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'Wer bist du?'

Diese Frage kreiste immer wieder in Joannas Kopf umher. Dazu noch Pietros Blick, der ihr mehr als deutlich zu erkennen gab, dass er sie nicht mehr kannte, dass er sie wirklich vergessen hatte.

Es tat weh.

Mit einem Wimmern zog Jo die Decke, welche über ihr lag, fester um sich. Sie hatte sich nach Pietros Worten sprachlos Wanda zugewandt, welche nur ein schwaches Nicken von sich gegeben hatte. Daraufhin war Jo auf der Stelle umgedreht und von der Krankenstation geflüchtet. Ihr Vater hatte sie schließlich auf dem Flur aufgegriffen und ein Blick seinerseits in ihr starres Gesicht war für ihn Bestätigung genug gewesen, sodass er sie schließlich in seine Etage gebracht hatte. Dort war Jo sofort in Richtung des Sofas geflüchtet und hatte sich unter einer Decke verkrochen.

Jo wusste nicht genau, wie lange sie bereits hier lag. Gefühlt eine Ewigkeit an, aber wahrscheinlich war es nicht mal eine Stunde. Auf jeden Fall rechnete sie es ihrem Vater hoch an, dass er sie so lange in Ruhe ließ. Gedämpft war kurz nach ihrer Ankunft das leise Flüstern ihres Vaters zu hören gewesen, welcher sich mit Pepper unterhalten hatte. Seitdem herrschte Stille.

'Wer bist du?'

Erneut ploppten diese Worte in ihren Gedanken auf. Wie bereits davor, spürte Joanna, wie ihre Augen zu brennen begannen. Sie hatte bisher noch nicht geweint. Nur dieses beständige Brennen, welches langsam immer schlimmer wurde. Sie wusste ganz genau, dass sie später an diesem Abend noch weinen würde, aber noch war sie nicht so weit. Noch konnte sie etwas bröckelige Selbstbeherrschung aufweisen.

Er hatte sie vergessen! Nichts in seinen Augen, seinem Blick hatte ein Wiedererkennen gezeigt. Als wäre sie tatsächlich zu einer Fremden geworden. Und zwar vollkommen. Er kannte sie nicht mehr und schien auch sonst jedes weitere Gefühl für sie vergessen zu haben. Denn bereits bei ihrem ersten Treffen hatte er ihr damals doch dieses unglaublich verschmitzte Lächeln geschenkt. Von Anfang an hatte da diese unsichtbare Verbindung zwischen ihnen bestanden, welche sie nun nicht mehr spürte. Der Mann in dem Krankenbett war tatsächlich ein anderer geworden.

Fremd.

Nicht mehr 'ihr' Pietro.

Jo schniefte leise. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, liefen auch schon heiße Tränen über ihre Wangen. Sie biss sich in die Knöchel und versuchte das nächste Schluchzen zu unterdrücken, was aber kläglich misslang, sodass ein weiteres Wimmern zu hören war.

Wie durch Watte hörte sie eine Stimme, welche etwas zu fragen schien. Joanna wusste nicht, ob sie damit gemeint war, da sie sich nur fester in die Decke wickelte und unter dieser noch mehr zusammen kauerte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie schließlich eine zarte Berührung auf ihrem Kopf wahrnahm.

„Kleines." War die sanfte Stimme von Pepper zu hören. „Komm bitte da raus."

Jo atmete zittrig aus, nahm ihre Brille ab und strich sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus den Augen. Sie richtete sich langsam auf und ließ dabei die Decke an sich herab gleiten. Etwas verlegen strich sie sich noch einmal über ihr Gesicht und sah ihr Gegenüber an. Neben ihr saß Pepper und sah sie mit einem mitfühlenden Lächeln an. Ihr Vater währenddessen hielt sich im Hintergrund und schien noch unschlüssig zu sein, ob und wann er sich einmischen sollte.

Pepper griff nach der Tempobox auf dem Tisch und reichte sie an Jo weiter. Diese griff sich ein Tuch, putzte sich die Nase und sah wieder ihr Gegenüber an. Pepper saß noch immer mit diesem kleinen Lächeln da und sah sie so unendlich geduldig an. Etwas an diesem Lächeln erinnerte Joanna dabei an ihre verstorbene Mutter. Sie wusste nicht genau, was es war. Vielleicht der Blick in den Augen der Älteren, oder aber auch das leicht traurige Lächeln.

Es fühlte sich so vertraut an.

In diesem Moment merkte Jo, wie ihre gerade wieder erlangte Selbstbeherrschung erneut zusammenbrach. Mit einem lauten Weinen warf sie sich an Peppers Brust und stieß diese mit ihrem Schwung um. Jo klammerte sich an die Ältere und weinte einfach. Nicht nur wegen Pietro, sondern wegen allem, was in der letzten Zeit geschehen war. Sie hatte vielleicht alles mit einem Lachen abgetan, aber dennoch hatte alles unermüdlich in ihr weiter gearbeitet.

Joanna wusste nicht, wie lange sie in Peppers Armen lag und sich dort ausweinen konnte. Nach einiger Zeit, spürte sie nur, wie man ihr liebevoll über den Rücken strich. Aber anstatt sie zu beruhigen, weinte sie nur noch mehr. Sie wusste nicht warum, aber in diesem Moment tat es so gut.

Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, war es vorbei. Jo lag immer noch in Peppers Arme gekuschelt da. Aber kein weiteres Weinen war mehr zu hören. Nur noch vereinzelte Schluchzer, welche immer mehr verklangen. Jo drehte ihren Kopf und sah der Rothaarigen ins Gesicht. Auch jetzt noch war in Peppers Gesicht nichts anderes als Geduld und aufrechte Anteilnahme zu sehen.

„Es tut mir leid." Nuschelte Jo schließlich und senkte ihren Kopf wieder. Das meinte sie wirklich so. Sie hatte nicht vorgehabt, der Älteren die Bluse auf derart laute Art durchzuweichen. Joanna hob den Kopf, als sie ein leises Lachen von der Älteren vernahm.

„Das braucht es nicht." Erwiderte Pepper nur. Sie öffnete ihre Arme und gab Jo somit die Gelegenheit sich wieder aufzusetzen. „Geht es dir jetzt besser?"

Jo richtete sich langsam auf, dabei wischte sie sich wieder mit einem Taschentuch über die Augen. Sie wollte gar nicht wissen, wie sie aussah. Sicher zum Fürchten. Aber es ging ihr irgendwie besser. Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht nickte sie der Älteren zu.

„Na also. Dann hat es ja seinen Zweck erfüllt." Dabei sah Pepper auf den beeindruckenden Fleck auf ihrer Bluse. Sie zupfte an dem Stoff und sah Jo mit einem Grinsen an. „Du hättest Tonys Gesicht sehen sollen, als du dich auf mich gestürzt hast."

Bei der Erwähnung ihres Vaters wandte Jo ihren Kopf schnell zu diesem. Er stand noch immer in der Küche und sah zu ihnen herüber. Bloß wirkte er jetzt sichtlich erschüttert und mehr als nur sprachlos. Ein wahrhaft seltener Anblick.

„Dad?" Fragte Jo schließlich. „Alles okay?"

Er räusperte sich. „Das sollte ich wohl viel eher dich fragen."

Ein trauriges Lächeln erschien auf Jos Gesicht. „Es muss gehen. Das gerade..." Sie suchte nach den passenden Worten. „... das war nicht nur wegen Pietro. Die letzten Wochen waren stellenweise nicht einfach. Das hier, ..." Dabei zeigte sie auf den Tränenfleck auf Pepper. „... es war einfach notwendig."

„Kleine Psychohygiene?" Fragte ihr Vater mit hochgezogener Braue, wobei er ein abfälliges Schnauben von Pepper dafür erntete.

„Dezent." Stimmte Jo ihm zu.

„Ihr beiden seid definitiv Vater und Tochter." Warf Pepper dazwischen. „Ihr fresst alles in euch herein, bis ihr explodiert und eure Gefühle in einer gewaltigen Eruption herauslasst. In dieser Hinsicht gleicht ihr euch so sehr."

„Ich nehme das mal als Kompliment." Erwiderte Tony darauf. „Selbst wenn es offensichtlich nicht so gemeint war."

„Das war es sicher nicht." Stimmte Jo ihm schließlich zu.

Von Pepper war nur ein weiteres Schnauben auf ihre Kommentare zu hören.

„Geht es dir jetzt wirklich besser?" Frage ihr Vater noch einmal besorgt nach.

Jo nickte vorsichtig mit dem Kopf. Ihr Ausbruch hatte vielleicht nichts an der momentanen Situation geändert, aber dennoch ein paar Dinge in ihrem Kopf geordneter und klarer zurückgelassen. „Ja." Antwortete sie schließlich schlicht.

Ihr Vater nickte verstehend, während er seine nächsten Worte überlegte. „Wie sieht es dann mit der gegenwärtigen Situation aus?"

„Du meinst Pietro?"

„Ganz genau. Nenne es taktlos, dass ich das jetzt so frage." Bei der Frage schien er sich in Jos Augen tatsächlich unwohl zu fühlen. „Aber ich will mir nur sicher sein, dass deine Gefühle dich nicht überwältigen und du doch noch explodierst." Er machte eine kurze Pause, während der er Joanna genau musterte. „Und wir mit dir."

Jo schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Natürlich tut es weh, dass er sich nicht erinnert. Er hat für mich wichtige Momente vergessen. Wichtige erste Male, die nun mal nicht wiederholt werden können."

„Erste Male?" Fragte Tony genau nach und sah seine Tochter dabei scharf an.

Jo zuckte ertappt zusammen und wurde rot. Verlegen sah sie zur Seite. Sie hörte nur wie ihr Dad schnaubte und tief einatmete. Während sie nach den passenden Worten gesucht hatte, hatte sie nicht auf den genauen Wortlaut geachtet.

„Ich verstehe." Er schwieg einen Moment. „Ich könnte ihn ja überfallen und ihm eine gehörige Tracht Prügel verpassen. Vielleicht kommt sein Gedächtnis ja dann wieder."

„DAD!" Jo wandte sich ihrem Vater zu. An seinem Gesicht sah sie aber sofort, dass er scherzte. Nun ja, fast.

Tony zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich tue ihm schon nichts, obwohl er es mehr als verdient hätte... Meine einzige Tochter." Brummte er nur noch in seinen Bart und sah ziemlich missmutig drein.

Die Jüngere lehnte sich auf dem Sofa zurück und sah nachdenklich auf die Lichter der Stadt. Dann wanderte ihr Blick wieder zu ihrem Vater.

„Glaubst du, dass er sich wieder erinnern wird?" Kam beinahe als Flüstern über ihre Lippen. Es war Jo nicht klar, ob sie überhaupt eine Antwort darauf hören wollte. Natürlich hoffte sie, dass Pietros Erinnerung zurückkam. Sie konnte nicht anders. Dennoch hatte sie auch Angst, dass er weiterhin in diesem Zustand bleiben würde. Während sie vor sich hin grübelte, sah sie zu ihrem Vater, welcher ebenfalls über eine Antwort für ihre Frage nachdachte.

Schließlich ließ er ein Seufzen vernehmen, bevor er antwortete. „Ich denke schon. Allein für dich wünsche ich es mir." Er machte eine kurze Pause, in der er seine weiteren Worte überlegte. „Bevor ich zu dir kam, habe ich ja bereits mit Helen gesprochen. Sie geht davon aus, dass er seine Erinnerung wieder zurückbekommt. Nur über die Dauer kann sie nichts sagen. Das ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Der eine erinnert sich früher, während es bei einem anderen länger dauert. Dadurch, dass seine Genesung an seinen schnellen Stoffwechsel gebunden ist, konnte sie nicht sagen, was für Gehirnareale betroffen sind."

„Und gibt es Betroffene, die sich gar nicht mehr erinnern?" Flüsterte Jo schließlich, nachdem sie einen Augenblick über das gesagte nachgedacht hatte. Bei dieser Frage sah Jo, wie ihr Vater seinen Kiefer fest zusammenpresste. Sie kannte die Antwort bereits, aber musste sie noch einmal von jemand anderem hören.

Schließlich kam ein Seufzen von ihrem Gegenüber. „Ja, solche gibt es leider."

Jo nickte verstehend. Schließlich stand sie auf und wandte sich von ihrem Vater ab. „Ich geh jetzt ins Bett." Sie musste allein sein. Musste das alles erst einmal verarbeiten. An der Tür angekommen, drehte sie sich noch einmal um und zeigte ihrem Vater und auch Pepper ein wackeliges Lächeln. „Gute Nacht."

Dann floh sie.

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