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Ein leises Klopfen ließ Jo von ihrer Zeichnung aufblicken. Sorgfältig legte sie ihre Utensilien ab und sah neugierig zur Tür ihres Ateliers. Sie hatte da eine Ahnung wer vor der Tür stand und wartete. Insgeheim hatte sie sich schon gewundert, warum sie nicht schon eher aufgetaucht war.

„Herein!"

Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht, als tatsächlich zuerst Wandas Kopf durch die entstandene Spalte erschien. Zügig schob sich die Rothaarige in den Raum hinein und überwand den kurzen Abstand zu Jo. Sie setzte sich in einen der Sessel und warf einen langen Blick auf den Zeichenblock, welcher auf dem Tisch lag. Wanda warf Jo einen fragenden Blick zu, als sie nach dem Block griff und nahm ihn in die Hand, als sie ein bestätigendes Nicken sah.

Jo, welche zurückgelehnt in ihrem Sessel saß, besah sich das Schauspiel ebenfalls schweigend. So kannte sie die Rothaarige nicht. So still und nachdenklich. Es war ihr bisher so vorgekommen, als wenn die Ältere immer etwas zum Reden fand und zu allem ihre Meinung abgeben konnte. Zumindest war es in ihrer Gegenwart so. Sie seufzte. Diese Maximoffs waren nun wirklich keine einfachen Leute.

„Gefällt es dir?" Fragte sie Wanda schließlich, nachdem sie bemerkte wie sich deren Gesicht während der Betrachtung verdüstert hatte. Es wäre jetzt einfach sich in die Gedanken der Älteren zu mischen, solang diese auf das Bild konzentriert war. Aber Gedanken waren meist ungenau, während Worte und die Nuancen in der Sprache einfacher zu deuten waren. Zumindest, wenn es um Herzensdinge ging.

Gefragte sah hoch und legte den Block wieder sorgfältig zwischen sie beide auf den Tisch. Man sah ihr deutlich an das sie Fragen hatte, welche sie sich aber wohl nicht zu stellen traute. Auch eher selten, dass eine solche Hemmschwelle bei ihr zu bemerken war.

Jo musste wieder schmunzeln. Das war ja nicht auszuhalten. Sie würde es jetzt kurz und schmerzlos machen und beginnen. Der Rest würde noch unangenehm genug werden. Dessen war sie sich sicher. „Was willst du wissen? Frage einfach!"

„Bist du in Alex verliebt?" Fragte Wanda zögerlich.

Getroffen sah Jo auf das Porträt, welches sie am Vorabend begonnen hatte. Diese Frage war ihr jetzt nicht sofort in den Sinn gekommen. Aber sie glaubte es zu verstehen. Auf dem Bild sah man Alex, welcher entspannt gegen eine Wand lehnte und einen aus dem Bild heraus ansah. Das Gesicht war sorgfältig ausgearbeitet und man konnte erahnen, dass die gemalte Person für den Künstler wichtig war. Jo leckte sich über ihre trockenen Lippen, bevor sie wieder zu Wanda sah.

„Wie kommst du darauf?" Stellte Jo eine Gegenfrage.

Daraufhin schüttelte Wanda ihren Kopf. „Keine Frage. Weich jetzt nicht aus!" Sie beugte sich vor und griff nach Joannas Hand. „Sag es mir!"

Jo schloss für einen kurzen Moment ihre Augen. Sie brauchte diese kurze Pause. Bisher war das eine Angelegenheit zwischen ihr und Alex gewesen, in die kein Außenstehender Einblick hatte. Dieses kleine Drama war nur zwischen ihnen beiden abgelaufen. Es jetzt jemand anderen zu erzählen, würde nur dazu führen, dass ein anderer Blickwinkel, welcher mehr sah, sie auf eine unbequeme Wahrheit bringen könnte. War es so? War sie in Alex verliebt? Jo lauschte in sich hinein. Sie war gerne mit ihm zusammen, er brachte sie zum Lachen und er trocknete ihre Tränen. Alles was man sich von einem guten Partner erwarten konnte. Er brachte ihr Herz dazu, dass es schneller schlug.

Aber...

Der Gedanke an Pietro schob sich in ihren Gedanken vor Alex. Damals als er sie bei ihrer ersten Begegnung das erste Mal angelächelt hatte. Ihr erstes Date. Diese vielen kleinen, manchmal auch großen Momente und kostbaren Augenblicke, welche sie wie einen Schatz in ihrem Inneren hütete.

Jo zog ihre Hand aus Wandas, während sie dem fragenden Blick auswich. Zielsicher griff sie nach dem Block und klappte ihn zu. Sie zögerte einen kurzen Moment, ob sie ihn ihrem Gegenüber tatsächlich zeigen sollte. Dieser Block war... besonders. Vorsichtig blättere Joanna die erste Seite auf und warf einen Blick darauf. Ein wehmütiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, bevor sie den Block schließlich an die geduldig wartende Wanda weiterreichte.

„Sieh dir mal die Zeichnungen an."

Wanda ließ sich das nicht zweimal sagen und betrachtete sogleich das erste Bild. Ein Ausruf des Erstaunens schlüpfte über ihre Lippen, als sie in die Augen ihres Bruders blickte, welche einem vom Papier entgegenblickte. Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht der Rothaarigen. Vorsichtig blätterte sie um und sah ein weiteres Bild von Pietro. Und noch eines. Es folgten viele weitere Bilder des Blonden.

„Oh." Entschlüpfte Wanda, bevor sie mit rotem Kopf schnell weiterblätterte.

Mit ebenfalls rotem Gesicht musste Jo etwas schmunzeln. Sie wusste, welches Bild diese Reaktion verursacht hatte. Es war nicht alles zu sehen, da ein Laken diese gewisse Stelle verdeckte. So mutig war sie dann doch nicht gewesen, Pietro komplett nackt zu zeichnen, obwohl der Blonde da durchaus aufgeschlossen gewesen war.

Es war ein Abend vor vielen Wochen gewesen. Sie hatte sich an diesem Tag, auf deren Wunsch, mit Wanda 'Titanic' angeschaut. Am Abend war sie mit ihrem Block in Pietros Zimmer und dem Spruch, dass sie ihn wie die französischen Mädchen zeichnen wolle, geplatzt. Pietros Blick war fantastisch gewesen, so als wäre er der Meinung, dass sie endgültig durchgedreht war. Nach einer kurzen Erklärung war er aber Feuer und Flamme und Jo an diesem Abend fix und fertig gewesen. Er war kein gutes Model, da er die Sache viel zu amüsant gefunden hatte. So war dieses Bild schließlich entstanden.

Nach mehreren Minuten legte Wanda den Block wieder sorgfältig auf denTisch zurück. Sie lehnte sich wieder zurück und sah nachdenklich zu Joanna. Aber sie schwieg, so als warte sie auf eine zusätzliche Erklärung. Denn nur die Bilder zu zeigen reichte nicht aus. Das wusste Jo. Sie lächelte etwas müde. Denn was sollte sie der anderen sagen? Die Wahrheit natürlich. Sie räusperte sich und stockte dann doch wieder. Warum war es denn auch immer so schwer über seine eigenen Gefühle zu sprechen?

„Um deine Frage zu beantworten. Alex ist mir sehr wichtig. Ein richtig guter Freund, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet habe. Er hat die letzten Wochen, mit euch allen zusammen, um so viel erträglicher gemacht." Sie stockte, da sie nicht wusste, ob sie weiter reden sollte. „Wenn es Pietro nicht gäbe, dann wären wir sicherlich mehr als nur Freunde."

„Bist du dir da sicher?" Fragte Wanda vorsichtig. „Ihr geht wirklich sehr vertraut miteinander um, aber meinst du echt, dass da mehr gewesen wäre?"

Jo zauderte etwas mit sich. Sie hatte Wanda nichts von den Erlebnissen der Abschlussfeier erzählt. Nur das es schön gewesen war. Aber es erzählen? Zeigen war einfacher und da die Geschehnisse dieses Abends eh in ihr Gedächtnis gebrannt waren, war dies nun wirklich einfacher. Sie tippte kurz Wandas Geist mit dem ihren an und zog sie in ihren eigenen hinein. Wanda nahm die Einladung an und richtete ihre Gedanken auf Joannas Erinnerung.

Zuerst hörte sie die Gespräche, welche sie miteinander geführt haben. Dann sah sie den Tanz zwischen ihnen. Sie spürte den Gefühlen nach, welche Jo damals empfunden hatte. Den Unglauben und die schwelende Wut, als sie Missy und Pietro sah. Ihr Gespräch auf der Schultreppe und den ersten kleinen Kuss. Hier stockte sie einen Moment in der Erinnerung und sah prüfend zu Jo.

„Schau es dir ruhig weiter an." Ermunterte Jo sie.

Wanda folgte dieser Aufforderung und sah weiter in die Erinnerungen. Diese setzte wieder zu dem Zeitpunkt ein, als Jo in Alex' Armen aufgewacht war. Ihr kurzes Gespräch, bis zu dem Zeitpunkt als sie gemeinsam im Aufzug standen und sich in diesem elektrisierenden Moment ansahen. Die Rothaarige verharrte einen Augenblick in diesem Moment, bevor sie die Erinnerung weiterlaufen ließ. Sie schnappte erschrocken nach Luft, als sie den Kuss sah und auch Jos Reaktion darauf. Ihr Blick schnellte erschrocken in Joannas Gesicht.

„Was ist danach passiert?!" Sie war offensichtlich zu aufgewühlt um weiterzusehen.

Was nicht schlecht war, dachte Jo für sich, da danach die Erinnerung mit Pietro war. Jo hatte außer Alex bisher niemanden davon erzählt. Sie wollte nicht, dass Wanda sich ebenso wie sie zu viele Hoffnungen machte.

„Er ist vor mir weggelaufen." Beantwortete Jo diese Frage. „Wir haben am nächsten Tag miteinander gesprochen..." Sie stockte, bevor sie zittrig weitersprach. „Ich habe ihn unterbrochen, bevor er aussprechen konnte das er in mich verliebt ist. Ich habe ihn abgewiesen, dass ich das nicht kann. Dass ich ihn als Freund sehr schätze, aber nicht von Pietro lassen kann!"

Unwirsch wischte sie sich die Tränen weg, welche unbeabsichtigt aus ihren Augen gequollen waren. Es schmerzte sie noch immer, dass sie Alex mit dieser Absage weh getan hatte. Ihre Freundschaft funktionierte noch irgendwie und würde vielleicht wieder gesunden, aber es war stellenweise immer noch sehr fragil. Sie hoffte so sehr, dass sie es schaffen würden.

Wanda stand auf und quetschte sich in den Sessel neben Jo hinein. Dann legte sie ihre Arme um die Jüngere und drückte sie fest an sich. Nachdenklich folgte sie Joannas Blick aus dem Fenster hinaus.

„Versteht er es?" Fragte sie an die Jüngere gerichtet.

Als Antwort konnte Jo nur nicken. Erneut wischte sie sich über die Augen. „Dieser Mann ist ein Goldschatz! Anstatt zu gehen, will er weiterhin mein Freund sein."

„Masochist." Erwiderte Wanda kaum hörbar.

Aber dennoch genug, sodass Jo lachen musste. Sie sah zu der Älteren. „Mag ja sein. Aber ich lasse ihn! Was sagt das über mich aus?" Sie stupste Wanda in die Seite. „Ich bin doch genauso! Ich bin weiterhin in Pietro verliebt, obwohl er keine Anstalten macht sich zu erinnern! Jeden Tag sehe ich ihn und meine Cousine! Ich hasse diesen Anblick und es zerreißt mich innerlich, aber dennoch hoffe ich! Wie dumm kann man nur sein?"

„Hoffnung ist nie verkehrt." War sanft und leise von Wanda zu hören. Man merkte ihr an, dass sie sie beruhigen wollte.

„Aber wie lange kann man hoffen, bevor Gefühle nachlassen?" Fragte Jo leise und sah wieder stur geradeaus.

Sie wartete auf eine Antwort, welche aber nicht kam.

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