Teil 8
In den nächsten Tagen machte sich ein Gefühl in Evelyna breit, welches sie bis dahin noch nicht kannte. Glück. Es war eine wahre Erleichterung für sie, sich nicht länger verstecken zu müssen und auch wenn Grindelwald ihre Gesellschaft bisher eher als lästig empfand, so tat das ihrer guten Laune keinen Abbruch.
Meistens recherchierten sie gemeinsam vormittags in den Aufzeichnungen und Notizen, die Grindelwald und Albus angefertigt hatten, um dann Nachmittags, meistens mit einer neuen Idee, die Bibliothek zu suchen.
Evelyna hielt sich zwar in der Öffentlichkeit an Grindelwalds Regeln, aber wenn sie alleine waren, versuchte sie häufig ihr Glück und fragte ihn aus. Wo er gelebt hatte, ob er Geschwister hatte oder auch nach Freunden. Grindelwald beantwortete keine einzige Frage, doch Evelyna gab nicht auf, was auch daran lag, dass sie spürte, dass ihre Hartnäckigkeit ihn insgeheim belustigt.
Es dauerte etwa eine Woche, bis sie auch nach außen zu zeigen begann, was sie von den strengen Regeln der Gesellschaft hielt. Nämlich nicht viel. Sie begann unauffällig zu rebellieren, zum Beispiel mit Handschuhen, die nicht mehr bis über den Ellenbogen gingen, sondern wirklich nur die Hand bedeckten und Hüte, die immer kleiner wurde.
Als sie beides eines Tages komplett wegließ, quittierte Grindelwald dies mit einem Augenrollen, während sie auf der Straße viele irritierte Blicke bekam. Doch die störten Evelyna nicht. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl, etwas direkt mit den Fingern zu berühren oder den kalten Wind zu spüren, der über sie hinwegfegte, aber es waren neue Erfahrungen, die sie mit Begeisterung machte. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich lebendig.
Grindelwald ließ sie machen, ihn störte es wenig, wie sie sich kleidete, solange sie ihm eine Hilfe war. Und das war sie, wie er feststellen musste. Sie hatte einen wachen Verstand und achtete auch auf Kleinigkeiten, die er gerne übersah.
Es gab Momente, in denen sie fast freundschaftlich miteinander redeten, da Evelyna auch lernte, wie Grindelwald dachte und wann sie einfach los reden konnte und wann nicht und Grindelwald bemerkte, dass er Evelyna nicht durch Drohungen oder ähnlichem beeindrucken und verjagen konnte.
„Willst du eigentlich nur den Elderstab haben oder noch eins der Heiligtümer des Todes?", wollte Evelyna an einem Vormittag wissen, als sie etwas länger als zwei Wochen auf Island waren.
„Du hast nicht mal an den Elderstab geglaubt und nun glaubst du an alle drei?", fragte Grindelwald zurück, ohne von seinen Notizen aufzusehen. „Wie kommt das denn?"
Evelyna runzelte die Stirn. Warum musste er immer alles hinterfragen? Sie war nicht bereit, ihm zu erzählen, von wem sie abstammte und dass ihre anfängliche Skepsis nur der Tarnung diente. Sie erzählte ihm so schon genug über sich.
„Du scheinst so sicher zu sein, dass dieses Märchen wahr ist, das ich nun zumindest versuchen will, auch daran zu glauben. Die Möglichkeit in Betracht ziehen." Zum Glück erkannte er keine Lügen, dachte sie bei sich. „Doch ich gebe ehrlich zu, dass ich nicht jeden Aspekt des Märchens Glauben schenken werde."
Grindelwald hob nun doch den Kopf und sah sie an.
„Ach ja? Und welchem Teil nicht?"
„Ähm..." Evelyna vergaß, was sie sagen wollte, denn Grindelwald sah sie nur selten wirklich an. Doch jedes Mal, wenn er das tat, war sie fasziniert. Fasziniert von der scheinbaren Tiefe in seinen Augen, die so viel und gleichzeitig nichts verriete. Und von dem Feuer, dass hinter seinen Augen tobte, das alles verwüstende Feuer. Dieser Anblick hatte etwas so hypnotisierendes an sich, dass sie den Blick erwidern musste, ob sie wollte oder nicht.
Und noch etwas passierte diesmal. In ihr. Es fühlte sich an, als würde sich etwas verschieben und ihr die Luft zum Atmen nehmen, während sie sich gleichzeitig zu ihm hingezogen fühlte.
„Miss Potter?" Seine Stimme brachte sie in die Realität zurück und Evelyna blinzelte. Grindelwald hatte die Stirn gerunzelt und musterte sie. „Ist alles in Ordnung?"
Rasch nickte Evelyna, während sie innerlich den Kopf schüttelte.
„Natürlich."
Was war gerade passiert? Er hatte sie doch nur angesehen!
„Also?"
Grindelwald musterte sie immer noch, mit hochgezogenen Brauen. Evelyna sah ihn wieder an, achtete aber diesmal darauf, ihm nicht in die Augen zu sehen. Deren Wirkung hatte sie definitiv unterschätzt. Und offenbar wartete er auf eine Antwort, aber Evelyna konnte sich an keine Frage erinnern. Es war wirklich entwürdigend.
Anscheinend war ihr die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben, auch wenn sie stets darauf achtete, sich nichts anmerken zu lassen und keine Gefühle zu zeigen.
„Welchen Teil der Geschichte glaubst du nicht?" Grindelwald redete langsam, als wäre sie ein kleines Kind. So fühlte sie sich im Moment auch, wenn sie ehrlich war. Es war ihr sehr unangenehm.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Brüder dem Tod begegneten", erklärte sie, um den Rest ihres Stolzes bemüht – auch wenn sie gerade den größten Teil schon verloren hatte. „Das der Tod beleidigt war, dass die Brüder nicht ertrunken sind und ihnen trotzdem ein Geschenk machte. Das finde ich ein wenig unrealistisch."
„Was ist stattdessen deine Theorie?"
„Das sie, wenn es die Heiligtümer wirklich gibt, von den drei Brüdern selber hergestellt wurden. Vielleicht war der erste Bruder ein Zauberstabhersteller und der zweite Alchemist, der einen Stein so verändert hat und mit verschiedenen Zaubern belegte, dass er Tote zurückholte. Und der dritte konnte einfach ein fähiger Zauberer sein."
„Das ist durchaus denkbar. Dieser Stelle konnte ich auch nie recht glauben. Der Tod wird zwar als gerissen beschrieben, doch alleine durch die Tatsache, dass er die Brüder nicht zu sich nimmt, wirkt es wie ein Märchen. Es lässt den Tod fast freundlich erscheinen. Aber das ist er nicht. Er ist grausam."
„Wie kommst du darauf?" Evelyna war sich ziemlich sicher, dass er gerade wieder eine persönliche Erfahrung geschildert hatte und sie wollte wissen, was er erlebt hatte. Er sprach nie über seine Vergangenheit.
Doch Grindelwalds Redebedarf schien gedeckt zu sein.
„Das weiß doch jeder. In dieser Gewissheit werden doch Kinder erzogen", sagte er einfach.
„Ich würde den Tod trotzdem nicht als grausam beschreiben. Ich bin mir sicher, dass er wirklich als Freund erscheinen kann, der einen von sämtlichen Qualen heilt."
Grindelwald schnaubte.
„Ja, sicher. Aber es gibt auch Menschen, die hätten noch mehr Zeit verdient. Die hat der Tod aus dem Leben gerissen, als sie glücklich waren. Das ist nicht besonders freundlich."
„So einfach kann man es sehen. Aber weiß man mit absoluter Sicherheit, dass sie glücklich waren? Und vielleicht ist es besser, glücklich zu sterben, als unglücklich, mit einer Menge Probleme belastet. Vielleicht will der Tod diesen Menschen einfach nur etwas ersparen."
Für einen Moment sah Grindelwald Evelyna sprachlos an, während sie – betont interessiert – eine Seite umblätterte. Dann –
„Man merkt, dass du noch nie eine geliebte Person verloren hast."
Evelyna hob den Kopf. Grindelwald sah sie noch immer an und diesmal konnte sie den ungeheuren Schmerz in seinen Augen sehen, der das Feuer auslöste. Sie wollte den Schmerz studieren, herausfinden, was ihn auslöste, doch stattdessen spürte sie nur wieder, dass es ihr unmöglich war, den Blick abzuwenden. Das tat Grindelwald, indem er wieder auf seine Blätter sah und Evelyna wurde etwas klar.
„Das ist wahr", sagte sie leise. „Denn ich habe noch nie eine Person geliebt."
„Dann bist du zu bedauern. Dann führst du kein Leben. Du überlebst nur."
Evelyna dachte einen Moment über diese Worte nach und musste sich eingestehen, dass er wahrscheinlich Recht hatte. Plötzlich erschien es ihr in dem Raum stickig und sie stand auf.
„Das mag stimmen. Aber darum bin ich ja auch von zu Hause weggelaufen. Ich will etwas erleben."
„Das erwähntest du bereits ein paar Mal."
„Ich werde eine Runde spazieren gehen." Evelyna wartete keine Antwort ab, sondern floh fast aus dem Raum.
Der Flur war leer und alle anderen Türen waren geschlossen, weswegen sie sich einen Moment des Durchatmens gestatte. Evelyna lehnte sich gegen die kalte Mauer und rutschte an ihr hinunter.
Irgendwas lief hier schief. Ganz gewaltig. Aber was? Was war eben bei dem Blickkontakt anders gewesen, als noch vor einer Woche? Ihr fiel nichts ein, was ihre Überreaktion rechtfertigen würde. Aber es musste doch einen Grund geben, weswegen seine Augen nun so eine Wirkung auf sie hatten!
Schritte ertönten und Evelyna sprang rasch wieder auf. Sie schloss kurz die Augen und spürte, wie ihr Gesicht zu der ausdruckslosen Maske wurde, die es ihr ganzes Leben lang war. Ein Gesicht, dem man nichts ansehen konnte. Hoffte sie zumindest.
Die Schritte kamen näher und Cal erschien in ihrem Sichtfeld. Evelyna spürte eine Woge der Abneigung in sich aufkommen. Sie hatte sich nicht an ihn gewöhnt, eher wuchs der Hass auf ihn. Kurz überlegte sie, zurück ins Zimmer zu gehen, doch diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Stattdessen richtete sie sich auf, drückte ihre Schultern nach Hinten und hob ihr Kinn.
Cal hatte sie natürlich schon entdeckt und kam auf sie zu.
„Kann ich Ihnen helfen?" Die Frage war freundlich formuliert, doch Evelyna hatte seine abfälligen Blicke bemerkt, als sie begann, die Regeln der Gesellschaft zu ignorieren. Er hatte stets respektvoll gewirkt, doch Evelyna konnte den Schein durchschauen.
„Nein, Sie können mir nicht helfen", antwortete Evelyna. Er war mit Sicherheit der Letzte, der das konnte. Nur sie selbst konnte sich helfen, auch wenn sie nicht wusste, wie.
„Sie werden bald wissen, was mit Ihnen los ist", sagte Cal, als er an ihr vorbeiging. „Es läuft nicht immer alles nach Plan."
Reglos sah Evelyna ihm nach. Sie traute ihm nicht. Kein bisschen. Doch scheinbar wusste er mehr, als er vorgab zu wissen – was sie erst recht in dem Glauben bestärkte, dass er etwas zu verbergen hatte.
Aber das half ihr in keinster Weise weiter.
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