Teil 26

Sie drehte sich nicht zu ihm, doch zuckte zusammen. Ihre schmalen Schultern hoben und senkten sich ruckartig.

Gellert betrat ihr Zimmer und schloss die Tür, während er gleichzeitig noch einen abhörsicheren Zauber wirkte. Ihre Gespräche gingen niemanden etwas an.

„Wie geht es dir?"

„Das interessiert dich?" Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar und er konnte es ihr nicht verdenken.

„Natürlich interessiert es mich. Du bist –" Gellert schloss für einen Moment die Augen. „meine kleine Schwester."

Sie lachte auf, doch ohne Freude. Umgedreht hatte sie sich immer noch nicht.

„Mein Bruder war aber anders. Er hat sich gekümmert. Du bist einfach verschwunden."

„Gaelle, ich habe es dir erklärt. So ist es am sichersten für dich."

„Nein! So ist es einfacher für dich! Denn durch mich wirst du an alles erinnert."

Nun bewegte sie sich und Gellert wappnete sich innerlich. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Gesicht entstellt gewesen. Tiefe Schnitte waren es direkt nach dem Überfall gewesen, die sich in dicke und wulstige Narben verwandelt hatten. Von ihrem Strahlen war nichts mehr zu sehen gewesen.

Jetzt würde er erleichtert ausatmen, denn es waren nur noch lange, helle Linien zu erkennen, von unterschiedlicher Dicke, die zwar sofort den Blick auf sich lenkten, aber trotzdem die eigentlichen Gesichtszüge erkennen ließen, wenn der Ausdruck in ihren Augen nicht wäre. Sie hatten immer vor Lebensfreude gesprüht und gestrahlt, doch jetzt ließen sie geradewegs in eine zerbrochene Seele blicken. Das wollte Gellert nicht in den Augen seiner Schwester erkennen, auch wenn er zugeben musste, dass die Heiler hier ganze Arbeit geleistet hatten.

„Und du willst dich nicht erinnern", flüsterte Gaelle Grindelwald, die er hier als Joelle Mason angegeben hatte. Ihm war wichtig gewesen, dass der Vorname recht ähnlich klingend war, denn wie erklärte man einem kleinen Kind, dass es nun auf einen komplett anderen Namen hören sollte?

Gellert reagierte nicht, weswegen Gaelle unbeirrt weitersprach.

„Du hast mich nicht mehr lieb. Du willst mich nicht mehr sehen, deswegen sagst du, dass du mich beschützen willst. Dich habe ich auch verloren."

„Gae", begann Gellert. „Es tut mir leid. Wirklich. Ich tue dies wirklich zu deinem Schutz, aber ... ich kann nicht bestreiten, dass du teilweise Recht hast. Sehe ich dich, werde ich an das erinnert, was passiert ist. Ich werde an Galina erinnert, an unsere Familie – und das es meine Schuld war. Wäre ich da gewesen, würden sie noch leben. Es tut mir so leid. Alles, was ich für dich will, ist, dass du einigermaßen glücklich leben kannst. Doch das funktioniert nur, wenn wir einander loslassen. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, lass nicht zu, dass schlechte Erinnerungen es bestimmen."

In Gaelles Augen traten Tränen, doch nun rannte sie auf Gellert zu. Er hockte sich hin und hielt sie fest, als sie ihm um den Hals fiel.

„Du fehlst mir so", flüsterte sie leise und kaum verständlich, denn die Trauer erstickte ihre Stimme fast.

„Du mir auch, Süße", murmelte Gellert. Er hob sie hoch und setzte sich auf ihr Bett, Gaelle auf seinen Schoß.

„Und sie fehlen mir. Mummy, Daddy ... Galina." Wieder wurde sie von Schluchzern geschüttelt. 

Gellert streichelte über ihren Rücken, hielt sie fest, während sie wieder den Schmerz verspürte, der ihr widerfahren war. Gellert wollte sich nicht vorstellen, welches Grauen sie erlebt und gesehen haben musste.

Darum hasste er diese Besuche. Sie rissen alte Wunden wieder auf. Immer wenn er dachte, er hätte sich an den Schmerz gewöhnt, hatte gelernt, mit dem Loch in seinem Herzen zu leben, wurde er wieder eines Besseren belehrt. Doch sie war die Einzige, die ihm aus seiner Familie geblieben war. Sie war es Wert, den Schmerz zu ertragen. Ein letztes Mal, bevor er aus ihrem Leben verschwinden würde. Musste. Damit sie ein sicheres Leben leben konnte. Das musste er ihr erklären, doch nicht jetzt. Nicht heute.

Irgendwann hatte Gaelle sich wieder beruhigt und sah mit verweinten Gesicht zu Gellert auf.

„Warum bist du hier?"

„Ich wollte dich sehen. Wissen, wie es dir geht."

„Oh", machte Gaelle. „Es tut mir leid. Was ich gesagt habe ..."

„Das muss dir nicht leidtun. Du hattest ja Recht. In gewisser Weise hast du auch deinen Bruder verloren. Aber lass uns das einen anderen Tag besprechen."

„Du bleibst ein paar Tage?"

„Ich hoffe es. Wenn du willst."

„Natürlich!"

Gellert lächelte.

„Okay. Dann mache ich das."

Gaelle kuschelte sich an ihn.

„Wo wohnst du jetzt?"

„Ich habe eine Weile bei unserer Großtante Bathilda gelebt. In Großbritannien. Sie ist wirklich nett."

„Warum konntest du mich nicht zu ihr bringen? Mummy hat doch immer gesagt, Tante Betty würde auf uns aufpassen, auch wenn wir uns nicht kennen."

„Zu gefährlich. Außerdem wärst du ihr auf der Nase rumgetanzt, denn Durchsetzungsvermögen besitzt sie nicht. Mit dir wäre sie komplett überfordert gewesen."

Gaelle kicherte.

„Aber musst du nicht jetzt zurück nach Durmstrang? Die Schule hat doch schon wieder angefangen!"

„Ich habe sie abgebrochen. Ich möchte reisen", erklärte Gellert leise. Es war merkwürdig, die eigene Schwester anzulügen, auch wenn es nur zu ihrem Schutz war. Mit Lügen an sich hatte er kein Problem, doch seine Schwestern hatte er noch nie angelogen.

„Aber dann siehst du doch Alexandra gar nicht mehr!", protestierte Gaelle, die seine Freundin von Durmstrang sehr gemocht hatte und sie als zweite große Schwester angesehen hatte.

„Wir haben uns getrennt." Die genauen Umstände dieser Trennung musste er ihr ja nicht erklären.

„Oh." Gaelle schob ihre Unterlippe hervor. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Und jetzt? Hast du eine neue Freundin?"

Valerias Gesicht tauchte in Gellerts Geist auf, doch er schob es energisch zur Seite.

„Ich bin mir nicht sicher", antwortete er dennoch. „Ich habe wieder jemanden kennengelernt und mag sie auch, aber wir haben noch nicht näher darüber gesprochen, was das zwischen uns ist."

„Wie heißt sie?"

Gellert zögerte. Er hatte zwar jeden Hinweis auf ihre Verwandtschaft versucht zu verwischen, aber wenn in ein paar Jahren Auroren tief genug gruben, würden sie vielleicht trotzdem eine Verbindung herstellen. Es war zu riskant, ihren echten Namen preiszugeben.

„Morgana. Ihr Name ist Morgana."

„Schöner Name. Ist sie nett?"

„Sie ist anders. Gerissen, schlau und schwer zu durchschauen, dabei immer ruhig und abgeklärt und sehr talentiert und ehrgeizig."

„Klingt wie du."

Gellert lächelte. Sie war viel zu clever für ihr Alter.

„Ja, vielleicht hatten wir deshalb am Anfang unsere Schwierigkeiten miteinander. Sie hat sich an meine Fersen geheftet und ließ sich nicht vertreiben. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden und seit ein paar Tagen bin ich ihr fast dankbar, dass sie sich nicht hat abschütteln lassen."

„Du magst sie", stellte Gaelle mit einem leichten Lächeln fest. „Sehr."

„Wie kommst du darauf?"

„Ich weiß es einfach. Du versuchst zu sehr, es zu verbergen. So war es bei Alexandra am Anfang auch, doch irgendwann nicht mehr. Jetzt ist es wieder so."

„Gaelle", seufzte Gellert. „Ich weiß nicht, wo das hinführen wird. Oder ob ich möchte, dass es irgendwo hinführt. Ich wollte sie auf Abstand halten, aber jetzt ... Ich sehe sie eher als Schwester." Oder würde es zumindest gerne, ergänzte er gedanklich.

Gaelle schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein. Sie ist nicht Galina. Sie ist ihr nicht mal ähnlich. Mach das nicht."

„Das Alter kommt in etwa hin. Aber könntest du mal aufhören, so zu reden?", fragte Gellert, während er seiner Schwester mit der Hand durch das Haar fuhr. „Das gefällt mir nicht, da du dafür noch zu jung bist und es dir auch sonst in keiner Weise ähnlich sieht."

Ein trauriger Ausdruck erschien wieder auf Gaelles Gesicht.

„Ich war dabei. Ich habe gesehen, was Mummy und Daddy und Galina passiert ist. Das kann ich nicht vergessen. Ich habe mich verändert."

Gellert seufzte.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mir für immer Vorwürfe machen werde."

„Du hättest nichts tun können, Gellert", sagte Gaelle leise. „Sie hätten auch dich getötet. Aber jetzt kannst du etwas tun. Versprich mir, dass sich so etwas nicht wiederholt. Egal, was dafür nötig ist."

„Das werde ich. Versprochen. Ich werde eine bessere Welt erschaffen, in der wir in Frieden leben können. Zusammen."

„Doch du verlässt mich wieder."

Eigentlich hätte Gellert das Gespräch lieber an einen anderen Tag geführt, aber scheinbar sollte es nicht sein.

„Zu deiner und meiner Sicherheit. Nur so kannst du normal leben. Ein paar Tage bleibe ich, dann muss ich fort. Aber ich werde jeden Tag an dich denken. An dich und den Grund, warum ich das tue, was ich tue. Und irgendwann werden wir uns wiedersehen. Und wir werden glücklich sein."

Gaelle nickte. Sie schien es zu akzeptieren, dass er gehen wollte; gehen musste. Würde er nicht seinem Weg folgen, würde sich nie etwas ändern. Der Wunsch nach Rache würde ihn niemals loslassen.

„Soll ich dir mal meine Freunde zeigen?", fragte Gaelle. Sie wollte ablenken, nicht an den Abschied denken, sondern die letzten Tage oder Stunden mit ihrem Bruder genießen. Die Zeit anhalten und nie vergessen.


Es tut mir leid. Eine so lange Pause war nie geplant und wird hoffentlich auch nicht wieder vorkommen. Mehr kann ich zu meiner Entschuldigung nicht vorbringen. Doch es bleibt dabei, egal wie lange es dauert, diese Geschichte wird weitergehen. Das steht fest.

Was gibt es neues? Ich habe alle Prüfungen bestanden und meine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Nach einem August mit vielen schlaflosen Nächten habe ich nun auch tatsächlich ein Amt, in welchem ich sitze. Die Pressestelle. Wie genau es jetzt für mich weitergeht kann ich noch nicht sagen, ein paar Entscheidungen sind noch zu treffen, aber das meiste müsste ich überstanden haben.

Aber jetzt - was haltet ihr von diesem Kapitel? Gellerts größtem Geheimnis?




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