#2

„Hey!", rief Lynne noch von der Tür aus. Sie dachte, ein ferner Ruf würde den Jungen womöglich weniger erschrecken als leises Näherkommen.
Er hatte schnelle Reflexe und sprang mit einem Zusammenzucken sofort auf die Beine; geschickt genug, um nicht von dem 20 Meter hohem Gebäude zu fallen. Er drehte sich ebenfalls im Sprung um, doch er war weiterhin nur eine dunkle Silhouette für sie. Lynne vermutete den Jungen etwas größer als sie, sein Alter war schwerer einzuschätzen, wobei der durchaus muskulöse Körperbau aber stark für einen Anfang 20-jährigen sprach, der seinen Hauptwohnsitz im Fitnessstudio hatte.
Grundsätzlich hatte Lynne nichts gegen einen solchen Typ Mann – obwohl sie ihr etwas zu alt waren – und beschloss sich ihm zu nähern.
„Bist... bist du durch das Treppenhaus hier raufgekommen?" Sie dachte angestrengt nach, wer außer ihrer Familie und den direkten Nachbarn noch in dem Wohnhaus lebte, da sie es ziemlich gut hinbekam jeglichen Kontakt mit ihnen zu meiden. Aber sie kam zu dem Schluss, dass ihr so eine herausragende Person bestimmt früher oder später aufgefallen wäre, wenn er hier gewohnt hätte.
„Ähm... ja, jemand... hat mich reingelassen", meinte der junge Mann, zwar etwas holprig, aber es schien die Wahrheit zu sein. Lynne mochte tiefe Stimmen, die scheinbar in der Luft vibrierten, so wie es seine tat.
„Du wohnst hier in dem Haus oder?", fragte er.
Sie war nun neben ihn getreten und beide drehten sich seitwärts der Sonne zu. In dem besseren Licht konnte Lynne auch Merkmale an dem Jungen erkennen, die ihn durchaus etwas jünger als gedacht wirken ließen. Was sie ebenfalls nicht weiter störte.
„Ja, ich wohne hier", antwortete sie. „Und ich bin anscheinend nicht die einzige, die gerne auf Häuserdächern rumhängt"
„Gelegentlich zumindest"
„Und warum gerade dieses?", wollte Lynne wissen.
Der Junge zuckte mit den Schultern und schaute kurz in die Ferne. „Keine Ahnung. Es bot sich grade an."
„Verständlich, klar", meinte Lynne nickend.
Daraufhin entstand diese berühmte peinliche Stille. Natürlich hätten sie genug Stoff zum Reden gehabt, schließlich kannten sie ja noch nicht mal ihre gegeseitigen Namen, doch Lynne wollte die momentane Situation nicht noch peinlicher machen.
Dann fiel ihr der Laptop unter ihrem rechten Arm wieder ein und nutzte die Arbeit an diesem beginnen zu wollen als Vorwand sich zu setzen, um zumindest etwas zu machen. Das Wort ‚Peinlich!' wiederholte sie inzwischen wie ein Mantra im Kopf. Es übertönte gerade so ihr schnelles Herzklopfen.
„Oh, ah, wenn du arbeiten willst, dann... kann ich auch gehen, wenn-"
„Nein, bleib – bleib ruhig hier, ich... wollte mich nur schon mal hinsetzen."
Peinlich! Peinlich! Peinlich!
Sie schien zwar gerade auf ihren Computer, den sie aufklappte, fixiert zu sein, doch sie bemerkte, dass der Junge sich ebenfalls setzte.
Stell dich nicht so an, du dummes Ding, komm schon!
Lynne holte kurz Luft und biss sich auf die Lippe. Dann schaute sie zurück zu ihm.
„Sag mal...", begann sie, möglichst lässig, obwohl ihr Innerstes gerade eher einem Marathonläufer auf Hochtouren ähnelte. „Kommt das jetzt scheiße rüber, wenn ich sage, dass du nen echt geilen Trainingsplan hast?"
Er lachte. „Nein, das is schon okay...", sagte er. Er verschluckte die Worte etwas vor Verlegenheit, was Lynne irgendwie süß fand.
„Okay, tut mir leid, das – ich wollte das nur schnell loswerden, ich-"
„Nein, kein Problem, wirklich, das ist nicht das erste Mal, dass..."
Sie fielen sich immer wieder ins Wort, teilweise lachend.
„Gott, ist das peinlich...", sagte Lynne schließlich und legte ihren Oberkörper nach hinten bis auf den kalten Beton.
Zum Glück begannen beide erneut etwas zu lachen, eine weitere Pause hätte sie nicht ausgehalten.
Sie sah erneut zu ihm. „Ich bin Lynne, falls es dich interessiert", sagte sie, erstaunt über sich selbst, da sie den ersten Schritt gewagt hatte.
„Kade", sagte er nickend und schaute wieder in die Ferne, auf die Sonne.
Sie war nun schon fast hinter dem Horizont verschwunden, es war nur noch ein kleine gelb-orange Wölbung zu sehen; der Himmel war in Rot, Violett und Blau gefärbt.

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