#5

Die beiden saßen bis fast Mittenacht oben auf dem Dach und redeten, als würden sie sich bereits jahrelang kennen, obwohl sie sich nach nur zwei Treffen immer noch ziemlich fremd waren. Lynne bemerkte, dass Kade nicht gerne von sich erzählte, weshalb sie beschloss zuerst sein Vertrauen zu gewinnen, bevor sie nach Informationen fragte.
Lynne begleitete ihn bis nach unten zur Haustür, von wo aus sie ihm beim Gehen nachsah, bis er um eine Ecke verschwunden war. Währenddessen fiel ihr ein, dass sie ihn das nächste Mal um seine Telefonnummer fragen würde.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch die Wohnung, am Elternschlafzimmer vorbei und in ihr Zimmer, doch anstatt sich schlafen zu legen, versuchte Lynne ihre letzte Konzentration zu bündeln und Hausaufgaben zu machen. Sie checkte ihr Handy und sah, dass Eddie sie schon vor drei Stunden um die Ergebnisse der Mathehausaufgaben gebeten hatte. Sie beschloss ihn am morgigen Tag abschreiben zu lassen und kramte ihre Hefte aus dem Rucksack, gerade, als sich die Zimmertür öffnete.
„Du sitzt immer noch bei den Hausaufgaben?", fragte ihr Dad, der vermutlich vom Licht am Gang wach geworden war.
„Ich hab gerade erst angefangen", seufzte Lynne.
„In letzter Zeit bist du immer lange oben gesessen. Hast dich mit den Vögeln dort oben angefreundet, nicht?", meinte er.
„Haha, ja, ich zieh bald zu denen ins Nest", antwortete sie sarkastisch, doch ihre Gedanken wanderten wieder zu Kade.
Der Mann nickte zustimmend. „Darf ich mal sehen woran du aktuell arbeitest? Der Bericht über diese Farm ist übrigens sehr gut"
„Danke, Dad", sagte sie. Manchmal vergaß sie, dass ihre Eltern ihren Blog fast in- und auswendig kannten, ihre Schwester hingegen interessierte das Hobby nur wenig. „Ähm, ich arbeite immer noch an der Sache mit Subway-City"
Lynne hatte ihrem Vater schon öfter von dem großen Projekt erzählt, dass sie es sein wollte, die die Geschichte der Untergrundbevölkerung – von denen auf der Oberfläche Subway-City genannt – zum Vorschein bringen wollte. Ihre Mom war begeistert über den Enthusiasmus und Ehrgeiz ihrer Tochter, wobei bei ihrem Dad nur Skepsis wegen dem Thema, dem sie sich verschrieben hatte, aufkam.
Seit fast einem Jahr sammelte Lynne Informationen, sah sich Berichte an und forschte an Orten in der gesamten Stadt verteilt. Einmal hatte sie sogar um ein Gespräch mit dem Bürgermeister angefragt, doch es wurde, wenn auch mit Glückwünschen auf Erfolg, abgelehnt. Ab da war ihr klar, dass das Stadtsystem unter ihren Füßen noch komplexer und geheimnisvoller sein musste, als sie dachte.

Lynne öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtisches, in der sich Papiere stapelten, Zeitungsausschnitte, Texte und skizzierte Ideen. Das oberste war ein Stadtplan, der mit Kreisen und Linien versehen war.
„Ich glaub, ich hab jetzt alle Eingänge gefunden", berichtete Lynne ihrem Vater und reichte ihm die Karte.
„Eingänge?"
„Ja, in die Höhlen rein", bestätigte sie. Bei manchen bin ich mir aber noch nicht ganz sicher. Und sieh mal" Sie fuhr auf der Karte die Linien nach, die die Kreise miteinander verbanden. „Das sind zwar nur grobe Einzeichnungen, aber ich glaube, dass das relativ gut das Gebiet einzeichnet, in dem sich die Höhlen befinden. Siehst du? Es hört genau bei der Hälfte auf."
„Also ist die komplette Osthälfte der Stadt durchlöchert?", fragte ihr Dad nach und in jedem Wort schwang wieder diese gewisse Abschätzigkeit mit.
„Ja... ich glaub schon", sagte sie, „aber ich kann mich natürlich auch irren, ich bin in keinen der Eingänge hinein gegangen."
„Und das lässt du auch weiterhin bleiben", meinte ihr Dad streng.
„Ja, ich weiß, Dad, keine Sorgen"
„Ich will nicht wissen, was passiert, wenn du von denen gesehen wirst" Er gab ihr den Stadtplan zurück und ging zur Tür, Lynne seufzte.
„Gute Nacht", sagte er noch.
„Nacht, Dad..."

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