Teil 16
„Vermisst du deine Familie?", wollte Grindelwald unvermittelt wissen.
Evelyna runzelte die Stirn – wie kam er denn jetzt darauf? – doch schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf.
„Nein, nicht wirklich. Obwohl ich häufig an sie denke, aber ich glaube, sie würden meinen jetzigen Weg nicht gutheißen. Und manchmal stell ich mir vor, was sie wohl sagen würden, wenn sie mich nun sehen könnten."
„Warum?"
Evelyna lächelte.
„Sie würden in Ohnmacht fallen, wenn sie sehen würden, dass ich einfach in einem Kleid auf dem Boden sitze. Doch ich habe nicht eine Sekunde meine Entscheidung bereut. Ich muss mein wahres Ich nicht mehr verstecken." Sie sah Grindelwald an. „Doch du versteckst eine Menge."
Er seufzte.
„Du hast in etwa so viel Feingefühl wie Gaelle."
„Wie wer?"
Grindelwald atmete laut aus und schloss für einen Moment die Augen. Er hatte es ja nicht anders erwartet, nur der Zeitpunkt überraschte ihn. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Dinge sich nun so überschlugen.
„Gaelle. Meine Schwester. Unser Nesthäkchen."
Evelyna war verblüfft.
„Du hast eine Schwester? Wo lebt sie? Bei deinen Eltern?"
„Ich hatte zwei Schwestern, jetzt ist nur noch sie übrig. Sie ist in Sicherheit, doch nicht bei meinen Eltern."
„Was ..." Evelyna stockte. Den Bogen nicht überspannen, ermahnte sie sich. Nicht gleich weiter auf ihn eindringen, sondern ungefährliche Fragen stellen.
„Wie alt ist sie?"
„Sie ist sechs. Zu ihrem eigenen Schutz wächst sie unter einen anderen Namen auf. Später könnte sie sonst Probleme bekommen. Der Name Grindelwald ist nicht allzu häufig und noch dazu sehen wir uns ziemlich ähnlich."
„Und welcher Name ist das?"
Grindelwald lachte auf.
„Ich will sie schützen, denkst du da wirklich, dass ich den Namen einfach verraten würde?"
„Nein, eigentlich nicht. Aber dann weißt du ja, wie es ist, ein kleineres Geschwisterkind zurückzulassen."
„Ich habe sie nicht zurückgelassen!", widersprach Grindelwald heftig. „Ich wollte sie in Sicherheit wissen. Ich kann ihre Sicherheit nicht garantieren, noch kann es sonst jemand. Was ich tun konnte war, ihren Namen zu ändern und dadurch jede Verbindung zwischen uns verschwinden zu lassen. Es ist nicht optimal, aber es ist besser, als die Alternative. Als durch ihren Nachnamen zur Außenseiterin zu werden. Nun wird sie, wenn sie es will, zu gegebener Zeit in eine der europäischen Zaubererschulen geschickt, doch ich habe deutlich gemacht, dass das nicht Durmstrang sein darf. Dort könnte sonst jemand eine Verbindung herstellen."
„Aber selbst wenn sie ihren Namen behalten hätte, solange sie dich nicht unterstützt, ist sie doch in Sicherheit oder nicht? Denkst du wirklich, das Ministerium würde Kinder verurteilen?"
„Ich traue den Ministerien alles zu, wenn ihre kostbare Geheimhaltung in Gefahr ist. Und jeder, der auch nur nach Gefahr riecht, wird verhaftet. Nein, das ist besser so. Das schulde ich meiner Schwester und Familie."
Evelyna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte nicht weiter auf ihn eindringen, zumal er gerade begann, sich ihr gegenüber zu öffnen.
„Mein Bruder Henry ist sieben", erzählte sie. „Und der ganze Stolz meiner Eltern. Ich weiß nicht, wie lange er sich noch an mich erinnern wird oder was meine Eltern ihm erzählt haben, wo ich bin. Aber ich mache mir Sorgen um ihn. Dass er dem Druck meiner Eltern nicht standhalten kann und ihren Erwartungen nicht gerecht wird. Er ist zu weichherzig für diese Familie. Seine einzige Chance ist ein früher Tod unserer Eltern und dass es ihm dann gelingt, dem Namen Potter neuen Glanz zu verleihen."
„Hasst du deine Eltern so sehr?"
„Als Hass würde ich es nicht bezeichnen. Sie sind mir einfach gleichgültig. So, wie ich auch ihnen egal bin."
„Das kann ich nicht wirklich glauben. Sie sind deine Eltern, du bist ihre Tochter. Warum solltest du ihnen egal sein?"
Evelyna runzelte die Stirn, als ihr etwas einfiel. Es war lange her, sie war noch ein Kind gewesen, allerhöchstens vier Jahre alt. Sie war auf der Treppe ausgerutscht und hatte sich beide Knie aufgeschlagen. Wie es kleine Kinder nun mal machten, hatte sie begonnen zu weinen. Weniger vor Schmerz, eher vor Schreck über den Sturz und nun den Anblick von Blut.
Ihre Mutter war gekommen, noch vor den Hauselfen und hatte sich zu ihr gehockt und mit einem Zauber ihre Knie geheilt. Sie hatte sie getröstet und ihr einen Kuss gegeben. Und dann war es vorbei gewesen.
Evelyna schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden und beantwortete Grindelwalds Frage.
„Ich bin ein Mädchen. Sie wollten und brauchten einen Erben. Meinen Bruder."
„Würdest du gerne mit ihm in Kontakt bleiben?"
„Würdest du mit deiner Schwester in Kontakt bleiben wollen?"
Grindelwald öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Evelyna nickte.
„Genau. Was ich will, ist nicht wichtig. Es geht nicht. Ich will ihm nicht durch die Verwandtschaft mit mir die Zukunft ruinieren. Ihm stehen so alle Türen offen. Ich hoffe, er ergreift diese Chance auch."
„Für das größere Wohl", murmelte Grindelwald. Evelyna wusste, wie bedeutend diese Worte für Grindelwald waren und das jeder unbewusst nach ihnen handelte.
Doch sie zuckte mit den Schultern.
„Ich bin mir nicht sicher, ob es diese Bezeichnung verdient. Ich will einfach nicht sein Leben zerstören."
„Und das seiner Kinder und so weiter", ergänzte Grindelwald. „Du hast nach den Maßstäben des größeren Wohls gehandelt. Du hast dafür deine Familie verlassen. So wie ich auch meine Schwester verlassen habe. Und wer sagt, dass wir unsere Geschwister nie wiedersehen werden? Nicht offiziell, aber wenn man sucht, findet man Lösungen." Da sprach er aus eigener Erfahrung. Um seine Schwester nicht ganz zu verlieren, hatte er sich eine Geschichte ausgedacht, als er sie in Sicherheit gebracht hatte.
„Wie stellst du dir das vor?", fragte Evelyna. „Soll ich an seiner Tür klopfen und ihm sagen, dass ich seine verschwundene Schwester bin und nur mal nach dem Rechten sehen wollte?"
„Natürlich nicht. Andere Namen. Andere Identitäten. Damit kann man Erfolg haben. Stell dir vor, du änderst deinen Namen und fängst an, im britischen Zaubereiministerium zu arbeiten. Dein Leben kann zurückverfolgt werden, es gibt keine Hinweise, die verraten, dass du auf meiner Seite stehst. Du könntest falsche Spuren legen – natürlich nicht zu auffällig – und erfährst Informationen aus erster Hand, die du weiterleiten kannst. Alles nur ein Spiel."
Evelyna runzelte die Stirn. Das klang verdächtig nach einem konkreten Plan.
„Wie lange denkst du darüber bereits nach?"
„Eine Weile", gab Grindelwald zu. „Die Gelegenheit müsste man nutzen. Du hättest einen enormen Nutzen. Und du wärst wichtig. Für meine Seite, für mich. Du wärst praktisch meine rechte Hand."
Evelynas Herzschlag beschleunigte sich. Hatte sie sich nicht so eine Gelegenheit gewünscht? Grindelwald nahe zu stehen, seine Vertraute zu sein. Wichtig für ihn zu sein.
„Willst du mich loswerden?", fragte sie zur Sicherheit.
„Nein. Ich will nur alle Möglichkeiten nutzen, die sich mir bieten. Du könntest auch nach neuen Mitgliedern für unsere Sache Ausschau halten. Als Ministeriumsangestellte dürfte dies nicht sonderlich schwer sein."
„Und was ist mit dir?"
„Was soll mit mir sein? Als erstes mache ich mich auf die Suche nach dem Elderstab und anschließend werde ich ein Rückzugsort suchen, wahrscheinlich werde ich in den Bergen fündig. Ursprünglich kommt meine Familie aus den Alpen, einiges ist immer noch in unserem Besitz. Sobald ich siebzehn werde, bekomme ich das Gold meiner Eltern und alles wird auf mich überschrieben."
Also waren seine Eltern auch tot, merkte sich Evelyna. Aber es gab einige Punkte, die sie an seiner utopischen Zukunftsvorstellung störten.
„Du erlebst also die ganzen Abenteuer, während ich ein braves Leben führen soll? Das hört sich für mich an, als wolltest du mich loswerden. Oder außen vor lassen."
„Du würdest meine wichtigste Komplizin sein, dass nenne ich nun nicht gerade ‚außen vor lassen'. Und was dein Leben angeht, deine Tarnidentität führt dieses brave Leben. Dein wahres Ich..." Er lächelte leicht „... Nun, du hast mir angedroht, mich weiter zu nerven."
Auch Evelyna lächelte. Erleichtert.
„Stimmt, das habe ich", sagte sie leise. „Aber trotzdem, ich bin eine minderjährige Ausreißerin – wer sollte mich einstellen?"
„Du hast selber gesagt, dass du Jahrgangsbeste warst. Wenn du die Erlaubnis deiner Eltern brauchst, um deinen Namen zu ändern – nun, aus deinen Erzählungen schließe ich, dass sie diesen Schritt begrüßen würden. Wenn du deinen Nachnamen ähnlich lässt, gibt es vielleicht sogar welche, die es erraten. Aber das wäre ja nicht schlimm, schließlich soll dein Weg nachvollziehbar sein. Was sagst du, Evelyn Porter?"
Evelyna lachte.
„Sehr originell. Angenommen, ich wäre einverstanden, wer würde ich denn dann bei dir sein? Wer wäre ich wirklich?"
„Nun, du hast doch einen Zweitnamen. Valeria oder auch Valerie."
Evelyna durchdachte diesen Plan.
„Aber dann darf nie rauskommen, dass eine Valeria dich unterstützt. Auroren sind nicht dumm. Sie würden misstrauisch werden."
„Nein, Valeria würde nur ich dich nennen. Offiziell für die Außenwelt bräuchtest du natürlich noch einen anderen Namen."
„Noch einen? Und da soll ich noch durchsteigen? Auf Valeria kann ich mich noch einlassen, aber einen komplett fremden Namen? Ich glaube nicht, dass ich mich dann angesprochen fühle. Und drei Identitäten ..."
„Wir können es doch zumindest versuchen. Du hast außerdem nur zwei Identitäten. Nur hat deine eine zwei Namen. Hast du was dagegen, wenn ich dich von nun an Valeria nenne?"
Erstaunt sah Evelyna auf – wenn sie das nun noch war. Doch an Valeria könnte sie sich gewöhnen. Sie war nunmal eine andere geworden, von daher machte ein anderer Name Sinn. Aber darum ging es nicht. Nun die Vornamen zu nutzen deutete auf eine Vertrautheit hin, eine Verbundenheit, die nun recht schnell entstanden war.
„Wenn ich dich auch Gellert nennen darf?"
„Dann ist es geklärt. Erzähle mir mal, Valeria, was du über die sogenannte schwarze Magie weißt."
Noch ein paar (mehr) Worte zum Schluss: Wie ihr sicher bemerkt habt, fange ich so langsam an, Gellerts Vergangenheit – die ich ihm gegeben habe – aufzurollen. Es dauert noch, bis man wirklich alles erfährt, aber die Hinweise mehren sich.
Außerdem wird der Name „Evelyna" nicht mehr vorkommen, ich werde stattdessen in Zukunft immer "Valeria" schreiben. So wollte ich sie von Anfang an nennen. Je nach Situation wird sie nun auch manchmal als „Evelyn" vorgestellt oder auch mit dem dritten Namen, den ich mir überlegt habe. Aber das dauert noch ein bisschen.
Und aus „Grindelwald" wird „Gellert" werden, nur dass sich keiner wundert.
Ich bin bei manchen Kapiteln ein wenig skeptisch, ob es nicht zu schnell geht, gerade was das Verhältnis von Valeria und Gellert angeht, aber man verbringt nun mal keine vier Wochen damit, sich anzuschweigen und solange sind sie ja schon zusammen dort. Von daher wirkt zwar die Entwicklung von außen betrachtet ziemlich schnell, aber ist es eigentlich nicht.
Auch hier nochmal ein großes Dankeschön für meine 50 Follower! Und ein danke für jedes Review und jeden Vote.
Und auchhier ein wenig Eigenwerbung:
Guckt gerne mal bei meinem Instagramaccount my_bookishparadise vorbei. Dort Spoilerich vielleicht manchmal oder stelle auch meine Lieblingsbücher vor.
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