Teil 20

„Was hast du da?"

Auch Valeria beugte sich interessiert nach vorne und entzifferte den Namen ganz oben auf der Liste. „Antioch Peverell" stand dort. Da unter folgten weitere.

„Eine Liste mit allen, die den Elderstab mal besessen haben", erklärte Gellert. „Sie hat einige Lücken, aber er taucht immer wieder auf. Bis zum mittleren 18. Jahrhundert ist so weit alles logisch, doch da begannen die Mutmaßungen." Gellert runzelte die Stirn. „Du erkennst es, wenn einer lügt – erkennst du es auch auf dem Papier?"

„Das habe ich noch nie ausprobiert ..."

„Pass auf. Im frühen 18. Jahrhundert gehörte der Zauberstab noch Barnabas Deverill, doch der wurde von Loxias ermordet. Dieser brachte mit dem Elderstab viele Menschen um und ebenfalls viele Menschen behaupten nun, sie hätten ihn umgebracht. Selbst seine eigene Mutter will diese zweifelhafte Ehre für sich beanspruchen. Doch ihr glaube ich nicht. Ihre Aussage klingt zu schwammig.
Es gibt genau zwei Zauberer, die sowohl das Motiv, als auch die Gelegenheit dazu hatten und natürlich behaupteten auch beide, sie hätten ihn getötet. Aber ich habe keine Ahnung, wer von ihnen es nun wirklich war."

„Vielleicht waren es ja beide", mutmaßte Valeria. „Den Todesspruch zur gleichen Zeit aufsagen ist möglich. Dann hätten sie auch beide Recht."

„Das funktioniert aber nicht. Der Elderstab dient nur einem. Wenn sie ihn gleichzeitig getötet haben, dann vielleicht dem, der ihn wehrlos gemacht hat. Oder die Idee hatte."

„Wie hießen die zwei?"

„Arcus und Livius."

Valeria wiederholte leise die zwei Namen, mehrmals. Sie wartete darauf, dass sich einer der Namen falsch anfühlte, doch das Gefühl stellte sich nicht ein. Sie runzelte die Stirn.

„Ich muss darüber nachdenken."

Gellert nickte nur.

„Das dachte ich mir."

Ihre Blicke begegneten sich und eine Weile wandte niemand seinen ab. Dann räusperte sich Gellert.
„Ich glaube, wir sollten aufbrechen. Sonst wird noch jemand misstrauisch."

„Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist", gab Valeria zu. „Ich habe jedes Zeitgefühl verloren."

„Wir haben fast den gesamten Vormittag draußen verbracht und hier vergeht die Zeit anders. Vermutlich schneller, weil es mir häufig vorkommt, als würde mir die Zeit davonlaufen."

Valeria runzelte die Stirn.

„Was hat das ... oh." Ihre Augen wurden groß. „Oh."

„Ist es dir aufgefallen? Hat ja lange genug gedauert."

„Wir sind ... in deinem Kopf?"

„Zumindest so ähnlich muss es sein. Das erklärt, warum die Tür für jeden anders aussieht und ich wette, deine Bibliothek sah auch anders aus." Er sah sie fragend an und Valeria bestätigte es mit einem Nicken. „Wir sind nicht direkt in unserem Köpfen, aber die Art, wie wir die Bibliothek sehen, wird von unseren Gedanken und Gefühlen beeinflusst."

„Deswegen vermutest du auch, dass hier die Zeit schneller vergeht."

„Genau."

Gellert stand auf und begann, sämtliche Bücher zurück ins Regal zu stellen. Nur die Liste steckte er ein.

„Was hast du jetzt damit vor?", fragte Valeria.

„Ich werde beiden Gerüchten nachgehen. Bis mir was Besseres einfällt."

„Klingt aufwendig. Was ist, wenn du nichts findest?"

„Mit solchen Fragen beschäftige ich mich nicht. Entweder ich bin erfolgreich oder nicht. Alles Weitere wird sich dann entwickeln."

Er hatte alle Bücher zurückgestellt und stand nun vor Valeria, so dass sie nun wieder zu ihm hochsehen musste. Eine Tatsache, die ihr nicht wirklich gefiel. Er musterte sie, nachdenklich, wie es ihr schien.

„Was ist los?", fragte sie vorsichtig.

„Ich weiß einfach nicht, was ich mit dir machen soll."

Valeria wandte den Blick ab, da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Sie dachte eigentlich, dass das geklärt wäre.

Eine Hand legte sich auf ihre Wange und drehte ihren Kopf, bis sie wieder Gellert ansah. Sein Blick ruhte immer noch auf ihrem Gesicht, musterte sie immer noch nachdenklich.
Einige Minuten verharrten sie beide in dieser Position, sie auf dem Tisch sitzend, er vor ihr stehend mit einer Hand auf ihrer Wange, die immer wärmer wurde.

Die Strähne, die sich Valeria vorhin hinters Ohr geklemmt hatte, fiel ihr wieder ins Gesicht. Aus reinem Reflex wollte sie die Hand heben und sie wieder zurückstreichen, doch Gellert war schneller.
Ihre Finger berührten sich kurz, doch Valeria ließ ihre Hand rasch wieder sinken. Gellert ließ sich nicht von ihrer Reaktion aufhalten. Vorsichtig nahm er die Strähne, wickelte sie um seinen Finger und legte sie zurück, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihren Augen zu lösen.
Vorsichtig strich er mit seinen Fingerspitzen über ihre Wange und weiter über Valerias vor Überraschung leicht geöffnete Lippen. Die Luft zwischen ihnen schien vor Spannung zu vibrieren.

Valerias Atem beschleunigte sich, doch sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen.

„Du sagtest eben, wir müssen zurück. Vielleicht ..."

Weiter kam sie nicht, denn Gellert unterbrach sie, indem er sich zu ihr runter beugte und sie küsste.

Valeria stand unter Schock.
Sie hatte damit nicht gerechnet – schließlich hatte Gellert eben noch gesagt, er wüsste nicht, was er mit ihr machen sollte. Sie wollte reagieren, wusste aber nicht wie. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, keine Lektion oder Lehre. Mit der Magie war sie vertraut, doch das war Neuland für sie. Vorsichtig legte sie ihre Hände auf seine Schultern, während seine in ihren Haaren verweilten, die er öffnete.
Valeria wusste nach wie vor nicht, was sie hier eigentlich tat, tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf, doch keinen konnte sie festhalten.
Vor allen Dingen die Erkenntnis, was für ein Skandal das war, sickerte allmählich in ihr Bewusstsein. Und dieser Tatsache war es wohl auch geschuldet, dass Valeria sich entspannte, sich dem Kuss hingab und ihn erwiderte.
Das sich ihr Verstand ausschaltete und ein Urtrieb die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Sie zog Gellert dichter an sich, fühlte seine Lippen überdeutlich auf ihren und intensivierte den Kuss.

Das war es vielleicht, was Gellert aufweckte, ihn dazu veranlasste, seine Hände wegzureißen, als hätte er sich verbrannt, sich aus Valerias Händen zu befreien und von ihr zurückwich.

„Ja, vielleicht sollten wir wirklich zurückgehen."

Valeria konnte ihn nur sprachlos anstarren, ihre Hände fielen nach unten, während er ihren Blick, wie bereits in der Nacht, ruhig erwiderte. Nur der nachlassende Schmerz auf ihrer Kopfhaut, bewies ihr, dass sie sich nichts eingebildet hatte. Als Gellert seine Hände zurückgezogen hatte, hatte er ein paar dünne Strähnen mitrausgerissen. Valeria legte ihre Hand an eine der schmerzenden Stellen.

Nach ein paar Sekunden schaffte sie es zu Nicken und senkte den Blick, um ihre Haarnadeln zu suchen, welche Gellert achtlos hatte fallen lassen.
Gellert beobachtete sie schweigend, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Mehr Gefühlsregungen ließ er sich nicht anmerken, auch wenn es in seinem Kopf drüber und drunter ging. Er war sauer. Auf sich selbst, weil er einem inneren Impuls gefolgt war, anstatt klaren Kopf zu wahren und Valeria auf Abstand zu halten. Auf Valeria, weil sie es zugelassen hatte, sich nicht wehrte und überhaupt erst mit dem ganzen Theater anfing. Wäre sie nicht mitgekommen, hätte er sich nicht überreden lassen, dann ... er wüsste auch nicht, was dann wäre.

Als Valeria ihre Haare in einen halbwegs anständigen Zustand gebracht hatte, stand sie von ihrem Tisch auf. Ihre Beine zitterten und die Tatsache, dass Gellerts beherrschter Blick immer noch auf ihr lag, machte es nicht gerade besser. Doch da sie zurechnungsfähig erscheinen wollte, gab sie sich Mühe, ihren Körper und Kopf in den Griff zu bekommen. Die Worte der merkwürdigen Bibliothekarin kamen ihr wieder in den Sinn: „Alles war hier passiert, bleibt auch hier."
Unwillkürlich fragte sie sich, wie häufig hier etwas passierte, dass es eine Erwähnung wert war.

„Weißt du ...", begann Valeria mit belegter Stimme, bevor sie sich räusperte und normal weitersprach. „... wie wir hier wegkommen?"

Denn auch in diesem Raum schien es keine Tür zurück zu geben. Zurück zur Wirklichkeit. Wie um sich ganz sicher zu sein, dass sie nichts übersehen hatte, sah Valeria sich noch mal um. In Wahrheit wollte sie einfach nicht Gellerts Blick begegnen, der immer noch auf ihr ruhte.

„Einfach darauf konzentrieren, würde ich sagen", antwortete Gellert.

Valeria erkannte den mühsam unterdrückten Zorn in seiner Stimme, konnte ihn sich aber nicht erklären. Sollte sie nicht eigentlich zornig sein, weil er sie in eine solche Situation gebracht hatte? Sie, ein unschuldiges Mädchen, schändete? Käme es heraus, wäre ihr Ruf ruiniert – noch mehr.
Der Gedanke faszinierte sie ungemein.

„Gib mir deine Hand."

„Meine ... was? Warum?"

„Weil wir an unterschiedlichen Orten wieder auftauchen würden", erklärte Gellert in dem gleichen Tonfall. „Wenn wir uns berühren, müsste es eigentlich verhindert werden."

Valeria reichte ihm zögernd ihre Hand, die er ungeduldig ergriff, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sie würde sich nun gerne darauf konzentrieren, wieder zurückzukommen, aber Blicke oder nun auch Berührungen von Gellert waren noch nie gut für ihre Konzentration gewesen.

Doch scheinbar hatte sie Glück, denn Gellert schien Erfolg zu haben und sie mit sich zu reißen. Valeria schien wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren, in einem Strudel aus Farben zu stecken, der sie zu überrollen schien. Sie hätte gedacht, sie würde wieder durch den Tunnel gehen, doch das hier war etwas anderes. Was logisch war, wie ihr einfiel, immerhin war das Gellerts Weg. Und scheinbar nur seiner.

In dem Strudel von Farben hatte sie keine Ahnung, wo sie hingehen sollte, doch Gellert schien es zu wissen und zog sie mit sich. Sie stolperte hinter ihm her, auch wenn sie nicht einmal wusste, worüber sie stolperte, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Sie waren wieder auf einer Straße. Doch Gellert hatte Recht gehabt, die Zeit war in der Bibliothek anders vergangen, so dass es nun dunkel und nicht viel los war. Valeria ließ ihn sofort los.

„Woher wusstest du, wo du lang musstest?", fragte Valeria. „Ich habe nichts gesehen!"

„Wahrscheinlich ist das ein Nebeneffekt, von dem eigenen Weg. Ich hätte wahrscheinlich auf deinen Weg nichts gesehen. Komm, wir sollten zurückgehen. Morgen wird auch wieder ein anstrengender Tag."

„Wieso?"

„Erzähle ich dir später."

Valeria verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts und folgte Gellert.


Ich gebe die Verantwortung für die Handlung ab 😅
Ich war lange am hadern, ob ich die Beziehung zwischen den beiden zulassen soll, aber an irgendeinem Punkt wäre es immer dazu gekommen.
Mal sehen, wo das hinführt ...

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