#18
Das Denken fiel Lynne heute schwer und so blätterte sie eher lustlos die Seiten des Buches um, das sie eigentlich für die Schule hätte lesen sollen. Sie konnte sich diese Trägheit nicht erklären, schien ihr aber auch nicht sonderlich auf den Grund gehen zu wollen.
Erst, als sie Kofferrollen vor ihrer Zimmertür vorbeiziehen hörte, rappelte sie sich auf und schaute hinaus. Es waren ihr Vater und ihre Schwester, welche gerade zum Wochenendtrip nach Seattle aufbrachen.
„Richtet Mom einen Gruß aus von mir", bat sie ihre Familie und versuchte ein Lächeln anzudeuten.
„Machen wir", antwortete ihr Vater und wagte einen Blick auf die Uhr, „sofern wir nicht zu spät zum Flughafen kommen"
„Wir haben noch genügend Zeit, Dad", meinte Sarah.
„Man kann ja nie wissen. Nimmst du bitte die Koffer, Schatz?"
Seufzend nahm Sarah die beiden Koffer und wartete darauf, dass der Mann die Wohnungstür öffnete.
„Nun dann..." Er wandte sich ein letztes Mal zu seiner älteren Tochter um. „Lynne, du weißt, was wir besprochen haben?"
„Ich werd' die Wohnung schon nicht auf den Kopf stellen, versprochen", versicherte sie müde.
„Ich will's nur gesagt haben", sagte er und lächelte ihr schief zu. „Bis in zwei Tagen. Genieß die Tage mit deinem... Freund!"
Da war er, der Grund für ihre Schwerfälligkeit. Sie hatte in den letzten Tagen versucht so wenig wie möglich an Kade zu denken, da sie den Schmerz, den der Streit mit ihm verursachte, noch immer spürte. Dass sie das Wochenende eigentlich mit ihm verbringen wollte, hatte sie dabei völlig verdrängt.
Auf die Verabschiedung ihres Vaters erwiderte sie nichts, doch ihre Schwester erkannte ihre gemischten Gefühle und warf ihr einen mitleidigen Blick zu.
Lynne hatte während des Streites vergessen, dass sie im Nebenzimmer war und alles mithören konnte. Dafür war sie aber auch sofort an ihrer Seite gewesen, als er geendet hatte.
Lynne versuchte als Antwort ein „Schon okay" in einen Blick zu verpacken und verabschiedete sich zusätzlich verbal von Sarah.
Bevor Lynne ihr Buch fortsetzen konnte, erreichte sie eine Nachricht von Eddie. Es war nur das simple Foto einer Tüte Eiscreme, den Stadtpark im Hintergrund. Lynne musste bei dem Anblick jedoch lächeln, da sie wusste, dass dies eine subtile Einladung war ihm Gesellschaft zu leisten.
„Der Fisch hat angebissen!", verkündete Eddie triumphierend, als er sie noch von weitem auf sich zukommen sah.
„Naja, du kennst mich halt...", meinte Lynne.
„In der Tat", stimmte er ihr zu, holte eine weitere Tüte Eis hinter seinem Rücken hervor und hielt sie ihr hin.
„Okay, du kennst mich fast schon zu gut", stellte sie glücklich fest.
Sie erzählte Eddie, dass sie sturmfrei hatte und ihr seine Einladung somit sehr gelegen kam, doch nicht, dass sie sie eigentlich als Ablenkung von Kade nutzen wollte.
„Warum bist du nicht mit ihnen mitgefahren? Vor ein paar Wochen hast du noch herumgejammert, weil deine Mom weggeht", fragte Eddie.
„Ich find es auch schade, aber sie kommt ja jetzt bald wieder", erklärte Lynne. „Und, naja... eigentlich hätte ich dieses Wochenende nutzen wollen und mich gerne mit Kade verabredet" „Aber?", hakte er nach.
„Das interessiert dich doch sowieso nicht oder?", entgegnete Lynne und erinnerte sich an die Male zuvor, an denen Eddie eher selten ein Ohr für diese Art Probleme hatte.
„Es interessiert es mich sehr wohl, ob jemand ein Arsch zu dir ist!", verteidigte er sich. „Danke, aber er ist kein Arsch. Wir haben uns nur gestritten... Es war nicht mal wegen einer großen Sache, ich bin es eh schon leid", gestand Lynne.
„Lass mich raten, es hat was mit deinem alten Spießer zu tun?"
„Ein wenig, ja..." Lynne bemerkte, dass sie gerade an dem Spielplatz vorbeigingen, bei dem sie und Eddie Kade vor kurzem gesehen hatten. Unkontrolliert hielt sie sofort wieder Ausschau nach ihm, die sogenannte Ablenkung erfüllte ihren Zweck absolut nicht.
Eddie machte ein abwertendes Geräusch, ähnlich wie ein Gähnen. „Du gehst mir manchmal echt auf den Sack, weißt du?"
„Was ist?", fragte Lynne und sah ihn mit großen Augen an.
„Na, du suchst nach ihm, ist doch klar"
Normalerweise würde sie so etwas abstreiten, doch sie war sich ihres Verhaltens durchaus bewusst. Im Moment würde sie alles für ein klärendes Gespräch mit Kade geben.
„Okay, weißt du was", beschloss Eddie, der wusste, dass man mit einer abgelenkten, traurigen Lynne weniger Spaß hatte, als mit der normalen, „ich helf dir suchen. Aber nur, wenn du danach nie wieder ein Wort von ihm redest. Du hast recht, deine Beziehungsprobleme gehen mich nichts an."
Sie verhielten sich den restlichen Nachmittag nicht anders, als sie es sonst tun würden, nur hielten sie die Augen stets nach dem mysteriösen Jungen offen. Lynne waren außer dem Park und sämtlichen Kaffeeläden der Stadt keine Orte eingefallen, an denen Kade sich aufhalten könnte, aber nachdem sie selbst in seinem Motel keine Spur finden konnten, gaben sie auf.
Mit derselben Trägheit, die sie schon seit Tagen plagte, schleppte Lynne sich in der Abenddämmerung nach Hause; eine Tageszeit, an der nicht an Kade zu denken scheinbar unmöglich war. Und ebenso unmöglich erschien ihr die Tatsache, ihn, nach stundenlangem Suchen, nun vor ihrer Haustür stehen zu sehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top