augen funkelten fast schon belustigt hinter ihrer schmalen Brille.
Emily seufzte und griff nach der ersten Akte. Creswell, Dirk stand dort geschrieben. Keine Ahnung, wer das nun schon wieder war. Immerhin war Dirk Creswell nicht sonderlich auffällig gewesen, sondern musste nur ein paar Mal Nachsitzen weil er zu spät zum Unterricht gekommen war. Eine düstere Vorahnung ergriff Emily, ihr waren durchaus einige Gryffindors bekannt die deutlich dickere Akten vorweisen konnten.
Gryffindors waren allgemein nicht für ihre Zurückhaltung bekannt, stellte Emily fest, als sie sie am dritten Abend die Akte von Abercrombie, Paul in der Hand hielt, der sich regelmäßig auf den Fluren geprügelt hatte. Angeblich weil immer jemand seine Freunde blöd angemacht hatte.
Genauso wenig wie Wellington, Charlotte, bei der in der Akte lobend ihre schnellen Zauber erwähnt wurden, aber genauso auch ihr Hitzkopf. Genau der Hitzkopf, der ihr eindrucksvolle sechs Wochen Nachsitzen eingebracht hatten. Was genau sie dafür hatte anstellen müssen, stand nicht mehr in der Akte und Emily fühlte sich seltsam enttäuscht.
So viele Namen, so viele Geschichten und je mehr Emily davon las, desto tiefer zog sie alles in ihren Bann. Die mit Tinte auf Pergament gebannten Erinnerungen und Geschichten des Lebens all der Gryffindors vor ihnen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top