Teil 22
„In spätestens fünf Tagen treffen wir uns wieder hier", erklärte Gellert, während Valeria ihre Sachen kontrollierte. Gold, Kleider, Zauberstab. Alles vorhanden.
„In Ordnung", murmelte sie nebenbei.
„Denk an alles!"
Jetzt verdrehte Valeria die Augen.
„Ich bin nicht vergesslich. Namen ändern, Interesse an einer Arbeit im Ministerium zeigen, Portschlüssel beantragen. Und nebenbei erwähnen, dass ich nach Island gehen will, um die Bibliothek zu finden, damit sie nicht misstrauisch werden, wenn ich nun für ein weiteres dreiviertel Jahr verschwinde."
„Genau. Das ist wichtig!"
„Ich weiß!"
Gellert lächelte amüsiert. Ihre Gereiztheit belustigte ihn sehr, so dass er darüber hinaus fast vergaß, welcher Aufgabe er sich heute noch stellen wollte.
„Mir ist übrigens ein Name eingefallen", eröffnete er ihr.
„Was für ein Name?"
„Wie du offiziell heißen wirst. Mit wem ich offiziell zusammenarbeite."
„Richtig, da war ja noch was", murmelte sie. „Ich hoffe, er ist nicht zu ausgefallen?"
„Also ich finde ihn passend. Morgana. Nach der größten Feindin Merlins, die als eine der dunkelsten Hexen in die Geschichte eingegangen ist."
„Klingt gut."
„Was? Das war's? Keine weiteren Einwände?"
Valeria sah von ihren Sachen auf. Sie war eindeutig genervt.
„Ich muss vier Wochen zurückgehen! Hier brauchte ich mich nicht zu verstellen, jetzt muss ich es wieder. Die Rolle des braven Mädchens spielen, welches zu allem ja sagt und mit allem einverstanden ist. Von der ich dachte, ich hätte sie hinter mir gelassen! Ich versuche, mich darauf einzustellen!"
„Das gelingt dir ausgezeichnet", meinte er trocken. „Aber darf ich dir noch einen Rat geben?"
„Machst du doch sowieso, egal was ich sage."
„Stimmt. Versuche bitte, nicht ganz so genervt zu wirken. Freundlichkeit öffnet Türen."
Ein wütender Blick war die Antwort.
„Ich wurde fünfzehn Jahre lang dazu erzogen, immer höflich und freundlich zu wirken. Glaube mir, ich kann schauspielern."
„Ach ja? Davon habe ich gar nichts gemerkt."
Diese Aussage sorgte für einen rötlichen Schimmer auf Valerias Wangen, doch sie war zu stolz, um darauf zu antworten. Denn bei dieser Diskussion konnte sie nur verlieren, das war ihr bewusst.
„Wollten wir nicht los?", fragte sie. Der genervte Unterton war verschwunden.
„Sicher."
Gellert musterte sie noch einmal. Vom optischen war ihr der Schritt in die Vergangenheit definitiv schon geglückt, mit ellenbogenlangen Handschuhen und einem Hut, der ihre streng zurückgeknoteten Haare bedeckte. Jetzt kam es nur darauf an, dass sie auch in ihrem Verhalten diesen Schritt zurückmachte. Da machte er sich wenig Hoffnungen.
Gemeinsam gingen sie in die Gaststube, wo Gellert sie bei dem diensthabenden Wirt für ein paar Tage abmeldete, doch versicherte, dass sie wiederkommen würden.
Anschließend verließen sie die Stadt und gingen dorthin zurück, wo sie angekommen waren. Hier sah noch alles so aus, wie vor einem Monat, doch sonst war alles anders. Sie beide waren andere Personen geworden. Doch ob sie sich zum Positiven oder zum Negativen entwickelt hatten, war unmöglich zu sagen. Beide hatten sich in die Richtung entwickelt, die sie einschlagen wollten, für sie war es also positiv. Der Rest der Zaubererwelt würde vielleicht ein wenig anders darüber denken.
„Ich werde dich nicht reinbringen. Es wäre nicht gut, wenn man uns zusammen sehen würde."
„Ich weiß."
Gellert hatte sie in eine ausgestorbene, dunkle Seitengasse der Charing Cross Road gebracht, in welcher der Tropfende Kessel war.
Valeria war nervös. Sie würde es niemals zugeben, doch zurück in die Rolle zu schlüpfen, die sie verlassen hatte, gefiel ihr nicht.
Als Gellert sie betrachtete, bemerkte er, wie zierlich sie in ihrem Kleid wirkte. Sie schien förmlich darin zu versinken. Es war ihm nie aufgefallen, wie klein sie eigentlich war. Ihr Kleid war tailliert geschnitten, in einem hellgrünen Ton mit dunklem Saum und Kragen, farblich übereinstimmend mit dem Hut. Gellert realisierte, dass ihre Wangenknochen stark hervorstachen und sie ungewöhnlich blass war. Dadurch schienen ihre Augen betont zu werden. Oder sah sie immer so aus? Gellert war sich unsicher. Ihm war, als würde er sie zum ersten Mal sehen und er war sich nicht sicher, wie er diese Beobachtung einstufen sollte. Ihm fielen plötzlich so viele Kleinigkeiten an ihr auf.
„Was machen wir, wenn einer von uns Schwierigkeiten bekommt?"
„Wir schicken uns eine Eule. Das ist so üblich", erklärte Gellert, doch als er merkte, dass sie nicht darauf reagierte, lenkte er ein. „Aber ich gehe nicht davon aus, dass einer von uns Probleme bekommt. Nichts, von dem, was wir in den nächsten Tagen machen, ist verboten. Aber eine Sache wäre da noch ..."
„Ja?"
„Keine schwarzmagischen Experimente. Hier ist die Gefahr zu groß, dass es jemand merkt."
„Sagtest du nicht gestern, du traust mir einiges zu? War das nur auf die Magie bezogen oder auch auf meinen Intellekt? Denn ganz offenbar denkst du, dass ich ganz schön leichtsinnig bin."
„Ich wollte es nur noch mal betonen. Und lass nicht zu, dass man dich reinlegt."
„Du traust mir wirklich wenig zu. Lass du dich lieber nicht reinlegen!"
Gellert lachte leise.
„Glaube mir, dieser Besuch ist das harmloseste, was ich in letzter Zeit gemacht habe. Von ihr geht nicht die geringste Gefahr aus."
„Ihr?" Valerias Atmung stoppte kurz. Er wollte ein Mädchen besuchen?
„Ja."
Ein Moment des unbehaglichen Schweigens trat ein, denn Valeria traute sich nicht, die Frage zu stellen, die sie beschäftigte.
„Du solltest nun gehen."
„Ja, sollte ich", murmelte Valeria. „Bis bald."
„Pass auf dich auf."
Für einen kurzen Moment vergaß Gellert all seine Vorsätze und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, bevor er den Portschlüssel wieder aktivierte und verschwand.
Valeria starrte noch einen Moment auf die Stelle, an welcher er eben noch stand, bevor sie sich umdrehte und auf die Straße heraustrat.
Es war viel los für diese Uhrzeit - Dienstmädchen und Diener eilten durch die Straßen, um noch Besorgungen zu machen, Kindermädchen, die auf dem Weg zur Arbeit waren, Geschäftsmänner und Bankier, die man sehr schnell an ihrer Kleidung erkennen konnte - doch dann fiel ihr ein, dass es in London ja schon eine Stunde später war als auf Island. Das erklärte, warum Gellert bereits so früh aufbrechen wollte.
Auf einer belebten Straße wie dieser fiel es nicht auf, dass sie aus einer dunklen Gasse kam, was ihr einige kritische Blicke und Fragen ersparte. Es war so schon unangenehm.
Ein paar der Passanten, die ihr entgegenkamen, wirkten irritiert, wahrscheinlich weil sie alleine unterwegs war. Sowas gehörte sich nicht, zumal man an ihrer Haltung ansah, dass sie aus gutem Hause kommen musste. Aber trotz der Tatsache, dass sie alleine unterwegs war – oder vielleicht auch gerade deswegen – strahlte sie eine Art der Selbstsicherheit und Überlegenheit aus, dass viele Muggel sie verwirrt ansahen.
Doch etwas in Valerias Blick hielt die Menschen auf Abstand, sie sahen sie an, kamen ihr aber nicht zu Nahe. Zu ihrem Glück.
Inzwischen war der Tropfende Kessel in Sicht und sie bemühte sich, ihre Schritte nicht schneller werden zu lassen. Zu viel Aufmerksamkeit wollte sie nun wirklich nicht erregen.
Valeria wechselte die Straßenseite und sah sich, betont harmlos, die Schaustücke und Aushänge der Läden an, während sie weiterging.
Sie hasste dieses Schauspiel. Doch sie spielte es. Für das größere Wohl. Eines Tages würden sie alle es erkennen.
An der Tür angekommen, sammelte sie sich. Sie war jetzt nur ein harmloses, kleines Mädchen, dass ein Anliegen hatte, über das es nicht reden durfte. Mehr nicht. Sie durfte niemandem einen bösen Blick zuwerfen oder aufmüpfig werden. Nicht unbedacht reden. Wie schnell sie sich an all diese Dinge gewöhnt hatte! Dass sie sich nun mit Gewalt an ihre Erziehung halten müsste, hätte sie nicht gedacht.
Den Kopf gesenkt haltend öffnete sie die Tür und betrat die Gaststube. Möge das Spiel richtig beginnen.
Sie war noch nicht häufig hier gewesen, doch alles wirkte wie immer. Abgedunkelt und heruntergekommen. Kein Ort, den ihre Erziehung ihr erlaubte, alleine zu betreten, auch wenn man schwer einen Ort finden konnte, der ungefährlicher war.
Zögernd ging sie durch den Raum, ein freundliches Lächeln im ansonsten ausdruckslosen Gesicht.
„Entschuldigung?" Mit leiser Stimme versuchte sie an der Theke auf sich aufmerksam zu machen. Mit Erfolg.
Ein Mann mittleren Alters, der offenbar der Wirt war, bemerkte sie.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?"
„Ich würde gerne ein paar Nächte bleiben, wenn es keine Umstände macht."
„Aber natürlich nicht. Aber, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, sollten Sie nicht in Hogwarts sein?"
„Bitte, Sir, bei allem Respekt, aber ich glaube, ich muss Ihnen keine Erklärung über mein Handeln liefern", meinte Valeria freundlich, auch wenn sie spürte, wie Wut in ihr aufkam. Was bildete sich dieser Wirt ein? Was ging ihn ihr Leben an?
„Aber natürlich, verzeihen Sie", meinte er sofort und senkte entschuldigend den Kopf, doch gleich darauf trat wieder ein skeptischer Ausdruck auf sein Gesicht. „Sind Sie alleine unterwegs?"
„Das bin ich in der Tat." Trotz ihres immer noch freundlichen Tonfalls schwang eine unmissverständliche Warnung in ihrer Stimme mit, die den Wirt von weiteren Fragen abhielt.
„Natürlich. Wie viele Nächte wünschen Sie zu bleiben?"
„Vier."
„Wunderbar. Das macht dann acht Galleonen."
Valeria überreichte ihm das Gold, doch gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie nicht mehr viel vorrätig hatte. Sofern sie nicht anfangen wollte zu betteln, brauchte sie wirklich eine Arbeit.
„Mein Sohn wird Ihnen mit Ihrem Gepäck helfen", meinte der Wirt freundlich und rief sofort nach einem Jungen, der ein paar Jahre älter als Henry zu sein schien und gerade damit beschäftigt war, die Tische zu reinigen.
Er kam angerannt, nahm von seinem Vater den Schlüssel in Empfang und ihr die Tasche ab.
„Wenn Sie fragen haben, zögern Sie nicht", verabschiedete sich der Wirt, bevor er sich anderen Gästen zuwandte.
Sein Sohn führte Valeria in den hinteren Teil des Pubs und von dort ein paar Treppen hoch, bis er an einer Tür stoppte und sie aufschloss.
„Das ist Ihr Zimmer, Miss." Er überreichte ihr die ihre Tasche.
„Vielen Dank. Darf ich fragen, wie du heißt?"
„Simon, Miss."
„Und warum bist du nicht in Hogwarts?"
„Ich bin erst zehn Jahre alt, Miss, aber nächstes Jahr darf ich hingehen. Aber so lange muss ich meinem Vater hier noch helfen, damit ich eines Tages den Tropfenden Kessel bewirten kann. Und mein Sohn nach mir."
„Und wenn du Vater einer Tochter wirst?", fragte Valeria leise.
Simon schien verwirrt.
„Das weiß ich nicht. Mein Vater sagt immer nur „Sohn", aber ich denke, eine Tochter könnte das auch. Oder?"
Valeria lächelte sanft.
„Da bin ich mir sicher. Weißt du schon, in welches Haus du in Hogwarts kommen willst?"
Der kleine Junge zuckte die Schultern.
„Vater meint, ich komme nach Hufflepuff. Mir ist es nicht wichtig. Jedes Haus hat doch seine guten Seiten."
„Das ist wahr."
Valeria sah den Jungen vor ihr an. Er war in einem unvoreingenommenen Alter, doch sobald er nach Hogwarts kam, würde sich seine Einstellung zu vielen Dingen ändern. So würde es auch mit Henry passieren.
„Mein Vater wird sich fragen, wo ich bin", murmelte Simon entschuldigend. „Brauchen Sie noch etwas, Miss? Sonst würde ich ..."
„Eine Frage hätte ich noch, Simon." Valeria fiel kein besserer Weg ein, um ins Zaubereiministerium zu kommen, auch wenn sie so noch nie gereist war. „Weißt du, wo hier die nächste U-Bahnstation ist?"
„U-Bahnstation?" Simon runzelte die Stirn. Offenbar kannte er dieses Wort nicht.
„Ist nicht so wichtig", fügte Valeria rasch hinzu. „Dann frage ich nachher jemand anderen."
„Das müssen Sie wohl tun, Miss, denn da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen."
„Trotzdem vielen Dank."
Simon verabschiedete sich und rannte die Treppen hinunter, während Valeria ihr Zimmer betrat und sich umsah. Mit Erleichterung nahm sie zur Kenntnis, dass es auch hier ein zum Zimmer zugehöriges Badezimmer gab und sie nicht auf ein Gemeinschaftsbad angewiesen war. Insgesamt war das Zimmer kleiner, als das auf Island, aber hier sollte sie ja auch alleine wohnen und es war nur für wenige Tage.
Gedanklich ging sie ihren Plan für heute durch. Zuerst wollte sie nach Gringotts und eine oder zwei Galleonen in Muggelgeld umtauschen lassen. Und sie hatte noch die kleine Hoffnung, dass ihr Vater die Kobolde noch nicht informiert hatte, dass sie ihren Anspruch auf das Vermögen der Potters verloren hatte. Sollte er es wirklich noch nicht getan haben, würde sie sich die Freiheit nehmen und noch ein paar Galleonen mitgehen lassen.
Anschließend wollte sie Simons Vater fragen, wo hier eine U-Bahnstation sei und welche die Ministeriumsnächste war, bevor sie sich auf diese abenteuerliche Art zu reisen begab. Im Ministerium wollte sie erst einmal eine Namensänderung beantragen, damit sie, falls es notwendig war, noch eine Eule an ihre Eltern schicken und sich deren Erlaubnis abholen konnte. Wie lange wohl so eine Namensänderung dauerte?
Aber sie war ja ein paar Tage hier, von daher war nicht unbedingt Eile geboten. Wenn die Zeit heute noch ausreichte, würde sie gleich noch einen Portschlüssel beantragen, damit auch das schon erledigt war.
Innerlich stieß sie einen Seufzer aus. Eigentlich hatte sie sich ihr neues Leben nicht so strukturiert und durchgeplant vorgestellt.
Mit dem Kapitel bin ich nicht wirklich zufrieden, es wirkt irgendwie zu sehr wie ein Füll-Kapitel aber was soll's. Lieber so ein Kapitel als gar keins :)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top