Teil 29

Der Gedanke verfolgte Valeria, als sie das Ministerium verließ und zurück in den Tropfenden Kessel reiste. Sie ging nur kurz zurück in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Sie wollte es wagen, einen Spaziergang durch das Muggel-London zu machen, da reichte ein einfaches Tageskleid.

Sie wollte sich nicht wieder in der Winkelgasse zeigen, da die Schule wieder losgegangen war. Zwar war es auch nicht unüblich, privat unterrichtet zu werden, aber selbst dann wurde es nicht gerne gesehen, wenn man unter der Woche einkaufen ging. Schon gar nicht bei einer jungen Frau, die alleine unterwegs war. In der Muggelwelt sah es ein wenig anders aus.
Da gab es noch andere Schulen, abgesehen von Internaten. Schulen, wo es den Schülern gestattet war, nach dem Unterricht nachhause zu gehen. Ein merkwürdiger Gedanke, doch so hatte es in einem der Bücher gestanden, die sie über das heutige London gelesen hatte. In diesem Fall kam es ihr zugute. Ihre Anwesenheit würde weniger auffallen.

Von außen betrachtet ging sie mit diesem Ausflug in die Londoner Muggelwelt ein kleines Risiko ein. Sie war noch nie in London gewesen, kannte sich in der Stadt nicht aus. Außerdem war sie alleine, ohne Anstandsdame, Gouvernante oder Ähnliches. Aber daran verschwendete Valeria keinen zweiten Gedanken. Sie wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen, so würde sie sich nur Ärger einhandeln, doch vor Muggeln würde sie sich nicht rechtfertigen. Und verirren würde sie sich auch nicht.

Um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, legte Valeria einen Zauber über sich, sobald sie den Pub verließ, der dafür sorgte, dass man sie zwar bemerkte, aber nicht wirklich wahrnahm. Der die Konzentration der Menschen von ihr weg lenkte. So hatte sie ihre Ruhe und begann ihren Ausflug in die Muggel-Welt.

Während Valeria durch die Straßen ging, achtete sie nicht auf den Weg, ihre Gedanken kreisten um die Idee, die ihr vorhin kam. Zu ihrer eigenen Beerdigung zu gehen. Sie biss sich auf die Unterlippe; der Gedanke beunruhigte sie schon ein wenig. Doch eigentlich hatte sie nichts zu verlieren. Alles, was ihre Familie anbelangte, hatte sie schon verloren. Und vielleicht könnte es ihr helfen, mit ihrem alten Leben abzuschließen.

Sie blieb abrupt stehen. Sie war die ganze Zeit die Charing Cross Road entlanggegangen, ohne irgendwo abzubiegen, aber jetzt zog ein großer Platz auf ihrer rechten Seite ihre Aufmerksamkeit auf sich. Valeria überquerte die Straße und betrat ihn. Ihr direkt gegenüber war eine breite Treppe und sie konnte die Säulen oben erkennen, die vermutlich zu einem Museum gehörten. Ein riesiger Turm stand unmittelbar vor ihr, mit einer Skulptur oben drauf, was Valeria an ein Denkmal erinnerte. Vier mächtige Steinlöwen lagen ihm zu Füßen, an jeder Ecke einer und schienen ihn zu beschützen.

Valeria musterte die Löwen skeptisch und bildete sich ein, dass die Statue, die ihr am nächsten war, sie ebenfalls beobachtete. Sie spürte diese mächtige Aura, die Gegenwart von Magie. Es war wie ein vertrautes Prickeln unter ihrer Haut, ein warmes Gefühl. An sich nichts Schlimmes, würde sie diese Art der Macht nicht an das Ministerium erinnern. Sie griff nach ihrem Zauberstab – und der Löwe kniff die Augen zusammen. Valeria erstarrte, konnte sich nicht mehr bewegen und ihre Zunge war am Gaumen festgeklebt. Dann war es vorbei. Sie holte tief Luft, der Löwe sah wieder normal aus. Er beobachtete sie nicht mehr. Das Leben war wieder aus ihm gewichen und sah mit toten Steinaugen ins Leere.

In diesem Moment wurde Valeria klar, dass auch im Muggel-London die Magie allgegenwärtig war. Sie war versteckt, diente hier nur dazu, Zauberer und Hexen daran zu hindern, zu zaubern, aber es gab sie. Was wohl passieren würde, wenn sie jetzt ihren Zauberstab rausholen würde? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Löwen sich auf sie stürzen würden, aber vielleicht würde eine Nachricht ans Ministerium gehen. Das Risiko wollte sie nicht eingehen. Diese Löwen dienten als Warnung. Sie waren vermutlich die Augen des Ministeriums an solch öffentlichen Plätzen.

Mühsam wandte sich Valeria von den Löwen ab und ließ ihren Blick weiterschweifen. Der Turm und der Treppe begrenzten den Platz in zwei Richtungen, waren beide aber mittig auf einer Linie. Wenn man auf geradem Weg vom Turm zur Treppe ging, ging man genau zwischen zwei großen Brunnen durch. Auf den Rändern saßen einige Menschen, den Kleidern nach zu schließen, hauptsächlich Touristen.

Valeria ging zur Mitte des Platzes, und sah sich von dort nochmal um – die Löwen ignorierte sie. Gegen ihren Willen war sie von diesem Platz beeindruckt, von dem, was die Muggel hier geleistet hatten, auch wenn scheinbar ebenfalls Zauberer beteiligt waren.

Einiges müsste man renovieren, aber im Großen und Ganzen war dieser Platz nicht schlecht für öffentliche Ansprachen – irgendwann in der Zukunft. Sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie die Löwen gegen andere magische Geschöpfe ausgetauscht wurden, die Statue auf dem Turm würde Gellert abbilden, während dieser in dem Halbdunkel der Abendstunden beschienen von hellem Licht am oberen Ende der Treppe eine Rede hielt und der magischen Gemeinschaft, mit der der Platz gefüllt war, klar machte, dass sie nicht dazu bestimmt waren im Schatten zu leben. Dass sie sich erheben sollten.

Sie blinzelte und die inneren Bilder wurden wieder von der Realität verdrängt. Muggel. Doch manchmal waren sie auch zu etwas gut, wie Valeria klar wurde, als sie eine Gruppe Touristen zuhörte, die gerade eintraf. Sie entschieden sich offenbar für eine Pause, froh, den größten öffentlichen Platz in London gefunden zu haben, den Trafalgar Square. So hieß er also.
Eigentlich wollte Valeria noch weiter gehen, noch mehr von London entdecken, aber sie fühlte sich irgendwie nicht in der Lage, diesen Platz zu verlassen. Auch wenn es hier vor Muggeln nur so wimmelte, die Augen des Ministeriums hier geöffnet waren, fühlte sie sich hier wohl. Sie ging zu einem Brunnen, zu dem, den auch die Touristengruppe in Beschlag genommen hatte, und lehnte sich gegen den Rand.

Sie wollte noch kurz die Touristen belauschen, was sich allerdings als nicht so einfach herausstellte, da sie zum einen mit einem ziemlichen starken, ihr unbekannten Akzent sprachen und zum anderen offenbar keine Manieren hatten. Sie redeten alle durcheinander.
Valeria warf einen Blick zu den Löwen, doch die taten genau das, was sie tun sollten. Nichts. Also beschloss sie, das Risiko einzugehen, schließlich war es nicht verboten, heimlich zu zaubern. 

Ohne ihren Zauberstab zu benutzen, formte sie mit ihren Lippen einen Zauberspruch. Sofort wurden die Geräusche der Stadt zu einem Hintergrundgeräusch, während die Stimmen der Touristen deutlich zu hören waren, jetzt strukturiert und klar verständlich für Valeria.

Offenbar waren sie heute den ersten Tag hier und hatten bereits den Piccadilly Circus gesehen und planten, als Nächstes zur Themse gehen und den Uhrturm Big Ben zu betrachten. Dann entbrannte eine Diskussion, ob sie an der Themse entlang gehen wollten, bis sie den Tower erreichten, der als königliche Gefängnis gebaut worden war und gleich noch die erst vor wenigen Jahren eröffnete und moderne Tower Bridge besuchten oder ob sie das auf den nächsten Tag verschoben. Sie entschieden sich schließlich, diese Strecke am morgigen Tag zu gehen und für heute den Rückweg durch den St. James Park anzutreten, damit sie sich noch den Buckingham Palace ansehen könnten. Dann würden sie zwar auch wieder durch den Hyde Park müssen, den sie schon kannten, doch schienen sie das nicht als schlimm zu empfinden.

Valeria ging stark davon aus, dass diese Orte typische Touristenmagnete waren und das dort, ähnlich wie hier, die Augen des Ministeriums zu finden waren. Kurz überlegte sie, ob sie am morgigen Tag diese These überprüfen wollte, doch entschied sich dann, es spontan zu entscheiden. Vielleicht würde ja noch etwas dazwischenkommen. Von planen hielt sie eh nicht viel.

Sie atmete tief ein, als ihr Zauber seine Wirkung verlor und die Geräusche von London wieder ungefiltert auf sie einströmten. Das Klappern der Pferdehufen und Kutschen auf den Straßen, sowie die motorisierten Fahrmöglichkeiten, die es immer mehr gab und die mit ihrem Knattern und Dröhnen sehr viel unerträglicher waren. Außerdem stanken sie fürchterlich. Die Abgase von großen Fabriken, die für Städte typisch waren, traten ungefiltert in die Umwelt ein, ließen den heute blauen Himmel dunkel und grau wirken und das Sonnenlicht kam nur spärlich in der Stadt an. Wahrscheinlich beruhte der Mythos von dem dauerhaft schlechten Wetter auch daher. Die Abgase verfinsterten alles. Dazu kam noch das laute Stimmgewirr und hin und wieder Glockenschläge.

An den Straßen und auch hier auf dem Platz hatten Händler ihre Stände aufgestellt und priesen mit lauten Rufen ihre Waren an. Ohne echtes Interesse schlenderte Valeria an den Ständen vorbei, in einem Abstand, von dem sie den Verkauf sehen konnte, ohne dass es so wirkte, als wolle sie auch was kaufen.

Ein Stand bot Kleidung an, von Unterkleidern für Frauen bis zu Gehröcken für Männer, welche eigentlich schon seit ein paar Jahren aus der Mode waren. Auch Decken mit Stickerein wurden verkauft und alles wurde als hand- und selbstgemacht dargestellt.

Viele verkauften Backwaren, süße und klebrige Donuts, trockene Kuchen und Kekse sowie Brote. Manches war noch ein wenig verziert, wahrscheinlich um es ansprechender zu gestalten, doch es wirkte nicht gerade appetitlich. Es konnte vom Optischen einfach nicht mit dem Essen mithalten, welches die Hauselfen in Hogwarts oder in ihrem Elternhaus für sie zubereitet hatten.

Am nächsten Stand wurden Fleischwaren verkauft, wieder einen weiter, Fisch. Von dem Geruch wurde Valeria fast schlecht, so dass sie rasch zu ihrem Platz am Brunnen zurückkehrte.
Doch wenn sie schon mal hier war, dann müsste sie sich London eigentlich auch noch ein wenig mehr ansehen. Valeria erhob sich wieder und schlenderte, wieder ohne auf den Weg zu achten, zur nächstbesten Straße und folgte ihr.

Valeria war vielleicht noch nie hier gewesen, aber sie wusste, dass London als Hauptstadt eines Weltreichs wie ein Magnet auf viele wirkte. Das Bild, welches London vermittelte, war das einer wohlhabenden, fortschrittlichen und glamourösen Stadt, ohne Probleme, die sich rasend schnell entwickelte. Und das in jeder Hinsicht.

Die Bevölkerung wuchs stetig an und es wurden immer mehr Geräte entwickelt, die die Arbeit der Muggel auch ohne Magie erleichterten, schließlich hatte auch die Industrialisierung im englischen Empire seinen Ursprung. Aber London war wie eine Medaille, von der viele nur die Vorderseite sehen wollten, welche auch immer voller Stolz gezeigt wurde. Die Rückseite erschreckte.

Valeria ging davon aus, dass sie sich hier in einem der wohlhabenderen Viertel der Stadt befand und dass sämtliche Attraktionen der Stadt regelmäßig gesäubert wurden. Doch sobald man die offiziellen Wege verließ, weil man sich verirrt hatte oder eine Abkürzung gehen wollte, sah man die Armut. Die Verwahrlosung. Die Hoffnungslosigkeit. Die vor Dreck und Unrat strotzenden Viertel der Stadt. Direkt vor aller Augen, doch die meisten wanden bewusst den Blick ab.

Die Menschen, die mit Mühe vom Straßenbild verbannt worden waren, gehörten noch unter die unterste Gesellschaftsschicht. Sie hatten alles verloren und das machte sie gefährlich. Sie hatten sogar sich verloren.

Mit Hilfe von Zauberei könnten diese Menschen gerettet werden. Man könnte ihnen wieder eine Aufgabe, einen Lebenszweck geben. Nichts Glorreiches, natürlich. Nichts Ruhmreiches. Sie würden niemals wirklich in der Gesellschaft aufsteigen, doch sie könnten saubere Sache tragen, würden Essen bekommen. Sie wären wahrscheinlich weniger wert als Hauselfen, die konnten immerhin noch in einem gewissen Rahmen Magie betreiben, doch trotzdem könnte es die Verlorenen retten. Sie wären dann mit jenen gleichgestellt, die sie jetzt in den Untergrund getrieben hätten.

Dies könnte man als Beispiel aufzählen, warum eine Welt, in der die Magie allgegenwärtig und offen war, in der alle von den magischen Fähigkeiten etwas hatten, ein besserer Ort sei, als jetzt. Gegen die Armut und den Hunger könnte man besser vorgehen, woran die wohlhabenden Muggel ja nicht interessiert waren.

Valeria verstand nicht, was so schlimm daran wäre, das Geheimhaltungsabkommen aufzuheben. Es hätte nie so weit kommen müssen, hätten die Zauberer den Muggeln damals den Krieg erklärt, als sie zu weit gingen. Hätten sie damals, im 17. Jahrhundert, gezeigt, wie mächtig sie wirklich waren. Sicher, einige Hexen und Zauberer waren mächtiger als andere, das hatte sie in Hogwarts und im täglichen Leben beobachtet, aber Valeria konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es damals niemand mit wütenden und aggressiven Muggeln aufnehmen konnte. Sie schämte sich fast dafür, dass einer ihrer Vorfahren, Ralston Potter, sich für das Abkommen einsetzte. Sie hätte das nie getan.

Valeria schüttelte den Kopf, um in die Gegenwart zurückzukehren. Es brachte niemanden weiter, über die Vergangenheit nachzugrübeln. Sie konnte nur die Zukunft beeinflussen und verändern. Und das hatte sie fest vor.

Ein kühler Windzug fegte über sie hinweg, riss an ihrer Kleidung und sie aus ihren Gedanken. Als Valeria aufblickte, musste sie feststellen, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war. Vor ihr lag die Themse, ein Fluss mit dunklem, dreckigen Wasser, von der ein strenger Geruch aufstieg und sich über alles legte. Die Sonne verschwand gerade hinter den Dächern, ein paar letzte Strahlen fielen auf ihr Gesicht, wärmten es. Dann waren auch sie verschwunden und Valeria schauderte, überrascht von dem plötzlichen Temperatursturz.

Sie zog ihren Mantel enger um ihre Schultern. Das London, das jetzt erwachte, hatte nichts mehr mit dem London zu tun, dass die Welt kannte, musste sie feststellen, als sie sich umsah.
Sie wusste zwar nicht, wo genau sie war, doch ganz offensichtlich hatte sie einen Stadtteil gefunden, über den sie eben noch nachgedacht hatte. In welchem die Menschen arm waren, die Häuser baufällig und das Leben nicht einfach.

Elektrisches Licht war hier noch nicht in den Häusern angekommen, das dämmrige Licht, das aus den Fenstern drang, erinnerte an Kerzenschein und von den Straßenlaternen schienen sehr viele kaputt zu sein – oder wurden erst gar nicht aufgestellt.

Der beißende Geruch nahm zu, wann immer eine Windböe durch die Straßen fegte. Es war der Geruch nach Unrat, Schimmel, Krankheit und Tod.

Ein Kratzen und Schmatzen erklang hinter zwei Tonnen im Schatten, doch es war dort zu dunkel, als dass Valeria erkennen konnte, ob das Geräusch von einem Menschen oder einem Tier verursacht wurde. Sie vermutete aber Ratten oder Katzen.

„Miss?"

Valeria fuhr herum, ihre Hand lag auf ihrem Zauberstab.

Ein Junge stand vor ihr. Seine Kleider waren zerfetzt und dreckig, seine Füße blank. Die langen, verfilzten Haare waren größtenteils von einer Kappe verdeckt, wodurch auch sein Gesicht größtenteils im Dunkeln lag.

„Sie sollten um diese Uhrzeit nicht mehr auf Londons Straßen unterwegs sein." Ihm fehlten ein paar Zähne, wodurch ein leichtes Lispeln entstand. „Das ist gefährlich."

Valeria schätzte die Gefahr, die von dem Jungen ausging, nicht übermäßig groß ein, weswegen sie ihren Zauberstab wieder los lies.

„Dann werde ich mich auf den Rückweg machen", sagte sie.

Der Junge nickte.

„Noch ist es nicht zu spät. Aber Sie müssen sich beeilen. Ansonsten wird Ihnen der Rückweg abgeschnitten. Dann sind entweder die Straßen Ihre Heimat oder Sie haben keine mehr."

Valeria richtete sich auf. Von diesem kleinen Jungen würde sie sich nichts sagen lassen.

„Es wäre ein Fehler, mich zu bedrohen", zischte sie. „Ich bin nicht wehrlos und man sollte sich nicht mit mir anlegen. Sag das auch deinen Freunden."

Damit wandte sie sich um und ließ den Jungen stehen. Diesen Stadtteil wollte sie verlassen. Hier müsste aufgeräumt werden, doch nicht von ihr. Und nicht jetzt. Diese Zeit würde kommen – hoffentlich bald – und dann würden auch zweite Chancen vergeben werden. Aber jetzt wollte sie zurück in den Tropfenden Kessel.

Rasch ging sie durch die Straßen, verließ sich auf ihren Instinkt, welcher ihr eigentlich immer den richtigen Weg wies und hielt sich dabei im Schatten verborgen. Sie verzichtete darauf, ihr Zauberstablicht zu entzünden. Zum einen würde das dann die Aufmerksamkeit auf sie ziehen und es würde alles außerhalb des erleuchteten Radius noch dunkler erscheinen lassen. Sie verließ sich lieber auf ihr Gefühl und Gehör.

So erreichte sie ein belebteres Viertel, wo die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten aufeinandertrafen – beziehungsweise die unteren von den oberen ausgenutzt wurden. Valeria sah mehrere hell erleuchtete Bars, aus denen lautes, dröhnendes Gelächter drang.

Die Frauen in der Dämmerung unterschieden sich in der Garderobe von denen am Tag. Valeria konnte nicht anders, als sie anzustarren. Sie hatte nichts dagegen, ihre Handschuhe, ihren Hut oder ihr Korsett wegzulassen, aber die Kleider dieser Frauen waren sogar in ihren Augen skandalös. Es waren eng am Körper anschmiegende Kleider, sehr figurbetonend mit ungehörig weitem Ausschnitt, die nur knapp bis zu den Knien gingen. Rauchend standen sie in der Dämmerung vor einem großen Gebäude, dessen Vorhänge überall zugezogen waren.

Bei diesem Anblick wusste Valeria es mit einem Mal zu schätzen, dass sie privilegierter geboren worden war. Sie verstand auf einmal die ganzen Regeln, die verhindern sollten, dass sie so endete. Wie oft hatte sie sich darüber aufgeregt, dass die ganzen Regeln – sowohl gesellschaftlich, als auch die Kleidung betreffend – so einengend waren, dass man das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Doch es ergab Sinn. Mit einem Anflug von Schuldgefühlen dachte sie an all die Male, in denen sie sich nicht daran gehalten hatte, nicht auf ihre Erziehung gehört hatte, die nun erst zu schätzen wusste. Wie oft wurde ihr gesagt, dass ein Korsett weit mehr als nur ein Kleidungsstück war, sondern auch ein Zeichen des Werts. Sie hatte nicht zugehört. Jetzt verstand sie es. Mühsam wandte Valeria ihren Blick ab und konzentrierte sich auf den Weg.

Sie war schon ein gutes Stück vorangekommen, als sie aus einer dunklen Gasse links von ihr ein Wispern hörte. Es klang nach zwei, vielleicht auch drei Personen. Ihren Zauberstab in ihrer Hand, aber noch unter dem Ärmel ihres Mantels verborgen, ging sie mit unveränderter Geschwindigkeit an der Gasse vorbei, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen.

Valeria war bewusst, was andere sahen, wenn sie sie ansahen. Dass sie ein Mädchen aus gutem Hause sahen, dass mehr besaß, als manche Familie hier. Dieser Teil mochte auch stimmen, selbst jetzt noch, wo sie eigentlich für ihre Verhältnisse nicht mehr viel hatte. Eigentlich nichts mehr, aber sie wusste, wer sie war. Aber es wurde auch damit gerechnet, dass sie sich alleine unwohl fühlte, sich fürchtete. Und das stimmte nicht. In solchen Situationen fühlte sie es. Sie nahm alles in ihrer direkten Umgebung ungewöhnlich klar und verstärkt wahr. Sie fühlte ihren eigenen Herzschlag, ruhig und gleichmäßig. Sie fühlte ein Kribbeln im Bauch, als Zeichen der Neugierde. Sie fühlte sich lebendig.

Auch als sie an der Gasse vorbeigegangen war und Schritte hinter sich hörte, die vorher noch nicht da gewesen waren, fürchtete sie sich nicht. Sie fühlte nur Aufregung. Valeria ließ ihren Zauberstab aus ihrem Ärmel in ihre Hand rutschen und mit einer Bewegung, als wolle sie sich etwas aus dem Gesicht streichen, hatte sie ihn auf Augenhöhe. Sie hob ihr Kinn und stieß ihre Atemluft aus dem Mund aus. Obwohl die Temperaturen eigentlich noch im angenehmen Bereich lagen und die Atemluft nicht als Wolke zu sehen sein dürfte, war sie es bei ihr. Sie verflüchtigte sich auch nicht sofort, sondern blieb vor ihr schweben, auch während sie weiterging. Valeria stieß sie kurz mit ihrem Zauberstab an, ihre Lippen bewegten sich geräuschlos, während sie einen Zauber wirkte, den sie noch nicht häufig ausprobiert hatte. Aber es funktionierte. Für den Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich ihre Atemluft in eine reflektierende Oberfläche und Valeria konnte die Gestalt hinter ihr orten, bevor der Zauber nachließ und die Wolke verschwand.

Die Gestalt hinter ihr war größer als der Junge vom Platz und Valeria vermutete, dass sie nicht allein unterwegs war. Sie rechnete damit, dass wenigstens ein anderer aus Londons Untergrund möglichst parallel zu ihr ging, während ihr Verfolger sie zu einem bestimmten Treffpunkt treiben sollte.

Nur würde sie da nicht so einfach mitspielen.

Kurz entschlossen bog sie in die nächste Seitengasse, die zwischen zwei großen Gebäuden in deren Schatten lag, stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass es sich um eine Sackgasse handelte und wartete, entspannt gegen die Wand gelegt mit einem leichten Lächeln.

Als schließlich ihr Verfolger in die Gasse einbog, mit einem siegessicheren Grinsen im Gesicht, da er dachte, sie hätte sich verirrt, drehte sie den Spieß um, wurde von der Gejagten zur Jägerin.

„Sie scheinen mit mir sprechen zu wollen; kann ich Ihnen weiterhelfen?"

Selbst im Dunkeln konnte sie sehen, wie er jetzt kurz irritiert innehielt. Dann hatte er sich aber auch wieder gefangen.

„Ich weiß nicht. Können Sie?"

Er kam auf sie zu, wieder grinsend, als könnte er nicht glauben, dass sie so einfach in eine Falle gelaufen war. Wenn er nur wüsste ...

„Wenn Sie klug sind, halten Sie sich von mir fern", erklärte Valeria. „Zu Ihrer eigenen Sicherheit."

Ihr Verfolger lachte grunzend auf und spuckte auf den Boden.

„Hab schon gehört, dass Sie gern große Töne spucken. Sich für was Besseres halten."

„Nun, zwei Dinge. Zum einen scheinen Sie ja mit dem Jungen gesprochen zu haben, ich hoffe, er hat dann auch meine Warnung überbracht. Ich bin nicht wehrlos. Und zweitens halte ich mich nicht für was Besseres, ich bin etwas Besseres. Was zugegebenermaßen ja auch nicht schwer ist."

„Nicht mehr, wenn wir mit Ihnen fertig sind. Dann wird keiner –" Er brach ab, griff sich an die Kehle, hustete und würgte, während ihm die Luft abgeschnitten wurde, bis er schließlich auf die Knie fiel.

Valeria stieß sich langsam von der Wand ab und schritt auf den jungen Mann zu, Hass funkelte in ihren Augen, während er nur ein flehendes Wimmern von sich geben konnte. Ihren Zauberstab wirbelte sie zwischen ihren Fingern.

„Ich habe Sie gewarnt. Ich habe es gesagt. Sie wollten nicht hören. Also ist es Ihre jetzige Lage Ihre Schuld." Sie sah zum Eingang der Gasse. „Wie lange muss ich warten, bis Ihr Freund hier eintrifft? Zwei Minuten? Drei? Oder fünf? Ich habe nicht unendlich viel Zeit. Ein wenig Schlaf will ich schließlich diese Nacht schon noch bekommen. Oh, da ist er ja schon."

Soeben war eine zweite Gestalt am Eingang erschienen, die die Gasse vorsichtig betrat. Valerias erster Verfolger, der mittlerweile blau angelaufen war, versuchte, ihn mit Gesten davon abzuhalten, dichter zu kommen, doch vergebens. Die Augen des Neulings glitten über Valeria und seinen Freund und er schien zu verstehen. Doch anstatt das einzig Richtige zu tun und wegzulaufen, entschied er sich für die Heldennummer.

Valeria konnte nur seufzen, während sie beobachtete, wie er etwas aus seinen zerschlissenen Sachen zog, scheinbar ein Messer, und auf sie zulief. Es gab eine kleine Grenze zwischen Mut und Dummheit, Heldenhaftigkeit und Selbstmord. Diese Grenze verschwamm häufig, das hatte sie auch in Hogwarts bei den Gryffindors schon beobachtet. Sie konnte darüber nur den Kopf schütteln. Sie würde immer sich selbst retten.

So auch jetzt.

„Ich gebe auch Ihnen die Chance, es sich nochmal zu überlegen!", informierte sie auch ihn, doch er schien sie nicht zu hören.

Valerias Augen glitten über das Messer und ohne darüber nachzudenken, als hätte sie es schon immer tun wollen, hob sie ihren Zauberstab, ein grellgrüner Blitz flammte auf und der Körper des jungen Mannes flog ein paar Meter zurück, wo er mit einem scheußlichen Knacken auf den Boden aufschlug und regungslos liegen blieb.

Langsam ließ sie ihren Zauberstab wieder sinken und atmete langsam die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. Sie wusste nicht, was sie von sich selbst erwartete. Vielleicht dass sie zu ihm rannte, doch sie blieb stehen. Vielleicht, dass sie vor Überraschung oder Schreck schrie, doch sie blieb ruhig. Vielleicht dass sie etwas fühlte, doch auch das war nicht der Fall. Höchstens Überraschung. Und Freiheit. Ein Gefühl der absoluten Freiheit, was süchtig machte.
Valeria wandte ihre Augen von der leblosen Gestalt ab, sah zu seinem Freund, dem sie die Luft abgeschnitten hatte. Und noch nicht wieder gegeben hatte. Er lag auf der Seite, blau im Gesicht und es war kein Zauber mehr da, den sie aufheben konnte, wie sie feststellte.

Sie verzog ihren Mund. So hatte sie sich ihren Abend eigentlich nicht vorgestellt, aber es war zu spät. Sie waren beide tot. Blieb nur die Frage, ob sie ihre Spuren verwischen sollte. Das Ministerium hatte zum Glück noch keine Möglichkeiten, bestimmte Zauber zu verfolgen, sonst hätte sie ein Problem. Sie bezweifelte auch stark, dass die Muggel sich sonderlich für diese beiden interessieren würde. Und vielleicht ...

Valeria ging zu der Leiche, die immer noch das Messer umklammerte. Um den Kopf herum hatte sich eine Blutlache gebildet. Also könnte man davon ausgehen, dass sich beide gegenseitig umgebracht hatten. Sie nickte. Das klang gut.

Sie schloss kurz die Augen, konzentrierte sich auf diese Vorstellung und legte dann einen Verwirrungszauber über diesen Tatort. Niemand aus der magischen Gesellschaft würde sich jemals dafür interessieren. Niemand würde jemals auf die Idee kommen, dass hier ein sechzehnjähriges Mädchen zur Mörderin geworden war.

Die beiden Jugendlichen waren Brüder gewesen, die nie Freundlichkeit erfahren hatten. Früher hatten sie nur gestohlen, was sie, ihr kleiner Bruder und ihre Mutter zum Überleben brauchten, doch das hatte sich geändert. In ihnen war eine Verbitterung aufgekommen, großer Hass und viel Verachtung für die höhere Gesellschaft. Gepaart mit dem Wunsch nach Selbstzerstörung war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis etwas passierte. Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder waren nun auf sich allein gestellt.

Valeria betrat ihr Zimmer und ließ sich auf den Stuhl vor dem Spiegel fallen. Sie betrachtete ihr emotionsloses Gesicht. Allein ihre Augen verrieten etwas, sie wirkten glänzend, als hätte sie Fieber. Sie verspürte immer noch eine Art Hochgefühl, welches ihr gänzlich fremd war. Im Spiegel blickte ihr eine ausgerissene Mörderin entgegen. Obwohl ihr all das bewusst war, konnte sie es nicht wirklich glauben. Sie hatte es geschafft und nun jede Bindung zu ihrer vornehmen Herkunft zerrissen.

Als sie kurze Zeit später im Bett lag, dachte sie immer noch nicht so darüber nach, wie man es erwartete. Wie sie sollte. Sie spürte nicht den Funken einer Reue. Sie war überrascht von sich selbst, dass sie den Todesfluch ohne Übung ungesagt beim ersten Mal hinbekommen hatte. Das hatte sie nicht wirklich erwartet. Sie dachte an ihre Eltern, deren schlimmste Befürchtung nun wahr geworden war.

Das einzige, was dafür sorgte, dass sie ein schlechtes Gewissen bekam, war die Erkenntnis, dass sie ihr Versprechen Gellert gegenüber gebrochen hatte. Sie hatte mit schwarzer Magie experimentiert.

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Und das erfolgreich.


So, bevor ich morgen nach London fahre, dachte ich, lade ich mal noch ein Kapitel hoch😊
Es ist auch ein wenig länger.

Was haltet ihr von dieser Entwicklung?
Und habt ihr Vermutungen, wie es weitergeht?🤭

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