#4
Der Bus hielt wie immer zwei Querstraßen vor Lynnes Wohnhaus, das letzte Stück musste sie wohl oder übel gehen. Es war eine ziemlich langweilige Gegend mit sich abwechselnden Bürogebäuden und halbwegs großen Wohnhäusern, zehn Minuten vom Zentrum und zwanzig vom anderen Ende der Stadt entfernt. Lynne würde lieber die U-Bahn in die Innenstadt nutzen, welche fast doppelt so schnell wäre, doch wegen der unterirdischen Zivilisation fährt die U-Bahn nur im belebten Teil der Stadt, der auf der anderen Seite lag.
Als Lynne wie am Morgen mit dem Bus gefahren ist, kamen ihr wieder die Gedanken an Kade, welche sie nun nach oben schauen ließen, während sie sich ihrem Gebäude näherte. Sie traute zuerst ihren Augen nicht, doch da saß tatsächlich eine Person am Dachrand. Ob mit der Tür ins Haus fallen wie ein Überfall wirkte oder nicht, war ihr egal, denn sie würde keinen Moment verschwenden, um die Antworten zu den Fragen, die sie den ganzen Tag beschäftigten, zu bekommen. Sich die Fragen im Kopf zurechtlegend eilte Lynne die Stufen bis zum Dach hoch, um Kade nicht zu lange warten zu lassen.
„Hast du lange gewartet?", lautete ihre erste Frage, als sie ihn erreichte, an der selben Stelle wie am gestrigen Tag.
„Nein, halbe Stunde oder so", antwortete er und rutschte ein Stück zur Seite, was auf der genügend langen Kante eigentlich unnötig, jedoch eine höfliche Geste war.
Lynne setzte sich und wartete etwas, einerseits auf Reaktionen seinerseits, andererseits um ihn nicht gleich mit Fragen zu überschütten. Als er keine Anzeichen eines Konversationsstarts zeigte, setzte Lynne fort: „Du gehst nicht auf die Southwestern oder? Sonst hätte ich dich doch heute dort gesehen. Und die anderen Tage." Und Jahre, ergänzte sie im Kopf, denn der Junge kam ihr wirklich nicht bekannt vor.
„Ah, ja" Sie sah ihn aufmerksam an, doch sie wurde noch nicht richtig schlau aus seiner Mimik. Gerade sah er aber jedenfalls nicht so aus, als würde er sich Lügen zusammenreimen. „Ich bin nicht wirklich von hier. Also aus der Stadt. Ich besuch grad wen"
Schon mit dem ersten Satz begann Lynnes Kopf zu arbeiten und Theorien zu schmieden. Das naheliegendste wäre natürlich, dass er von unten kommt. Doch dann fiel ihr ein, dass sich deren Leute eigentlich nie sehen ließen. Sie verbrachten förmlich ihr gesamtes Leben dort unter der Erde. Deshalb fand Lynne sie und ihren Lebensstil so interessant.
Sie nickte verständnisvoll und glaubte Kade erstmal, behielt ihre Idee allerdings im Hinterkopf.
„Und wie lange bleibst du?", fragte sie.
„Ich..." Kade setzte zwar zum Sprechen an, stockte aber und schien sich zu sammeln oder versuchte ruhig zu bleiben. „Keine Ahnung. Ein paar Monate oder so", kam es schließlich heraus.
Lynne entschied sich nicht weiter nachzufragen, warum auch immer ihn das Thema unangenehm war.
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