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Mit weit geöffneten Augen lag Joanna in ihrem Bett und starrte an die Decke. Wieder eine Nacht die sie schlaflos verbrachte. Dabei wäre sie so müde. Aber sobald sie die Augen schloss und versuchte einzuschlafen, war sie wieder an diesem Ort. Ihrer Zelle.

Dann sah sie Braun.

Sah das Monster!

Joanna erschauderte und zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. Wickelte sich vollkommen darin ein, bis nur noch ihr Gesicht heraus sah. Es beruhigte sie tatsächlich ein bisschen so eingemummelt zu sein. Sie hätte auch heute wieder eine Schlaftablette nehmen sollen. Nach deren Einnahme erwischte sie wenigstens etwas Schlaf. Zumindest war es die letzten Nächte so gewesen. Aber wenn sie Tabletten nahm, dann fühlte sie sich den darauffolgenden Tag über schlecht.

Ein lautes Seufzen erklang unter dem Deckenberg. Tagsüber konnte sie die Tage ihrer Gefangenschaft so gut vergessen. Da war sie abgelenkt. Denn es war immer jemand da, mit dem sie reden konnte oder der einfach nur da war. Ihr Vater hatte sich für die nächste Zeit sogar von allen Missionen freistellen lassen. Einfach damit er für sie da sein konnte. Und es half tatsächlich. Er brachte sie zum Lachen und lenkte sie ab. Aber Nachts kamen die Gedanken wieder, die dann unablässig ihre Kreise in ihrem Kopf zogen. Immer wieder dasselbe. Buckys Gegenwart in den letzten Nächten hatte geholfen. Aber das war nun einmal keine Dauerlösung. Was nun?

Wahrscheinlich waren erst wenige Stunden vergangen, seitdem sie bei Wanda gewesen war und von dieser ein Kleid bekommen hatte. Sie drehte sich zur Seite und sah in Richtung der Fenster. Durch die Lamellen schien das Mondlicht und malte schmale Streifen auf den Boden. Ein schweres Seufzen kam über ihre Lippen. Es war wohl immer noch mitten in der Nacht. Jo drehte sich in ihrem Deckenkokon auf ihre andere Seite und wagte es zum Wecker zu sehen.

Zwei Uhr.

Und sie lag bereits einige Zeit lang wach. Was sollte sie nun machen? Sich bis zum Morgen in ihrem Bett herum drehen? Jo schälte sich aus ihrer Decke und setzte sich auf. Ein Griff neben das Bett genügte und sie hatte ihre Jacke in der Hand. Schnell zog sie diese an und stand anschließend auf. Während sie ihre Hausschuhe suchte, überlegte sie zu wem sie gehen könnte. Sie erinnerte sich an Pietros Angebot von vor ein paar Tagen. Mit einem Lächeln schüttelte sie ihren Kopf. Es wäre verlockend zu ihm zu gehen, aber Jo war sich nicht sicher, ob er der richtige Ansprechpartner war. Eher nicht. Er würde sie ohne Zweifel ablenken, aber es würde wohl zu keinem vernünftigen Gespräch kommen. Denn natürlich war sie so dumm und wollte ihn nicht in ihre düsteren Gedanken hineinziehen. Nicht ihn.

Jo sah wieder zu ihrem Wecker. Es war inzwischen Viertel nach zwei. So konnte es nicht weiter gehen. Sie musste mit jemandem reden!

„Hey Friday! Kannst du mir sagen ob Bruce noch wach ist und wo er sich aufhält?"

Nach einem Moment der Stille kam schließlich eine Antwort. „Der Doktor ist wach und befindet sich im Labor."

„Danke dir."

Jo setzte sich in Bewegung. Sie öffnete leise die Tür und schielte auf den Gang hinaus. Auch heute Nacht hatte sie wieder Glück, denn es herrschte Stille. Leise, damit auch ja niemand aufwachte, lief sie zum Aufzug. Schnell war das Gefährt da und brachte sie zur gewünschten Etage. Sie stieg aus und sah, dass Labor und Werkstatt gleichermaßen erleuchtet waren. Kurz überlegte sie doch zu ihrem Vater zu gehen, verwarf diesen Gedanken aber schnell. Ihn hatte sie gestern gestört, wobei er das natürlich nie zugeben würde. Vielleicht hatte Bruce ein paar Ideen und Ratschläge. Da war sich Jo sogar ziemlich sicher.

Jo blieb vor der Tür stehen und drückte langsam auf die Klinke, sodass sich die Tür leise öffnete. Sie trat ein und schloss die Tür ebenso leise wieder. Vorsichtig sah sie sich suchend nach Bruce um. Schließlich entdeckte sie ihn auf der Sofaecke, die im hinteren Teil des Raumes stand. Vor ihm stand eine dampfende Tasse, sowie eine Kanne und er hatte sich mit geschlossenen Augen entspannt zurückgelehnt. Dabei lauschte er leiser Klaviermusik. Jo bemerkte das und wollte sich bereits umdrehen und den Raum wieder verlassen. Dabei verursachte sie aber ein kleines Geräusch, welches sie ertappt zusammen zucken ließ.

„Hallo Joanna! Du brauchst nicht zu gehen." Erklang Bruce' Stimme hinter ihr.

Jo drehte sich wieder um und sah entschuldigend in Richtung des Doktors. Langsam ging sie zu ihm und setzte sich zu ihm auf das Sofa. „Es tut mir leid dich geweckt zu haben. Aber Friday sagte, du wärst wach."

Bruce lächelte sie daraufhin an. „Wo die gute Friday auch Recht hat. Ich habe nur kurz mit geschlossenen Augen etwas überlegt." Er beugte sich vor, griff nach der Kanne und schüttete etwas von dem Inhalt in eine frische Tasse. Der Duft von Bergamotte verbreitete sich darauf hin im Raum.

„Kein Kaffee?" Fragte Jo verwundert und griff nach der Tasse, die Bruce ihr reichte. Sie inhalierte den Duft und nahm mit einem Lächeln einen kleinen Schluck. „Ich mag einen guten Earl Grey."

„Ich auch." Bruce nahm seine Brille ab, putzte diese und sah sie dabei genau an. „Kannst du nicht schlafen?"

Joannas Lächeln fror etwas ein und sie sah betreten auf ihre Tasse. Schließlich nickte sie.

„Willst du darüber reden?" Fragte Bruce schließlich mitfühlend.

„Wirklich?" Jo sah ihn amüsiert an. „Ich dachte, du bist nicht diese Art von Arzt? Zumindest sagst du es Dad immer wieder."

„Du kommst ja auch nicht jeden zweiten Tag zu mir und erzählst mir deine ganze Lebensgeschichte. Dein Vater hingegen schon. Ich kenne inzwischen jede Episode aus seinem Leben. Ob ich will oder nicht!" Dabei verzog er kurz sein Gesicht. „Am schlimmsten war es als du im Koma gelegen bist. Da lag er jeden Tag hier auf dem Sofa und hat mir seine Sorgen erzählen müssen. Stellenweise hat er dann bis zu seiner Kindheit ausholen müssen. Er kann so anstrengend werden, wenn ersich Sorgen macht."

Joanna lachte auf, als sie das hörte. Sie konnte es sich bildlich vorstellen. Ihr Vater hier auf dem Sofa liegend und Bruce der daneben saß und versuchte nicht einzuschlafen.

„Bist du eingeschlafen?" Fragte sie belustigt.

Als Antwort kratzte sich Bruce nur verlegen am Hinterkopf. Die Antwort reichte Jo. Sie trank noch einen Schluck von dem duftenden Tee und lehnte sich entspannt zurück. Einen Moment sah sie stumm vor sich hin. Sie musste aussprechen, was ihr auf dem Herzen lag. Es würde sich sonst in sie hineinfressen. Das gestrige Gespräch mit ihrem Vater war deswegen schon ein guter Anfang gewesen.

„Sobald ich die Augen schließe, bin ich wieder dort. Die Männer von HYDRA sind dann wieder da. Also bleibe ich lieber wach." Gab sie schließlich leise von sich. „In dem Moment fühle ich mich genauso, wie zu dem Zeitpunkt als ich dort war. Genau dieselben Gefühle. Die Hoffnungslosigkeit. Die Angst. Aber auch Wut."

„Wut?" Fragte Bruce verwundert. „Die zwei Gefühle davor verstehe ich. Aber Wut? Wie passt sie da hinein?"

Jo stellte ihre Tasse auf den niedrigen Tisch und betrachtete ihre verschränkten Finger. „Hauptsächlich Wut auf mich selbst. Weil ich eine Solotour in die Stadt gemacht und niemandem Bescheid gegeben habe. Wäre jemand dabei gewesen, dann wäre ich nie entführt worden. Mir wäre nichts geschehen und auch jeder andere hätte sich keine Sorgen machen müssen!"

„Das ist eine vollkommen unbegründete Sorge." Erwiderte Bruce. „Natürlich haben wir uns alle Sorgen gemacht, aber es ist nicht deine Schuld. Wir können, aber auch nicht wissen, was geschehen wäre, wenn du hier geblieben wärst. Wahrscheinlich hätte HYDRA sonst einen anderen Weg gefunden."

„Ich weiß." Gab Jo zur Antwort. „Ich bin zu demselben Ergebnis wie du gekommen. All das habe ich mir die letzten Tage auch bereits gesagt. Immer und immer wieder. Aber es lässt mich dennoch nicht schlafen."

„Hast du es vielleicht schon mit dem Schreiben eines Tagebuchs versucht?" Schlug Bruce nachdenklich vor. „Oder aber du versuchst deine Gefühle und Gedanken in einem Bild zu kanalisieren. Nicht auf digitale Art, sondern ganz altmodisch mit Pinsel und Farbe."

Joannas Gesicht hellte sich bei dem Gedanken etwas auf. „Eine große Leinwand und viele Farbtöpfe haben durchaus ihren Charme."

„Und das Bild kannst du uns irgendwann zeigen oder nicht. Es soll hauptsächlich dir helfen. Ich denke tatsächlich, dass es helfen könnte." Während er sprach, sah er nachdenklich zu einem Bild, welches eine der Wände zierte. „Kunst geschieht oft unbewusst. In solchen Bildern zeigen wir uns selbst. Einen verborgenen Teil von uns."

„Hast du etwa auch mal ein Bild auf diese Art gemalt?" Fragte Jo vorsichtig.

Bruce blinzelte kurz verwirrt und sah sie anschließend an. Kurz wirkte er erstaunt. Dadurch merkte Jo, dass er sie bei seinem Vortrag tatsächlich vergessen hatte. Sie zeigte ein kleines Lächeln und griff nach ihrem Tee.

„Wie bitte?" Fragte Bruce schließlich.

Jo schüttelte ihren Kopf. „Nichts." Sie trank einen Schluck des inzwischen kalten Getränks. „Liegt hier zufällig ein Tablett herum? Dann kann ich gleich meine Bestellung an Materialien machen."

Ohne Worte reichte ihr der Doktor gewünschten Gegenstand, den er unter einem Stapel Kissen hervorgezogen hatte. Jo nickte dankend und öffnete gleich einen Browser. Schnell hatte sie das Geschäft für Künstlerbedarf gefunden, in dem sie am gestrigen Tag mit Pepper gewesen war. Dort hatte sie große Leinwände gesehen. Eine von diesen würde für ihre Zwecke ausreichend sein. Schnell wurde sie auch bei den restlichen Utensilien fündig. Schließlich schrieb sie an die Filiale eine Mail und bat darum, diese Gegenstände für den heutigen Tag zur Abholung bereitzustellen.

So saßen beide schweigend da. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür zu dem Labor und beide sahen dem Neuling entgegen. Es war Tony, der mit einem schiefen Lächeln auf sie zukam. Zügig näherte er sich dem Sofa und setzte sich neben Joanna. Er warf anschließend einen interessierten Blick auf den Bildschirm des Tabletts.

„Was sehe ich da? Du bist wieder wach?" Dabei versuchte er nicht zu besorgt zu klingen, was Jo aber heraushörte und ihn daraufhin anlächelte.

„Ja, es ist mal wieder eine dieser Nächte."

„Wieso bist du nicht zu mir gekommen?" Fragte er etwas vorwurfsvoll.

Daraufhin zog Jo eine Augenbraue hoch und sah ihn erst einmal nur an. Schließlich zuckte sie mit ihren Schultern, wandte sich wieder dem Bildschirm zu und gab ihm erst dann eine Antwort. „Darfst etwa nur du Bruce konsultieren? Dabei ist er ja nicht einmal ein Psychiater oder Psychologe." Sie sah ihn wieder an, dies mal amüsiert. „Hast du ein Monopol auf Bruce?"

Von ihrer anderen Seite hörte Jo daraufhin ein entsetztes Keuchen. Beide Starks wandten sich diesem Geräusch zu. Bruce sah sie entsetzt an.

„Ich bin nicht dein Therapeut! Such dir jemanden der das kann!" Erwiderte er aufgebracht.

„Aber Brucie!" Tony schob schmollend seine Unterlippe vor. „Nur dir kann ich vertrauen!"

„Ich will aber nicht!"

Jo besah sich das ganze amüsiert. Sie beschloss einzuschreiten. Nicht das ihr Vater Bruce noch tatsächlich reizte. „Dad?" Mit großen Augen sah sie zu ihm.

Dieser wandte sich ihr zu und sah sie an. Schließlich, als er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm, verzog er sein eigenes misstrauisch. „Was willst du?"

„Nichts Schlimmes!" Beteuerte Jo sofort.

„Das sagen sie immer. Also?" Fragte ihr Vater noch einmal.

„Ich brauche einen großen Raum, den ich abschließen kann und deine Kreditkarte."

„Wofür brauchst du das alles?" Noch immer war er misstrauisch. „Richtest du dir eine eigene Drogenküche ein?"

„Ich will malen." Antwortete Jo ehrlich. „Bruce meinte, es könnte dabei helfen meine Entführung aufzuarbeiten."

Einen Moment lang sah ihr Vater sie schweigend an. Anscheinend schien er diese Idee in seinem Kopf zu überdenken. Schließlich nickte er zustimmend. „Okay. Kannst du beides haben. Noch einen Wunsch?"

„Kann jemand die Utensilien heute für mich abholen?"

Tony sah auf den Bildschirm des Tabletts und besah sich das Logo des Ladens. „Hast du ihnen geschrieben was du brauchst?" Er wartete Joannas nicken ab. „Klar. Ich schicke gleich in der Früh jemanden los."

„Danke." Erwiderte Jo und lehnte sich gegen die Lehne. Müde blinzelte sie ihren Vater an.

„Du solltest ins Bett gehen." Sagte er mit einem liebevollen Lächeln zu ihr.

Jo nickte nur und erhob sich langsam. Dann wandte sie sich an Bruce. „Danke dafür das du zugehört hast."

Dieser lächelte zurück. „Das habe ich doch gerne gemacht. Du kannst jederzeit zu mir kommen."

„Hey!" Entrüstete sich Tony. „Was ist mit mir?"

„Du nicht!" Erwiderte Bruce bestimmt. „Ich bin nicht so ein Doktor!"

Jo besah sich das Spektakel amüsiert, bevor sie sich abwandte und Richtung Tür ging. Außerhalb des Labors wandte sie sich zum Aufzug und fuhr in ihre Etage zurück. Sie war sich sicher, dass sie jetzt würde schlafen können.

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