Teil 18


„Was? Wo?"

Valeria hob die Hand und zeigte auf die Tür.

„Siehst du sie?"

Gellert folgte mit seinem Blick ihrem ausgestreckten Arm und runzelte die Stirn.

„Nein, da ist nichts." Auf ihren Blick hin korrigierte er sich. „Ich sehe dort zumindest nichts."

„Soll ich warten, bis du deine Tür gefunden hast oder nicht?" Sie brannte buchstäblich darauf, die sagenumwobene Bibliothek von innen zu sehen. Doch da sie Gellert versprochen hatte, auf ihn zu hören, hatte er es zu entschieden.

Gellert zögerte.

„Was hast du zuletzt gedacht?"

Valeria runzelte die Stirn.

„Ich dachte, dass du Recht hast. Man sollte die Vergangenheit loslassen."

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, das war dir bereits vorher klar. Was war das Letzte, dass du dir eingestanden hast?"

Jetzt war es Valeria, die zögerte. Sie ging die letzten Minuten im Kopf durch, bis sie sich erinnerte. Das war, dass sie Gellert mochte, ohne sich zu zwingen, ihn zu mögen. Doch das klang selbst in ihren Gedanken merkwürdig und sie bezweifelte doch sehr, dass er es verstand

„Das war, dass du eigentlich ganz sympathisch sein kannst."

Sie hatte es nun eilig, wartete nicht auf seine Erlaubnis. Valeria ging auf die Tür zu und öffnete sie mit einer leichten Berührung. Die Tür schwang sofort auf und gab für Valeria den Blick auf eine undurchdringliche Schwärze frei. Doch Valeria konnte die Wahrheit erkennen und in diesem Fall, durfte sie sich von der Finsternis nicht irritieren lassen. Das war nur ein weiterer Schutz. Sie würde in der Bibliothek landen, aber niemand wusste, wo diese Bibliothek stand.

Ihr Eingang war auf Island, soviel wussten die Meisten, doch die Bibliothek an sich könnte unter der Erde oder auf dem höchsten Turm, in einem luxuriösen oder leer stehenden, halb verfallenen Gebäude sein, oder auch in einem anderen Universum, niemand wusste es. Und diese Finsternis würde Valeria dorthin bringen. Also betrat sie sie und ließ sich von ihr verschlucken.


Gellert starrte an die Stelle, an der Valeria verschwunden war. Für ihn machte es den Anschein, als wäre sie durch eine Wand gelaufen, jedoch völlig lautlos und damit vom Erdboden verschwunden. Sie hatte es geschafft. Er nicht.

Doch hinter ihren letzten Worten musste sich noch etwas anderes verbergen. Etwas Wichtiges. Und er übersah es.

„Du kannst ganz sympathisch sein", murmelte er. Was wollte sie ihm damit sagen?

Er war ihr sympathisch. Alles andere hätte ihn auch überrascht, denn wohin er auch kam, er wurde immer mit Freuden in die Gesellschaft aufgenommen. Daran hatte sich auch nach dem Tod seiner Familie nicht wirklich etwas geändert, da er sich diesen Verlust nicht anmerken ließ.

Das war hier der Unterschied. Der Unterschied, über den sie nun Bescheid wusste. Valeria mochte nicht wissen, wer es gewesen war, wann es geschehen war und wie er darauf reagiert hatte, doch mit Sicherheit hatte sie schon erraten, dass er es nicht einfach akzeptiert hatte. Und trotzdem war er ihr sympathisch.

Es wunderte ihn, dass sie ihm vertraute, doch es war auch umgekehrt, wie er plötzlich feststellte. So sehr er sich am Anfang gegen seine unwillkommene Weggefährtin gewehrt hatte, er hatte es gelernt sie zu akzeptieren und sie zu schätzen. Er wusste nicht, wann genau er seine Vorsicht ihr gegenüber abgelegt hatte. Vielleicht war es wirklich erst vergangene Nacht gewesen, wo er die Wahrheit über sie erfahren hatte, doch fest stand, er hatte ihr bereits mehr anvertraut, als er es bei Albus getan hatte. Albus hatte nie sein Motiv erfahren.

Sie zwar auch noch nicht direkt, aber er befürchtete, dass das nicht mehr lange dauern würde. Das hatte er zumindest im Gefühl. Er hatte sich ihr gegenüber geöffnet. Er hatte sich ihr anvertraut.

Selbst von Gaelle, die sein größtes Geheimnis war, hatte er ihr erzählt. Dabei hatte er sich eigentlich geschworen, auch sie niemals jemand Fremden gegenüber zu erwähnen. Sie zu schützen und ihr Geheimnis zu wahren hatte oberste Priorität für ihn. Doch war Valeria – dieser Name passte zweifellos besser zu ihr – wirklich noch eine Fremde für ihn?

Sie könnte ihm nun bereits gnadenlos in den Rücken fallen, doch sie würde es nicht tun. Da war er sich sicher. Schließlich war er ihr sympathisch. Doch er durfte nicht blind für die Gefahr werden, er musste wachsam bleiben. Sie weigerte sich bestimmt nicht umsonst, den unbrechbaren Schwur zu leisten.

Doch sie hatte auch Recht, als sie feststellte, dass heute etwas anders war. Er plante sie mit in die Zukunft ein. Zwar hatte sie seiner Idee, das Ministerium zu überwachen und Infiltrieren noch nicht zugestimmt und er hatte auch noch keine Vision gehabt, die ihm zeigte, wie sie sich entschied, aber trotzdem hatte er die starke Vermutung, dass sich alles zu seinen Gunsten entwickeln würde. Er würde ihr keine andere Wahl lassen und sie vor seinen vollendeten Plänen stellen.

Aber dann sollte sie bald ihre Namensänderung beantragen und ihr Interesse an einer Stelle im Ministerium äußern. Das erhöhte die Chancen. Es waren erst vier Wochen vergangen, seit sie von zu Hause aufgebrochen war, der Zeitraum lag also noch im Rahmen. Doch würde sie noch länger warten würden unangenehme Fragen gestellt werden.

Gellert schüttelte den Kopf. Nichts von diesen Überlegungen würde ihm helfen, die Bibliothek zu finden.

Er ging weiter durch die Straße, tief in Gedanken versunken. Ihr letzter Satz, das musste der Schlüssel sein. Hoffte er zumindest, auch wenn sich ein Teil von ihm fragte, warum er so davon überzeugt war.

Nein, sein Weg musste ein anderer sein. Er sollte ehrlich zu sich selbst sein und nichts verbergen. Als er von Godric's Hallow aufgebrochen war, hatte er geglaubt, die Bibliothek innerhalb einer Woche zu finden. Das hätte er auch geschafft, da war er sich sicher, denn da hatte er vor sich selbst keine Geheimnisse gehabt. Zumindest nicht, dass er es wüsste.

Was war also geschehen, dass ihn davon abhielt?

Innerlich verdrehte er die Augen. Viele Möglichkeiten gab es ja nicht. Im Grunde hatte sich nur eine Sache wirklich geändert, womit seine Gedanken wieder bei ihr landeten. Er reiste nicht mehr allein. Eine Tatsache, die ihn am Anfang mit widersprüchlichen Gefühlen erfüllt hatte, aber die nun von einem Gefühl überlagert wurden: Akzeptanz. Er konnte ihre Anwesenheit nicht ändern, nur das Beste daraus machen und den Vorteil aus dieser Sache ziehen.

Also musste sein neues Geheimnis – wie auch immer das aussah – etwas mit Valeria zu tun haben. Eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein.

Er überdachte sämtliche Situationen, in der Valeria und er sich etwas voneinander erzählt hatten, angefangen bei ihrer ersten Begegnung bis hin zu dem heutigen Tag.

Und dann fiel es ihm ein.

Erst heute Morgen hatte er sich gefragt, ob ihr der kleine, doch rätselhafte Vorfall in der vergangenen Nacht etwas bedeutete und hatte sich vorgenommen, das herauszufinden. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, dass war die einzige Sache, über die er keine Klarheit hatte.

Aber das half ihm nicht weiter.

Doch in diesem Licht bekam auch ihr letzter Satz eine andere Bedeutung. Sie mochte ihn. Das half ihm zwar nicht bei seiner Entscheidung weiter, ob er zulassen sollte, dass sich die Geschichte wiederholte, aber zumindest kannte er nun ihre Sichtweise. Mögen war zwar ein breitgefächertes Wort, aber dennoch ein Anfang. Das Wort implizierte nicht automatisch tiefere Gefühle, es blieb ziemlich oberflächig, aber häufig kamen dann noch andere Gefühle hinzu. Seine Schwestern hatte er schließlich auch gemocht und trotzdem reichte dieses Wort nicht aus, um ihre Beziehung zueinander zu beschreiben.

Doch nun wollte er in die Bibliothek, aber dazu müsste er eine Entscheidung treffen. Und er wusste nicht welche. Er konnte keine Entscheidung treffen und er bezweifelte, dass er es jemals können würde. Er würde einfach abwarten, was die Zukunft noch brachte. Die Zukunft sollte diese Entscheidung für ihn fällen.

So entschied Gellert, indem er eine eindeutige Entscheidung ablehnte und er behielt Recht mit der Annahme, dass diese offene Entscheidung der Grund war, warum er die Tür nicht sehen konnte.

Denn nun, wo er seine Entscheidung der Zukunft anvertraute sah er sie. Die Tür. Er sah eine Eingangstür, die Eingangstür, die er in seiner Kindheit täglich durchschritten hatte. Die Tür zu dem Anwesen der Grindelwalds.

Hinter dieser Tür herrschte Frieden, eine heile Welt, in der er sich zurückziehen konnte oder seine Schwestern nerven konnte. Die Tür nach Hause.

Wie in einem Traum ging er auf sie zu. Alles an ihr sah echt aus. Selbst der Türklopfer in Form eines Drachen. Vorsichtig fuhr Gellert mit seinen Fingern den Konturen des Geschöpfes entlang, spürte die feinen Schnitzerein. Dann drückte er gegen die Tür. Sie ging schwer auf, dass tat sie immer, und gab den Blick in die Eingangshalle frei. Vorsichtig betrat Gellert sie. Die Halle war, wenn man sie mit denen von anderen Familien verglich, eher klein und bescheiden, doch dass hatte nie jemanden gestört. Denn das verschaffte dem Anwesen eine heimische Atmosphäre, die die meisten anderen Anwesen und Palästen fehlte.

Zu seiner Linken befand sich die gewundene Marmortreppe, die in die obere Etage führte und nun wusste er, wo er hinmusste.

Ohne zu zögern stieg er die Stufen hinauf, bis er bei dem Korridor angelangt war, auf dem er und seine Schwestern ihre Zimmer hatten. Seine Aufmerksamkeit ruhte auf einer ganz bestimmten Tür.

Er hatte gesagt, er hatte keine Lieblingsschwester und in gewisser Weise stimmte das auch. Er liebte beide gleich. Doch die Bindung zwischen ihm und Galina war eine Besondere gewesen. Sie hatten sich blind verstanden, keine Geheimnisse voreinander gehabt und sich alles anvertraut.

Die Tür zu ihrem Zimmer war ihm fast vertrauter als seine eigene. Sie hatte darauf bestanden, dass man bei ihr anklopfte, bevor man das Zimmer betrat.

Jetzt drückte er die Türklinke vorsichtig herunter und betrat ihr Zimmer. Sie hatte nie ein großes Zimmer gewollt, da sie nicht wusste, wie sie so einen Raum füllen konnte, damit er nicht so leer wirkte. Und nur etwas zur Dekoration hinstellen kam für sie nicht in Frage. Jeder Gegenstand sollte einen Nutzen haben.

Der Schrank, der Spiegel und Tisch – alles stand dort, wo es hingehörte. Alles in hellen Farben, denn sie konnte dunkle Farben nicht leiden. Sie fand, solche Farben wirkten und machten traurig, während sie sich selbst in den hellen Tönen wiederfand.

Gellerts Blick fiel auf das Bett. Eine Gestalt lag darin, vollkommen von der Decke verhüllt. Er machte einen Schritt auf sie zu, als der Boden aufging und ihn verschluckte, ihn mit sich in den Abgrund reißen wollte.

„Galina!", rief Gellert verzweifelt, kämpfte mit aller Macht gegen die Finsternis an, die ihn umhüllte und zu verschlingen wollte, doch verlor. Er wollte nicht wahrhaben, dass er sie nie wiedersehen würde, nie eine Antwort erhalten würde. Die Dunkelheit gewann und riss ihn mit sich fort.


Ein großes Sorry weil es so lange gedauert hat - mal wieder. Ich verspreche euch, egal wie lange es dauert, neue Kapitel werden kommen.

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