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„Ja?"

„Kannst du kommen?" Flüsterte Joanna aus ihrem Deckenversteck, welches sie in ihrem Bett geschaffen hatte. Dabei sah sie angestrengt auf den Bildschirm ihres Handys.

Eine kurze Pause entstand. Sie konnte sich genau vorstellen, wie Alex unschlüssig dastand. „Was ist los? Brauchst du mich?"

„Alle sind weg auf Mission. Selbst Dad musste dieses Mal mit. Pepper ist von der Firma gestresst und ich will sie nicht stören." Erzählte sie weiterhin leise. „Nur Pietro und Missy sind da. Sie scheinen überall zu sein. In mein Zimmer kommen sie nicht. Aber sie sind überall, wo ich hinwill. Ich kann ihr nicht entgehen!"

„Glaubst du nicht, dass du in Bezug auf deine Cousine langsam an Verfolgungswahn leidest?" Fragte er scherzhaft.

„Jetzt hör mal!" Jo richtete sich empört auf, sodass die Decke von ihr fiel. Sie blinzelte zaghaft gegen die Helligkeit. „Ich..." Zögerlich, zog sie an einem Faden, welcher aus dem Saum ihres Shirts ragte. „Das vielleicht jetzt nicht. Aber es ist so still geworden."

„Und da hast du an mich gedacht, damit ich dir die Zeit vertreibe?"

Jo zögerte einen kurzen Moment. Diese Frage hatte sie jetzt verunsichert. Sie war sich nicht sicher, ob es ihn störte, dass sie ihn angerufen hatte. Seit der Abschlussfeier waren sie nicht mehr aufeinandergetroffen und auch nur wenige Nachrichten waren ausgetauscht worden. Da sie es nicht ändern konnte, musste sie es mit einem nagenden Gefühl der Trauer hinnehmen. Ihr fehlte der Freund, welcher ihr in der letzten Zeit eine Stütze geworden war und dem sie alles erzählen konnte. Der, an den sie sich anlehnen konnte. Jo schnaubte. Das war doch lächerlich. Sie kam sich gerade so vor, als wenn sie alleine nicht überlebensfähig wäre. Als wenn sie nur in der Gegenwart ihrer Familie und Freunde tatsächlich lebensfähig war. Seit wann war das so? Sie zuckte zusammen.

„Jo?"

Für einen kurzen Moment verwirrt, sah Joanna sich nach der Quelle dieses Geräusches um, bis sie realisierte, dass sie noch immer mit Alex telefonierte und ihn warten ließ. Sie seufzte und hob das Handy wieder hoch.

„Es ist alles gut Alex. Das war irgendwie eine Kurzschlussreaktion dich anzurufen." Schnell fügte sie noch den nächsten Satz hinzu. „Du musst nicht kommen!"

Alex lachte leise. „Und gerade deswegen werde ich jetzt zur dir fahren! Bis gleich!" Dann legte er auf.

Verdutzt sah Jo auf ihr Telefon. Eigentlich war das ihr ursprünglicher Plan gewesen, dass Alex zu ihr kommt. Aber in diesem kurzen Moment verspürte sie Zweifel, ob sie seine Freundlichkeit nicht doch ausnutzte. Aber das würde er ihr doch sagen. Oder? Jo hoffte es.

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Es klopfte an ihrer Zimmertür und Jo stürzte schnell darauf zu. Sie riss die Tür auf und sah mit ausreichend schlechtem Gewissen zu Alex, welcher im kompletten Gegensatz zu ihr entspannt an der Tür lehnte und sie verschmitzt lächelnd ansah. Ein Lächeln, welches ihr Herz ein kleines bisschen beschleunigte.

„Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe! Dass ich dich immer nur anrufe wenn etwas ist! Dass ich dich irgendwie ausnutze!" Die Worte sprudelten aus ihr heraus. Es wären vielleicht mehr geworden, aber Alex stoppte sie, indem er ihr den Finger auf die Lippen legte. Perplex sah sie ihn an, während sie spürte, dass ihr Gesicht rot anlief.

Alex grinste sie nur an. „Hast du es jetzt?" Er nahm seinen Finger weg und hob ihn sogleich wieder warnend, als Jo ihn unterbrechen wollte. „Du plapperst und redest wirr. Wie auch vorhin am Telefon."

„Aber..." Jo setzte an und wurde erneut unterbrochen. Sie seufzte und sah ihr Gegenüber geduldig an.

„Dann nutze ich es halt jetzt ebenfalls aus!" Er grinste sie an. „Du kannst mich ja übermorgen zu einem Dinner begleiten. Treffen der Partner, der Kanzlei meines Dads. Ich als Sohn und auch irgendwie sein Protegé habe die zweifelhafte Ehre dabei zu sein. Es wird höchstwahrscheinlich sterbenslangweilig und furchtbar trocken. Der einzige Lichtblick bisher war das Essen." Er beugte sich etwas zu ihr hinunter. „Bist du dabei?"

„Muss ich das kleine Schwarze auspacken?" Mit einem Lächeln stellte sie eine Gegenfrage. Alex war einfach zu gut.

Der Schwarzhaarige grinste schelmisch zurück. „Das ist das mindeste. Immerhin muss ich Anzug und Krawatte entmotten."

Sie wollte weitersprechen, als sie von einem Geräusch abgelenkt wurde. Eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges wurde geöffnet. Mit einem, wie Jo über die Jahre gelernt hatte, absolut falschem Lachen trat Missy aus dem Zimmer, gefolgt von Pietro. Die beiden Blonden blieben stehen und Jo bemerkte den kalkulierenden Blick Missys in ihre Richtung. Nein, in Alex' Richtung. Joanna warf einen Seitenblick zu Alex, welcher ebenso konzentriert zu den gerade erschienenen sah.

Jo stockte und fühlte sich äußerst unwohl in dieser Szene. Sie befand, dass es durchaus unangenehmere Situationen gab, welche ihr zu ihrem Leidwesen in diesem Moment aber leider nicht einfallen wollten. Da waren zum einen Pietro und Missy, welche gerade aus seinem Zimmer gekommen waren auf der einen Seite. Während sie und Alex noch immer in ihrer Zimmertür standen und sich unterhielten. Für einen kurzen Moment meinte sie eine missbilligende Regung in Pietros Gesicht zu sehen, welche aber viel zu schnell verschwand, sodass sie meinte sich diese eingebildet zu haben. Sie merkte, wie ihr Auge zu zucken begann, als Missy Pietro an der Hand packte und näher zu ihnen trat. Den Blonden dabei widerwillig hinter sich herziehend. Das zeigte doch nur wie dummdreist und dämlich sie doch war. Jo knirschte mit den Zähnen, als die beiden bei ihnen stehen blieben.

„Hi, ich bin Missy, Jos Cousine." Dabei streckte sie ihre Hand Alex entgegen. „Freut mich dich kennenzulernen."

Alex sah auf ihre wartende Hand, welche er gekonnt ignorierte, bevor er wieder in ihr Gesicht sah. „Mein Name ist Alexander. Freut mich nicht dich kennenzulernen." Wobei er eine besondere Betonung auf das ‚nicht' legte. Mit diesen Worten schlang er seinen Arm um Jos Hüfte und zog sie durch die geöffnete Tür in ihr Zimmer herein. „Komm, wir haben zu tun!"

Jo sah ihn überrascht und sprachlos an, bevor ihr Blick zu ihrer Cousine schnellte. Deren Gesichtsausdruck war nicht minder überrascht, während sie noch immer mit erhobener Hand dastand. Jetzt senkte sie ihre Hand langsam wieder und blickte zornig in Joannas Richtung. Deren Blick wiederum glitt weiter zu Pietro, dessen Grinsen leicht schadenfroh wirkte. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, bevor Alex die Tür energisch schloss.

Hinter verschlossener Tür atmete Alex tief durch und zeigte ihr ein schiefes Grinsen. „Das hat gut getan."

Joanna grinste nur zurück und trat von der Tür weg. Nicht das noch jemand lauschte. „Alexander?" Fragte Jo schließlich, nachdem sie die paar Schritte zu ihrem Sofa gegangen waren und es sich dort gemütlich gemacht hatten. Sie lehnte sich an und sah neugierig zu Alex.

Er stützte seinen Arm gegen die Lehne und platzierte sein Kinn in seiner Hand. Dabei sah er sie unverwandt an. „Ich bestimme, wer mich Alex nennen darf. So war ich schon als kleines Kind." Er machte eine kurze Pause. „Selbst mein Dad muss mich bei meinem Taufnamen nennen."

„Klingt streng."

„Du kennst doch unser Verhältnis zueinander." Bei diesen Worten strich er sich resigniert über sein Gesicht, so als wäre er es müde über seinen Vater zu sprechen.

Jo wandte sich von ihm ab. Sie verstand ihn. Es gab da aber noch eine Frage, welche ihr auf den Lippen brannte. Nun hatte er ihr die passende Vorlage dazu geliefert.

„Das kenne ich." Sie schwieg einen Moment lang, bevor sie sich ihm wieder zuwandte. Zögernd folgten die nächsten Worte. „Und wie ist jetzt unser Verhältnis?"

Ein tiefes Seufzen kam über Alex' Lippen. Er sah sie mit einem schiefen Grinsen an. „Du lässt wohl einfach nicht locker, oder? Aber okay... Also, ganz wie davor wird es nicht mehr sein. Das schaffe ich nicht und du glaube ich auch nicht. Aber keine Sorge, denn ich werde auch weiterhin schamlos mit dir flirten." Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie näher zu sich heran. „Auch den ungezwungenen Körperkontakt werde ich beibehalten. So bin ich einfach. Nur..." Hier machte er eine Pause und sah Jo etwas wehmütig an. „...hin und wieder werde ich dich sehnsüchtig ansehen. Da kann ich leider nichts dafür. Irgendwann wird es sicher vergehen. Aber ich werde dein Freund bleiben." Mit diesen Worten drückte er ihr einen leichten Kuss auf den Scheitel. „Was sagst du dazu? Verschrobene gute Freunde?"

„Das finde ich gut." In diesem Moment war Jo froh, dass er ihr nicht ins Gesicht sehen konnte. Sie mochte ihn. Aber nicht so. Natürlich wäre es gelogen, wenn sie sagen würde, dass seine Gesten sie komplett kaltließen. Oh, er musste doch um seine Wirkung Frauen gegenüber wissen. Da war Herzklopfen nun mal vorprogrammiert.

Vorsichtig wandte sie sich aus seiner Umarmung, sodass sie sich aufsetzen konnte. Mit einem kleinen Lächeln sah sie ihn gründlich an. Braun traf auf Blau. Ja, es war zu spüren. Dieses gewisse Knistern. Zu einem anderen Zeitpunkt, wenn es Pietro nicht gegeben hätte, dann wäre das mit Alex mehr geworden. Sie griff nach seinen Händen und zog ihn mit sich hoch und Richtung Tür. Er folgte ihr zum Glück widerstandslos.

„Komm, lass uns den Tower verlassen!" Sie griff nach ihrer Tasche, welche neben der Tür auf einem Hocker lag. „Ich hab Lust mich in Brookfield Place umzuschauen."

„Brookfield?" Alex zog seine Augenbraue hoch. „Da kommt jetzt das reiche Töchterchen in dir durch."

Jo schüttelte lächelnd den Kopf. „Aber nicht doch. Ich kaufe immer noch ungern die teuren Sachen. Aber dort kann man gut essen und man hat eine gute Aussicht auf den Hudson." Jetzt lachte sie. „Was denkst du von mir?"

„Nur das Beste." Er lachte ebenfalls, während sie den Aufzug betraten.

Eine leichte Gänsehaut zog sich über Joannas Rücken, als sie an ihr letztes Treffen an diesem Ort dachte. Sie sah auf ihre Hände, welche noch immer ineinander verschlungen waren. Jetzt ließ Jo seine Hand los und hakte sich stattdessen bei ihm unter. Sie lächelte ihn entschuldigend an. So betraten sie schließlich das Foyer, von wo es in den strahlenden New Yorker Tag hinausging.

Während sie auf ein Taxi warteten, sah Jo verstohlen zu Alex und betrachtete sein Profil. Ja, es würde wahrscheinlich schwer werden, aber so ein Freund war es mehr als wert.

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