Teil 27
Noch am selben Tag, am Abend, hatte Valeria den Antrag für eine Namensänderung zu ihren Eltern geschickt, zusammen mit einem langen Brief.
Sie hatte beschrieben, wie enttäuscht sie von ihren Eltern war, da sie Henry stets bevorzugten und sie – nach ihrer Meinung – nie wirklich geliebt hatten. Valeria hatte geschildert, dass sie sich selbst einen Namen machen und ihre Vergangenheit hinter sich lassen wollte. Ihre Eltern mussten sie nicht verstehen, sie mussten nur erlauben, dass sie sich komplett von dieser Familie löste.
Valeria hatte damit gerechnet, dass es dauern würde, bis sie eine Antwort erhielt. Vielleicht einfach nur das unterschriebene Formular, vielleicht noch ein paar kurze Zeilen, aber ohne einen richtigen Inhalt. Ohne etwas, dass sie berührte.
Niemals hätte sie erwartet, das bereits am nächsten Morgen die geliehene Eule sie aus dem Schlaf reißen würde, die nicht nur den unterschriebenen Vertrag um ihr Bein bekommen hatte, sondern auch einen Brief, der ihr den Eindruck vermittelte, dass ihre Eltern sich doch durchaus für sie interessierten und sie eventuell besser kannten, als Valeria bisher angenommen hatte.
„Tochter,
zuerst einmal solltest du wissen, dass wir diesen Brief gemeinsam schreiben. Es sind unsere Gedanken und Worte, nicht nur die deiner Mutter oder die deines Vaters. Wir verstehen all deine Gefühle, aber bitte bemühe dich, auch uns zu verstehen.
Wir wollen nicht bestreiten, dass wir enttäuscht waren, eine Tochter zu bekommen, anstelle eines Erben. Aber vergiss nicht, du bist unsere Tochter, natürlich liebten wir dich. Doch trotzdem leben wir nun mal in einer Zeit, in der es darum geht, die Töchter möglichst einflussreich, wohlhabend und natürlich standesgemäß zu verheiraten. So sind die Regeln unserer Gesellschaft. Mit den Blacks verbindet uns seit vielen Jahren eine Freundschaft, die mühsam aufgebaut wurde und die nun durch eine Hochzeit besiegelt werden sollte.
Viele Jahre haben wir versucht, dir diese Werte beizubringen – unsere Werte. Die ersten Jahre dachten wir auch, wir hätten Erfolg, doch seit der Geburt deines Bruders hast du dich immer weiter von uns entfernt. Wir wurden strenger mit dir, du wurdest stiller und zugleich rebellischer. Es wurde immer schwerer, dich zu verstehen, weil du dir nichts hast anmerken lassen.
Du wurdest ein anderer Mensch, ein Mensch, der nicht in diese Zeit passt. Vielleicht würdest du dich in hundert Jahren wohler fühlen, denn auch wenn die alten Zaubererfamilien, wie wir, auf Traditionen und Bräuche bestehen, so ist uns doch klar, dass sich diese Welt ändern wird. Und du wirst von diesen Veränderungen profitieren.
Wir versichern dir also, wir haben dich geliebt und wollten immer nur das Beste für dich, in Form einer sicheren Ehe und Zukunft. Doch je weiter du dich von uns entfernt hast, desto mehr ergriff auch eine Dunkelheit Besitz von dir. Sie war schon immer ein Teil von dir, doch in deiner Kindheit noch nicht so ausgeprägt. Aber je älter du wurdest, desto mächtiger wurde sie. Wir mussten Henry vor dir beschützen – und uns auch. Irgendwann wurde uns klar, dass du Henry nichts tun wirst, doch wir wussten nicht, wie du uns gegenüberstehst.
Eigentlich hätten wir mit diesem Wissen zum Ministerium gehen müssen, damit man dich beobachtet. Zu deinem Schutz und dem aller anderen. Doch das konnten wir nicht. Es wäre Verrat gewesen, die eigene Tochter so auszuliefern. Das wurde uns klar, nachdem wir darüber gesprochen hatten, nachdem uns noch etwas anderes aufgefallen ist. Etwas, dass es noch komplizierter machte ...
Wir wussten, dass du uns verachtest. Damit haben wir gelernt zu leben. Doch womit wir nicht leben konnten, war die Erkenntnis, dass du uns nicht liebst. Dass du Henry nicht liebst. Dass du niemanden liebst. Wir wussten nicht, ob du einfach nicht in der Lage bist, dieses Gefühl zu empfinden, oder ob es an uns lag.
Doch nachdem wir das herausgefunden hatten, war alles anders. Wir konnten dir nicht mehr in die Augen sehen, konnten dich nicht mit Henry allein lassen, konnten dich nicht vor dir selbst beschützen. Wir fühlten uns ohnmächtig. Manchmal dachten wir, du würdest gar nichts fühlen, wärst gefühlsblind, weil du allem so gleichgültig gegenüberstandest und mit deinen Kräften kein Mitleid oder anderes zu empfinden wäre katastrophal. Doch dann bemerkten wir, dass du deine anderen Gefühle nur versteckst – zumindest hofften wir es.
Als du uns dann eröffnet hast, dass du die Schule abbrechen wirst, hast du uns zum Handeln gezwungen. Der Gedanke, dass du nun das ganze Jahr bei uns wohnst – bei Henry – hat uns angst gemacht. Du wart nicht mehr das harmlose kleine Mädchen, du warst eine gefährliche, intelligente Hexe. Zur Sicherheit der Familie wollten wir die Hochzeit vorziehen, doch wieder hast du uns einen Strich durch die Planung gemacht.
Du wolltest wissen, warum wir dich verheimlichten, anstatt dich wie andere Töchter und Mädchen in die Gesellschaft einzuführen. Nun, kannst du dir diese Frage nicht selbst beantworten? Wir hatten Angst. Nicht nur, dass du mit deinem Verhalten den Ruf und die Ehre der Familie beschädigen würdest, sondern auch um das Leben aller anderen. In Hogwarts war es anders. Du warst abgelenkt, hattest eine Beschäftigung. Bei offiziellen Anlässen hättest du dich gelangweilt und mit der Langeweile kommen Ideen.
Was wir eigentlich sagen wollen ist, wir haben dich immer geliebt. Du bist unsere Tochter. Doch die Dunkelheit in dir machte es uns immer schwerer, bis wir uns schließlich vor dir fürchteten. Vor allem, da du die drohende Dunkelheit bemerktest und sie zu nutzen lerntest, weswegen du so begabt und mächtig warst. Es war ein kleiner Trost, dass du so auch lerntest, die Dunkelheit zu kontrollieren, doch trotzdem bliebst du eine Gefahr.
Wir hoffen sehr, dass du sie eines Tages besiegen kannst und wenn du dazu in die Freiheit fliehen musst, dann ist das so. Du musst deinen Weg selber gehen, das ist uns nun klar. Vielleicht triffst du auch auf jemandem, der dir hilft. Der dir beibringt, zu lieben. Du kannst Großes in dieser Welt bewirken, denn du bist eine intelligente Hexe. Bitte pass auf dich auf, dass du dich nicht verlierst, nicht auf die schiefe Bahn gerätst oder benutzt wirst.
Wir wünschen dir alles Glück auf deinen Weg – wo auch immer er hinführen und enden wird.
Deine Eltern
P. S. Wir haben in deinem Namen ein Verlies bei Gringotts geöffnet und es mit fünfzig Galleonen belastet. Damit kannst du dir vielleicht den Start deines neuen Lebens finanzieren.
P. P. S. Wir bitten dich nicht, uns zu verzeihen, nur uns zu verstehen, wie wir es auch bei dir tun. Du kannst dir sicherlich denken, dass wir Henry nicht sagen können, was mit dir los ist. Wir werden ihm erzählen, dass du einen Unfall hattest und dich beerdigen. Er muss trauern dürfen, um seine geliebte Schwester, die er verloren hat. Nur so wird er damit abschließen können."
Valerias Hände zitterten, eine seltene Gefühlsäußerung. All die Jahre dachte sie, ihre Eltern würden sie hassen, dabei fürchteten sie sich vor ihr. Sie dachte, sie wäre ihren Eltern egal, dabei versuchten sie nur, Henry zu beschützen. Sie dachte, ihre Eltern würden sie nicht wirklich kennen, dabei hatten sie sie durchschaut. Es fiel ihr sehr schwer, dass zu glauben.
Warum hatte sie es nicht erkannt? Vermutlich, weil ihre persönlichen Gefühle ihre Sicht beeinträchtigt hatten. Die Wahrheit war etwas Subjektives, das hatte Valeria mittlerweile gelernt. Die eine Wahrheit gab es nicht. Außerdem hatte sie zum Schluss nur noch sehr selten mit ihren Eltern gesprochen, wodurch sie auch die Chance verpasst hatte, die Wahrheit zu erfahren.
Doch auch wenn sie Gellert gesagt hatte, dass es ihr nicht möglich war, die Wahrheit auf dem Papier zu erkennen, so wusste sie trotzdem, dass dieser Brief nur der Wahrheit entsprach.
Geistesabwesend ging Valeria zum Fenster, sah hinaus auf die Straßen und Dächer Londons. Beobachtete, wie die Stadt zum aufwachte, ohne es wirklich zu sehen. Es war ihre Schuld, dass ihre Eltern ihr jetzt so ablehnend gegenüberstanden und das nicht, weil sie ein Mädchen war.
Konnte sie wirklich nicht lieben? War sie nicht in der Lage, dieses Gefühl zu empfinden? Sie hatte bisher noch niemanden geliebt, aber war das wirklich die Ursache dafür?
Valeria schloss die Augen, doch sah trotzdem die Zeilen des Briefes vor sich. Sie hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. ,Vielleicht triffst du auf jemandem ... der dir beibringt zu lieben ... lass dich nicht benutzen ...'
Sie hatte Gellert Grindelwald getroffen, der in ihr etwas auslöste, was ihr fremd war. Vielleicht würde sie niemals herausfinden, was es war, denn konnte man lernen zu lieben? Ihre Eltern schienen es zu glauben, doch Valeria konnte es sich nur schwer vorstellen. Sie war Gellert vom Nutzen, doch das war sie freiwillig. Er hatte ihr oft genug die Gelegenheit geboten zu gehen. Selbst jetzt ...
Noch war es nicht zu spät. Noch könnte sie vielleicht zurückkehren, in ihr altes Leben. Keine Geheimnisse mehr zwischen ihren Eltern und ihr – die sie ja sowieso gelüftet hätte. Keine Missverständnisse und Fehlinterpretationen, sondern endlich eine Beziehung, in der man ehrlich war, offen. Vielleicht könnte sie nun auch dort glücklich werden.
Ihre Atmung beschleunigte sich. Zum ersten Mal dachte sie, dass sie eventuell einen Fehler gemacht hatte. Wer brach schon aus seinem geregelten Leben aus, für jemanden, den man eigentlich gar nicht kannte? Diese Handlung zeugte nicht gerade von Intelligenz.
Sie hatten diesen Abstand gebraucht, den Mut, ihre Eltern mit den Vorwürfen zu konfrontieren und die Wahrheit zu erfahren. Anders hätte sie es niemals herausbekommen.
Wenn sie jetzt umkehrte, könnte alles anders werden ...
Doch ein Gedanke kam plötzlich in ihr auf, der diese vorsichtige und zerbrechliche Blase mit der Hoffnung auf eine Rückkehr zum Platzen brachte. Ihre Eltern fürchteten sich vor ihr. Vor ihren Kräften. Sollten sie nun noch herausbekommen, dass sie mit schwarzer Magie umzugehen lernen wollte, könnte sie sich gleich selbst anzeigen und den ersten Besen nach Askaban nehmen.
Ihre Eltern fürchteten sich so sehr vor ihr, dass die Angst alle anderen Gefühle überlagerte. Selbst die elterliche Liebe zu ihr. Für sie war sie tot. Nein, nicht für sie, Evelyna Valeria Potter war tot. Ebenso wie ihren Namen wollten ihre Eltern ihre Persönlichkeit beerdigen. Vielleicht würden sie am leeren Sarg weinen. Tränen um die Tochter vergießen, die sie sich nicht gewünscht, aber geliebt hatten. Die sie eigentlich hätte sein sollen.
Es gab kein zurück. Nicht für sie. Nicht in diesem Leben.
Ich wünsche euch allen einen schönen ersten Advent! Liegt bei euch auch Schnee?
Das Kapitel ist wieder ein wenig kurz ausgefallen, ich weiß, aber dafür kommt diesen Monat noch ein Kapitel. Hoch und heilig versprochen!🤝
Ich hätte noch eine Bitte an euch; vielleicht kennen einige von euch die Netflix-Serie "Shadow and Bone". Diese wurde jetzt nach zwei Staffeln mit einem gewaltigen Cliffhanger gecancelt, genauso wie das geplante Spin-Off, dessen Drehbuch schon fertig geschrieben ist. Nicht nur für Fans war diese Nachricht ein Schock, ebenso für die Schauspieler. Ich habe noch nie erlebt, dass Schauspieler*innen ihre Rollen so lieben.
Wir Fans akzeptieren das natürlich nicht einfach, weshalb eine Petition gestartet wurde. Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn ihr auch unterschreibt:
chng.it/4GbP7fX6Hh
Danke 🙏❤️
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