Teil 21
„Also, was steht morgen an?", wollte Valeria wissen, kaum dass sie in ihrem Zimmer angekommen waren.
„Du wirst morgen nach London reisen", eröffnete ihr Gellert.
Sie runzelte die Stirn.
„Ach ja?"
„Du wirst deinen Namen ändern lassen, schon mal dein Interesse an einer Arbeit im Ministerium verdeutlichen und einen eigenen Portschlüssel beantragen."
„Ich wusste gar nicht, dass ich dem schon zugestimmt habe."
Gellert warf ihr einen ungeduldigen Blick zu.
„Na gut. Dann werde ich halt offiziell zu Evelyn Porter. Und warum soll ich einen Portschlüssel beantragen?"
„Damit du auch alleine den Ort wechseln kannst. Überlege dir eine gute Geschichte, wo du die vier Wochen warst. Ich werde dich nach London bringen und anschließend aufs Festland reisen. Dort werde ich ein paar Tage bleiben, also kannst du dir auch Zeit lassen."
„Was willst du denn machen?"
„Jemanden besuchen."
Valeria sah ihn fragend an, doch Gellert stand vor dem Fenster und sah hinaus in die Nacht. Er bemerkte ihren Blick in der Fensterspiegelung, aber ging nicht darauf ein.
„Du solltest schlafen gehen", fordert Gellert sie leise auf.
Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Was geschehen war, war geschehen. Er konnte nur dafür sorgen, dass es keine Wiederholung gab. „Je früher du im Ministerium bist, desto schneller bist du dann fertig."
Valeria öffnete den Mund, schloss ihn wieder und ging ins Badezimmer.
Gellert schloss die Augen. Er verlor die Kontrolle. Er musste sie und sich ablenken und wieder einen klaren Gedanken fassen. Es war ärgerlich, dass es jetzt passierte, wo er vorwärtskam, doch die Umstände ließen nichts anderes zu als eine Distanzierung. Das war das Beste, was er nun tun konnte. Und es gab mit Sicherheit eine Person, die sich darüber freuen würde, schließlich hatten sie sich schon eine Weile nicht mehr gesehen.
Als Valeria kurze Zeit später wieder kam, registrierte er, dass sie ihre Haare offengelassen hatte, so dass sie sanften Wellen über ihre Schultern und Rücken fielen. War es eher rot oder braun? Hier, in diesem schummrigen Licht, sahen sie dunkel aus.
„Wie schläfst du hier?", fragte Gellert, während er sie beobachtete.
„Ganz gut, im Gegensatz zu dir", antworte Valeria unverblümt, als sie an letzte Nacht dachte. „Vielleicht solltest du mal Okklumentik probieren, bei mir sorgt es für traumlose Nächte."
„Ich habe davon gelesen, konnte mir aber nicht vorstellen, dass es wirklich funktioniert."
„Ich habe es vor ungefähr drei Jahren gelernt und wiederhole die Übungen jeden Abend. Die gedanklichen Mauern sind nun im Unterbewusstsein immer da, verhindern das Eindringen von fremden Personen und sorgen nebenbei dafür, dass ich keine Träume habe."
Gellert runzelte die Stirn.
„Hört sich ja nach einem Kinderspiel an. Vielleicht sollte ich mich doch noch mal damit beschäftigen. Aber zuerst ..." Gellert zeigte auf eine Kerze, die auf Valerias Nachttisch stand. „... zünde sie an."
„Du traust mir wirklich wenig zu, kann das sein?"
Gellert verdrehte die Augen.
„Ich weiß, dass du die Kerze zauberstablos und stumm entzünden kannst, also ich traue dir schon was zu, aber ich möchte, dass du schwarze Magie benutzt."
„Ach so." Das warf natürlich ein anderes Licht auf die Sache. „Wie? Also mit Zauberstab oder ohne? Soll ich den Spruch laut sagen oder nicht?"
Gellert seufzte.
„Ich habe grade gesagt, dass ich dir viel zutraue und dir nicht die Erlaubnis gegeben, dich nun besonders ... nennen wir es naiv anzustellen."
„Entschuldige, dass ich, wenn ich was lernen will, nicht gleich weiß wie es funktioniert und wie ich es am besten mache!"
„Das alles ist deine Entscheidung. Du beherrschst den Zauber, nun musst du es wollen. Wie du ihn ausführst, ist gleichgültig. Mach es so, wie es sich am besten anfühlt."
Gellert stellte sich in eine entgegengesetzte Ecke des Zimmers, von wo aus er das Geschehen gut im Blick hatte. Valeria nahm zögernd ihren Zauberstab in die Hand und konzentrierte sich. Sie wollte diese Kerze anzünden, nicht einfach nur den Zauberspruch denken, sondern es wirklich wollen.
Sie atmete noch einmal durch und versuchte es. Eine gleißende Flamme schoss aus ihrem Zauberstab, entzündete die Kerze – und ließ den Nachttisch explodieren. Er ging in eine gleißende Flamme auf und Holzsplitter flogen durchs ganze Zimmer. Valeria zuckte vor Schreck zusammen und entging somit einem größeren Holzstück, ließ aber ihren Zauberstab dabei fallen, doch Gellert, der ein Schutzschild vor sich errichtet hatte, begann zu lachen.
Ehrlich und offen, wie sie ihn noch nie hatte lachen hören. Das entschädigte fast das Chaos, das sie angerichtet hatte.
„Und genau deswegen ist ein Duell mit jemandem, der gerade erst diese Form der Magie lernt, geradezu leichtsinnig."
Valeria starrte immer noch auf den brennenden Nachttisch, den Gellert mit einem gezielten Wasserstrahl zum Erlöschen brachte.
„Gerade am Anfang läuft es oft nicht nach Plan, weil die Kraft, die der Zauber nun hat, unterschätzt wird. Es ist wirklich wichtig, dass man lernt, genau zu zaubern. Ich habe eigentlich mit einer noch größeren Explosion gerechnet, weshalb ich mich hier hingestellt habe, aber jetzt siehst du, was ein nicht korrekt ausgeführter Zauber anrichten kann."
„Wenn du wusstest, was passiert, warum hast du mich nicht gewarnt?"
„Hättest du auf mich gehört?", fragte Gellert zurück. „Diese Erfahrungen musst du selber machen, damit du einschätzen kannst, mit was für einer Kraft du nun lernst umzugehen. Jeder muss sie machen. Außerdem wollte ich den Überraschungseffekt nicht zerstören."
Valeria hob ihren Zauberstab vom Boden auf und richtete ihn auf das vor sich hin qualmende Häufchen nasses Holz, welches einmal ihr Nachtschrank gewesen war.
Sie wollte es reparieren.
Das schien auch zu funktionieren, denn es fügte sich alles wieder zusammen. Beschwingt von diesem Erfolg strahlte Valeria, bis sie registrierte, dass Gellert schon wieder grinste.
„Was ist?"
„Ich finde es lustig, dass du dich darüber freust, denn ‚Reparo' ist mit einer der wenigen Zauber, der von jedem fast immer als schwarzmagisch genutzt wird. Man will immer etwas reparieren."
„Du kannst einem wirklich die Laune verderben", meinte Valeria genervt.
Sie kletterte in ihr Bett, rutschte so weit wie möglich an den äußeren Rand und drehte seinem den Rücken zu. Doch das hinderte sie nicht daran, zu hören, wie kurze Zeit später auch er ins Bett stieg. Die Stille schien übermächtig zu werden und Valeria wurde es entschieden zu warm unter der Decke. Sie hatte sich so an den Abstand zwischen ihnen gewöhnt, ihn mit der Zeit begrüßt, dass sie sich nun nicht traute, sich zu bewegen. Zwar war der räumliche Abstand immer noch da, aber ansonsten hatte dieser Tag irgendwie fast alles geändert.
Es war unglaublich, dass es noch keine vierundzwanzig Stunden her war, seit sie überfallen worden war. Dieser Tag war Valeria unendlich lang erschienen.
Noch nie war es ihr so bewusst gewesen, dass er im gleichen Raum schlief, sie es hörte, wenn er sich bewegte und sogar seine Atemzüge zählen konnte. Die Verlegenheit, die sie eigentlich am Anfang hätte empfinden sollen und sich nun wieder gelegt haben sollte, kam vier Wochen zu spät. Es gab hier keine Wand, die Jungen und Mädchen trennte, sie voneinander fernhielt und die Ehre des Mädchens schütze. Wobei ihre Ehre wahrscheinlich in den Augen der Gesellschaft schon ruiniert wäre. Wie also sollte sie nun schlafen können? Wie schaffte er es, dass sein Atem bereits nach kurzer Zeit ruhiger wurde und er scheinbar einschlief? Bei allem, was ungeklärt zwischen ihnen stand. Sie fühlte sich wacher – und verwirrter – als jemals zuvor.
„Man hört dich ja fast nachdenken", murmelte Gellert, der offenbar doch nicht schlief. „Ich dachte, du machst Okklumentik?"
„Im Moment geht mir zu vieles durch den Kopf", antworte Valeria wahrheitsgemäß. „Das erschwert das Ganze."
„Willst du über irgendwas reden?"
„Nein."
„Hätte mich auch gewundert. Aber das soll ja helfen."
Nur mit Mühe verkniff sie sich ein Kommentar. Wenn es jemanden gab, der ihr nun weiterhelfen konnte, dann war das Gellert. Wenn man von Hilfe sprechen konnte, denn gleichzeitig würde es alles nur verschlimmern, schließlich war er mit seiner Aktion Schuld an dem Chaos in ihrem Kopf.
Gellert bewegte sich und kurz darauf spürte sie, wie er sie ansah, mit diesem durchdringenden Blick, den er perfekt beherrschte und mit dem er vermutlich auch durch Mauern sehen konnte.
„Dreh dich um."
Valerias Körper verspannte sich und ihr Atem stockte. Sie fühlte sich wie eingefroren. Es war ausgeschlossen, dass sie sich umdrehen konnte.
„Valeria, dreh dich um."
Dieser Name löste etwas in ihr, ließ sie wieder freier atmen, als wäre mit der Nennung ihres neuen Namens eine zentnerschwere Last von ihrem Brustkorb genommen worden.
Evelyna, das Mädchen, dass von Abenteuern und Regelbrüchen träumte, gab es nicht mehr. Valeria lebte diese Träume.
Valeria glaubte nicht, dass sie sich bewegen konnte, doch stückweise schaffte sie es, sich umzudrehen und hob den Blick. Obwohl es nahezu dunkel in diesem Raum war, fanden ihre Augen ohne Mühe die Gellerts. Sein Blick nahm sie gefangen und Valeria musste sich zwingen, zu blinzeln.
„Besser?"
Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was er meinte.
„Ja."
Sie dachte nicht mehr nach. All ihre Konzentration lag auf ihn.
„Dann schlaf."
Valeria versuchte erneut, sich zu entspannen und schloss die Augen. Es funktionierte nach kurzer Zeit, besser als Okklumentik.
Erstaunlich schnell gingen Valerias Atemzüge ruhiger, während nun Gellert wach lag und sich gedanklich verfluchte. Warum tat er das? Warum machte er ihr immer wieder Hoffnungen, wenn er sich doch gar nicht sicher war? Oder machte er sich Hoffnungen und sie war sich nicht sicher? Schließlich war sie nie auf ihn zugegangen.
Er musste zugeben, dass ihn die Wirkung, die er auf sie hatte, überraschte, doch auch sie hatte eine Wirkung auf ihn. Er war sich nur noch nicht sicher, was für eine. Er wusste nur, dass er sie bisher weder als Schwester sah, noch auf Abstand hielt. Das musste er ändern. Bald. Am besten sofort.
Aber sie war anders. Anders, als alle anderen Mädchen, die er kannte. Er schätze sie. Aus seinem alten Leben würden alle sagen, dass sie ihm gut tat und das stimmte wahrscheinlich auch. Die Rolle, die sie spielte, die des braven, wohlerzogenen Mädchens war interessant, doch das dunkle Wesen, das in ihr wohnte, ihn unterstützte und von ihm lernen wollte – das faszinierte ihn. Ihr eigentliches Ich, dass tat ihm gut und das schätzte er. Und von dem konnte er sich nicht fernhalten. Er wollte es nicht.
Ob ihre Eltern wussten, wie begabt sie tatsächlich war? Was für eine dunkle Hexe sie großgezogen hatten? Das wäre eine Erklärung, warum sie sie mieden. Dieser Schatten hatte schon immer in ihr gelebt, so wie er in jedem anderen Menschen lebte. Es lag an ihnen und ihrem Umfeld, ob sie dem Bösen die Macht gaben oder nicht.
Vielleicht wäre der Schatten in ihr nie gewachsen, wenn sie ein liebevolles Umfeld gehabt hätte, doch Ablehnung nährte die Bosheit. Die meisten Zauberer, die sich als „gut" bezeichneten, spürten so etwas im Unterbewusstsein. Sie erahnten eine Gefahr, ohne sie zu verstehen.
Diese dunkle Hexe bedeute ihm was. Vielleicht würde er niemals wissen, was genau, doch es war viel, wie ihm klar wurde. Vielleicht viel genug.
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