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Joanna betrat ihr Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Langsam ging sie auf ihr Sofa zu und ließ sich erschöpft darauf fallen. Gedankenverloren ließ sie ihren Tag Revue passieren, während sie zusah, wie die Abendsonne durch die Fenster fiel und Muster auf ihren Zimmerboden malte.

Sie hatte den restlichen Tag mit ihrem Vater in dessen Wohnung verbracht. Die anderen hatten sie konsequent ausgeschlossen. Diese Stunden haben nur ihnen gehört. Sie hatten sich Filme angeschaut und dabei Unmengen an Pizza und Eis gegessen. Ihr Vater hatte schließlich auch die alten Filmaufnahmen seines Vaters ausgepackt und sie Jo gezeigt. So hatte sie zum ersten Mal ihren Großvater gesehen. Und schließlich auch ihre Großmutter. Die Frau, deren Namen sie trug.

Irgendwann war Pepper aus der Firma zurückgekommen und hatte sie beide auf dem Sofa vorgefunden. Zu dem Zeitpunkt waren sie inmitten von leeren Schachteln gesessen und hatten auf einer Konsole gegeneinander gespielt. Pepper hatte keine Fragen gestellt, sondern sich mit einem Lächeln zu ihnen gesetzt. Sie hatte ihnen zugeschaut wie jeder von ihnen beiden verbissen versuchte zu gewinnen. Letztendlich war Jo aber als Gewinnerin hervorgegangen.

Natürlich hatte Pepper gefragt wie es ihnen ging und was sie den ganzen Tag getan hatten. Pepper war zu feinfühlig, weswegen sie auch Jos Zögern bei der Frage natürlich bemerkt hatte. Sie hatte Jo zu keiner Antwort gedrängt, sondern war nur ruhig bei Vater und Tochter gesessen. Einen Moment hatte Jo tatsächlich überlegen müssen, ob sie es Pepper erzählen sollte, aber letztendlich war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rothaarige es wissen sollte. Es sogar wissen musste. Immerhin war sie die Freundin ihres Vaters und das was sie am ehesten als Mutterersatz bezeichnen konnte. Jo hatte ihren Vater angesehen und ihn gebeten es zu erzählen. Sie konnte es einfach noch nicht.

Die Rothaarige hatte aufmerksam zugehört. Kein Wort war über ihre Lippen gekommen, während sie Tony zuhörte. Nachdem dieser mit reden fertig war, war ihr Blick zu Jo gegangen. Dieser Blick hatte Jo nervös gemacht, da sie nicht wusste, was sie erwartete, sobald Pepper zu reden anfing. Letztendlich hatte sie sich in einer liebevollen Umarmung wiedergefunden. Die Worte, die Pepper anschließend gesagt hatte, waren exakt dieselben wie die ihres Vaters.

In diesem Moment war Joanna ein Stein vom Herzen gefallen. In ihr hatte einfach die irrationale Angst gesessen, das man sie nicht akzeptieren würde. Eine letztendlich wirklich unbegründete Angst. Wenn Pepper schon so reagiert hatte, dann würden die anderen nicht anders reagieren. Sie waren immerhin allerlei sonderbare Dinge gewöhnt.

Aber dennoch...

Jo fühlte sich noch immer etwas unwohl. Diese Enthüllung hatte sie ziemlich aus der Bahn geworfen. Denn wann erfährt man schon, das man gestorben und anschließend wieder zum Leben erweckt wurde. Das erinnerte sie stark an Frankensteins Monster. Jo wandte ihren Kopf wieder vom Fenster weg und sah in den Raum hinein. Sie musste tief seufzen, denn das Wort 'Monster' wollte einfach nicht aus ihren Gedanken verschwinden. Es hatte sich hartnäckig festgebissen.

Schnell stand sie auf und tigerte unruhig durch ihr Zimmer. Ebenso wie ihr Körper war auch ihr Geist ruhelos. Natürlich verstand sie ihre Mutter. Welche Mutter wollte denn auch das einzige Kind sterben lassen? Vor allem, wenn tatsächlich eine Möglichkeit existierte, die den endgültigen Tod abwenden konnte. Jo seufzte tief und blieb stehen. Ihr Blick ging aus dem Fenster, hinunter auf die Straßen der Stadt. Sie schnaubte und wandte sich bitter ab. Aber nur, weil sie es verstand, hieß es nicht, das sie damit einverstanden war.

Abrupt wandte sie sich ihrem Bett zu und stürzte zu ihrem Nachtkästchen. Eilig zog sie die Schublade auf und griff nach dem Schlüssel für ihr Atelier. Sie brauchte jetzt ganz dringend eine Ablenkung! Und ihre Farben und eine Leinwand versprachen dies.

Jo durchquerte zügig ihr Zimmer, riss die Tür auf und lief in Richtung des Aufzugs. Da es ihr in diesem Moment zu lange dauerte, bis der Aufzug da war, riss sie die nahe gelegene Tür zum Treppenhaus auf. Sie ging nur selten hier durch, aber jetzt wollte sie nicht warten. Jo stürzte die Treppen hinauf, bis sie zwei Etagen weiter erneut die Tür aufriss. Nach wenigen weiteren Schritten hatte sie ihr Atelier erreicht und sperrte es auf. Sie öffnete die Tür und betrat den Raum.

Der beruhigende Geruch von Farbe schlug ihr entgegen. Einen kurzen Moment blieb sie stehen und inhalierte diesen Duft. Etwas ruhiger ging sie schließlich zur Wand, an der die Leinwände gestapelt waren. Jo hatte keine klare Vorstellung, was sie machen wollte, deswegen griff sie wahllos zu.  Schließlich stand sie mit einer mittelgroßen Leinwand von höchstens fünfzig auf vierzig Zentimeter auf. Die Größe erschien ihr richtig. Passend für ihr Vorhaben. Sie drehte sich zur Raummitte und sah zur Staffelei. Ein Blick reichte und sie blieb erstarrt stehen.

Sie hatte es total vergessen.

Seit dem einen mal vor über zwei Wochen, hatte sie den Raum nicht mehr betreten. Noch immer stand das große Bild auf der Staffelei. Plötzlich nervös leckte Jo sich über ihre trockenen Lippen. Die Gesichter von Braun und dem Monster blickten ihr überlegen entgegen. Sie hatte sie damals malen müssen, denn sie hatten sich zu diesem Zeitpunkt in ihren Kopf eingebrannt und nur so hatte sie die Erinnerung loswerden können. Letztendlich hatte es geholfen. Seitdem hatte sie nicht mehr an die beiden Männer denken müssen. Jo wandte ihren Blick von den beiden ab und besah sich das restliche Bild.

Ein schwarzer Strudel, in dessen Mitte sie saß und sich so klein wie möglich machte. Zu ihrer linken Seite die Männer von HYDRA und zu ihrer rechten ihre Familie und ihre Freunde. Ihr Vater, ihre Mum, Pepper, Bucky, Pietro, Wanda, Bruce, Steve, Natascha und Clint. Menschen die ihr in so kurzer Zeit wirklich ans Herz gewachsen waren. Ihre Rettungsanker während ihrer Gefangenschaft.

Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung und trat schließlich vor das Bild. Wie automatisch ging ihre Hand hoch und sie berührte die kleine Figur, die sie selbst darstellte. Genauso fühlte sie sich jetzt auch.

Klein.

Schwach.

Machtlos.

Jo schüttelte ihren Kopf und trat von dem Bild weg. Sie hatte anderes zu tun, als sich jetzt in der Betrachtung des Bildes zu verlieren. Abnehmen konnte sie es nicht, denn es war viel zu groß, als dass sie es allein tragen könnte. Aber so gesehen brauchte sie die Staffelei eigentlich nicht. Jo wandte dieser und dem Bild den Rücken zu und legte die neue  Leinwand auf den Tisch mit den Malutensilien. Der war groß genug.

Jo beugte sich über den Tisch und sah beinahe hypnotisiert auf das weiß vor sich. Dabei fielen ihre Haare über ihre Schulter und versperrten ihr die Sicht. Verärgert strich sie sich diese hinter ihre Ohren. Sie ließ ihre Hand wieder sinken und sah erneut auf die Leinwand. Dabei wurde ihr Blick von etwas anderem angezogen.

Die Schere.

Jo stockte und griff nach dieser. Ein beinahe verwegener Gedanke tauchte in ihrem Kopf auf. Wie hatte es ihr ihre Mum einmal gesagt? Wenn sie etwas ändern wollte, dann war es meist gut bei sich zu beginnen. Das hatte sie einmal scherzhaft gesagt, nachdem sie sich ihre langen Haare zu einem Bubi-Kopf hatte schneiden lassen. Gut, ganz so dramatisch wollte Jo es jetzt doch nicht. Aber etwas kürzer sollte doch nicht schaden.

Jo zog einen Haargummi aus der Hosentasche und band sich einen lockeren Zopf. Anschließend zog sie das Haarband etwas hinunter und griff mit zittrigen Händen nach der Schere. Jo nahm ihren Zopf in die linke Hand und führte ihre rechte hinter ihren Kopf.

Bedächtig schnitt sie sich die Haare, welche schließlich locker auf ihrer Schulter zu liegen kamen. Jo legte die Schere zurück und besah sich ihren abgeschnittenen Zopf. Sie musste schwer schlucken, als sie die braunen Haare in ihrer Hand sah. Es waren gute zwanzig Zentimeter, die sie los war. Vorsichtig legte sie den Zopf auf den Tisch und griff mit beiden Händen in ihre verkürzten Haare.

Es war anders. Leichter. Joannas Blick ging wieder zu ihren Haaren. Dabei erschien ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. So verrückt es auch klang. Sie fühlte sich ein bisschen besser.

Weiterhin lächelnd griff Jo nach einem Bleistift und skizzierte das Bild, welches ihr im Kopf herum geisterte. Beinahe in Hochstimmung und vor sich hin summend begann sie zu arbeiten.


Erschöpft fuhr sich Joanna mit ihrer Hand über die Stirn. Was störte es sie, dass sie dabei einen großen Farbfleck auf dieser zurückl ieß. In Gedanken versunken betrachtete sie ihr Bild. Durch die heutigen Enthüllungen waren längst vergessen geglaubte Erinnerungen wach gerufen worden.

Die Symbole, die sie einst so sehr gepeinigt hatten, zogen sich über das ganze Bild. Sie waren dominant, aber nur auf dem Bild. In Joannas Geist herrschte absolute Ruhe. Erleichtert atmete die Braunhaarige auf. Sie hatte einen Moment befürchtet wieder von diesen Zeichen heimgesucht zu werden.

Ihr Blick geisterte weiter über das Bild, bis sie schließlich an braunen Augen hängen blieb. Den Augen ihres dreizehnjährigen Ich. Jo stützte sich schwer auf denTisch und sah weiterhin gebannt in ihre eigenen Augen.

So viel war seit damals geschehen. Gutes. Schlechtes. Dinge, die ihre Welt erschüttert hatten. Sie unwiderruflich verändert hatten. Sie war sich aktuell nicht sicher, ob es zum Guten war.

Bei diesem Gedanken rollte eine einsame Träne Joannas Wange hinunter. Sie tropfte auf das Bild und brachte die noch feuchte Farbe etwas zum verlaufen. Verlieh ihrem Abbild ebenfalls das Aussehen, als wenn sie weinen würde.

Ein leises Klopfen ließ Jo aus ihrer Betrachtung hoch schrecken. Fahrig wischte sie sich über ihre Wangen, um ja alle Tränenspuren zu beseitigen. Sie warf einen flüchtigen Blick zur Uhr und stellte verwundert fest, dass es bereits nach zwei Uhr war. Wer konnte das nur sein?

„Herein?"

Die Tür öffnete sich leise und ein blonder Schopf schob sich durch diese. Pietros Augen weiteten sich verwundert als er sie erblickte und er betrat schließlich endgültig das Zimmer. Die Tür ließ er leise hinter sich zufallen und ging langsam auf Jo zu. Bei ihr angekommen, sah er sie erst lange an, bevor er seine Hand hob und die Spitzen ihrer Haare berührte.

Jo sah ihn etwas verunsichert an. „Gefällt es dir nicht?"

Pietro schüttelte mit einem Lächeln seinen Kopf. „Das ist es nicht. Es sieht nur ungewohnt aus. Aber es steht dir. Vor allem..." Dabei strich er mit einem breiten Grinsen über ihre Stirn. „... die Farbflecken lassen es sehr verwegen erscheinen."

„Oh." Jo hob dabei ihre Hände und sah auf die Farbe.

„Geht es dir gut?" Fragte der Blonde, nachdem er einige Zeit stumm auf das Bild geschaut hatte.

Jo folgte seinem Blick und blickte wieder auf ihr Bild. Versuchte es mit seinen Augen zu sehen. Es gelang ihr nicht. Sie konnte sich vorstellen, dass er viele Fragen haben musste. Fragen, welche sie ihm beantworten würde. Schließlich blickte sie wieder in sein Gesicht. Sah die Sorge um sie, welche sich in seinen Augen widerspiegelte. Anschließend nickte sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Ja. Es ist alles wieder gut." Sie schwieg einen Augenblick, während Pietro geduldig darauf wartete, dass sie weiter sprach. „Ich werde dir alles morgen erzählen. Aber zuerst brauche ich eine Dusche." Dabei verzog sie ihr Gesicht zu einer Grimasse und hielt ihre bunten Hände hoch.

„Ja, die brauchst du ganz dringend." Entgegnete Pietro, der sein Lächeln ihr gegenüber wieder gefunden hatte. Wobei Joannas nächsten Worte es erneut etwas verrutschen ließen.

„Kommst du mit?" Fragte Jo direkt und sah ihm dabei forsch in die Augen.

„Wohin soll ich mit dir?" Dabei sah er sie mit einem schiefen Grinsen an.

„Rede ich undeutlich?" Stellte Jo frech eine Gegenfrage. „Ich will wissen, ob du mit mir duschen gehst."

Pietro zögerte kurz. Joanna sah deutlich, dass er zwischen Vernunft und Verlangen schwankte. Er leckte sich nervös über seine Lippen, bevor er antwortete. „Jo... Ich denke nicht, das..."

„Dann denke nicht!" Unterbrach sie ihn aufgeregt. „Kommst du mit? Mach dir keine Gedanken über das, was passieren könnte! Egal was passiert, ich will es so!"

Stumm sah der Speedster sie an, bevor wieder Leben in seine Gestalt kam. Er schlang seine Arme um Jos Körper und zog sie stürmisch zu sich heran. Ebenso gierig suchten seine Lippen die ihren und verschmolzen zu einem leidenschaftlichen Kuss. Dieser währte lange. Als Jo schließlich meinte keine Luft mehr zu bekommen, löste Pietro sich von ihr.

„Zu dir oder zu mir?" Fragte er atemlos und sah sie gierig an.

„Zu dir." Erwiderte Jo nur knapp.

Mehr brauchte es nicht, sodass Pietro die Umarmung löste und nach ihrer Hand griff. Zügig begann er Jo aus dem Atelier zu ziehen. Diese warf noch einen letzten Blick auf ihr Bild. Es war an der Zeit vergangenes hinter sich zu lassen. Denn zu ändern war es sowieso nicht mehr.

Jo wandte sich wieder nach vorne. Sah dabei auf Pietros breiten Rücken. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Es war an der Zeit neue Erfahrungen zu machen.

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