Teil 10

Evelyna sprang auf, fuhr herum und griff nach ihrem Zauberstab, doch der war verschwunden, sie griff ins Leere. Eine unsichtbare Macht heftete ihre Hände auf den Rücken, während gleichzeitig ihre Augen verbunden wurden. Sie kämpfte, um ihre Hände zu befreien, doch es brachte nichts. Sie konnte allerdings auch keine Stricke oder ähnliches fühlen, was bedeutete, dass es reine Magie war, die sie fesselte.

„Halt still!", zischte eine Stimme. „Dann passiert dir auch nichts!"

Es widerstrebte Evelyna, doch sie gehorchte. Sie spürte, dass dieser Zauberer im Moment mächtiger war als sie, vermutlich mächtiger als Grindelwald, und ihr Leben ihm herzlich egal war. Sie konnte zwar auch problemlos ohne Zauberstab zaubern, doch auch das würde er zu verhindern wissen. Das versuchte er zu verschleiern und das verriet ihn. Für Wahrheit und Lüge hatte sie schon immer eine Art sechsten Sinn gehabt und ihn im Laufe der Jahre erweitert und perfektioniert.

Dieses Gespür für die Wahrheit war ihr größtes Geheimnis.

Schon ihr Leben lang hatte sie es bemerkt, wenn sie angelogen wurde, was stets ihre Neugierde geweckt hatte, die Wahrheit herauszufinden. Immer erfolgreich. Sie kannte alle Geheimnisse ihrer Eltern, wusste Dinge über sie, über die sie nie sprachen und von denen sie bestimmt auch nicht erfreut wären, dass sie bekannt waren. Anfangs dachte sie, jeder würde Lügen spüren, doch in Hogwarts hatte sie sich aus Büchern weiteres Wissen zu diesem Thema angeeignet, gemerkt, dass es nicht so war und es nach und nach an ein paar Schülern ausprobiert, ihre Lügen entlarvt. Ein vergleichbarer Zweig der Magie war Legilimentik, nur war der bekannter und die Verteidigungstechnik war, wie Evelyna fand, leichter zu erlernen, während das, was sie konnte, in Vergessenheit geraten war und dementsprechend sich niemand dagegen verteidigte.

Dazu war es notwendig, bewusst auf das zu Hören, was nebenbei gesagt wurde. Dort verrieten die meisten Menschen mehr, als ihnen bewusst war oder sie zogen es ins lächerliche – auch das meistens unbewusst. Evelyna hatte gemerkt, wie viel Menschen auf diese Art etwas von sich preisgaben, ohne dass es jemand merkte.

Sie war sich nicht sicher, ob es eine Gabe war oder einfach eine sehr gute Menschenkenntnis, doch das spielte auch keine Rolle. Es war ein Teil von ihr und half ihr.

Soweit die Theorie. Nun versuchte Evelyna also versuchte blind, so viele Informationen wie möglich über ihren Gegenüber zu sammeln, indem sie sich auf die Lügen, die ihn umgaben konzentrierte. Doch der Widerstand war stärker, als sie angenommen hatte. Es überraschte sie, doch hielt sie nicht ab. Es war nicht einfach, denn er hatte sich in eine Menge Schutz-, Tarn- und Täuschungszauber gewickelt. Sie konzentrierte sich, grub – und er lachte. Eindeutig amüsiert, doch auch ein wenig gehässig.

„Du bist ganz schön hartnäckig, kleine Potter, das hätte ich nicht gedacht. Mit ein wenig mehr praktischer Übung, als der an ein paar armen Schülern, könnte mal was aus dir werden."

Evelyna ignorierte den Schreck, der sie überfallen hatte, als er ihren Namen gesagt hatte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Rest. Er kannte ihr Geheimnis. Das bedeutete, er hatte sich bewusst getarnt, um sie zu testen. Aber wenn er so töricht war, dann wollte sie ihn nicht darauf hinweisen, was für einen Fehler er machte. Hätte er die ganzen Zauber weggelassen, wäre sie machtlos gewesen.

„Wer bist du?", fragte sie.

„Nein, das ist die falsche Frage. Es spielt keine Rolle, wer ich bin. Das hat es nie. Du weißt, was für ein Gefühl das ist, nicht wahr? Deshalb frage ich dich, wer bist du?"

„Ich bin Evelyna Valeria Potter", antwortete sie wahrheitsgemäß.

„So nannten dich deine Eltern. Aber wer bist du?"

Evelyna antwortete nicht. Nicht, weil sie die Frage nicht verstand, sondern weil sie die Antwort selbst nicht wusste. Nicht mehr. Sie war nicht mehr das gleiche Mädchen, wie das, das sich in Hogwarts in der Bibliothek verkrochen hatte. Diese Person hatte sie hinter sich gelassen. Sie war Teil eines anderen Lebens. Glücklicherweise erwartete der Fremde auch keine Antwort. Er redete einfach weiter.

„Ich beobachte euch schon eine Weile. Erst Gellert Grindelwald und als du in seinem Leben aufgetaucht bist, musste ich auch dich unter die Lupe nehmen. Es war interessanter, als ich anfangs dachte. Deine merkwürdige Gabe – falls man es so nennen kann – ist sehr faszinierend. Wenn du Gellert davon erzählen würdest, würde er dich bestimmt akzeptieren. Aber das willst du ja nicht. Nicht so."

Er schien sich zu freuen, wie schockiert Evelyna war.

„Du willst, dass er dich aufgrund deines Wissens und deiner Fähigkeiten – also der in Hogwarts gelernten – akzeptiert. Doch ich würde dir einen anderen Weg empfehlen, aber du tust ja dann aus Prinzip das Gegenteil. Ja, ich weiß alles über dich."

Evelyna spürt wie er sich zu ihr beugte. „Gefühle sind immer schwer zu deuten, für mich als Beobachter fast unmöglich. Deine besonders, weil du sie dein Leben lang bereits versteckst, sowohl vor der Außenwelt, als auch vor dir. Du bist nicht nur ein menschlicher Lügendetektor, sondern auch ein Geheimnis. Ein Buch mit sieben Siegeln" Er lachte erneut. „Ihr zwei werdet bald wieder auf mich treffen, nachdem ihr in der Bibliothek gewesen seid und noch einige andere Sachen geklärt habt. Da die Suche nach der Bibliothek nach meinen Beobachtungen noch eine Weile dauern kann, habe ich mich entschieden, euch ein wenig auf die Sprünge zu helfen."

„Wir brauchen keine Hilfe." Da war Evelyna sich sicher. Schon gar nicht von jemandem wie ihm. Seine Worte hatten sie ein verwirrt und dieses Gefühl hasste sie. Es führte zu nichts außer überflüssigen Grübeleien, ohne die das Leben deutlich entspannter wäre.

„Nein, irgendwann würdet ihr sie so finden. Aber durch meine Hilfe wesentlich schneller. Mir wurde es zu langweilig."

„Wenn du uns helfen willst, warum entwaffnest du mich dann?" Evelyna war es gelungen, den Täuschungszauber zu umgehen. Ihr Gegenüber war überraschend klein. Kleiner, als sie ursprünglich geglaubt hatte.

„Gellert will ich helfen, dir nicht. Gellert wird mich sehen können, bei dir bin ich noch unschlüssig. Sehern vertraue ich. Doch da er schwierig zu überwältigen ist, habe ich mich für dich entschieden."

„Zu gütig." Also war sie ein leichteres Ziel. Das verletzte Evelyna schon ein wenig in ihrem Stolz, schließlich war sie eine fähige Hexe.

„Hier ist mein Hinweis, den du weiterzuleiten hast: Sei ehrlich. Damit ist nicht gemeint, dass man niemanden anlügen darf, sondern zu sich selbst ehrlich ist. Nichts vor sich verleugnen, um keinen Gedanke, nur weil er einem nicht gefällt, einen Bogen machen. Und sucht nicht. Wartet. Bis bald und viel Glück."

Seine Gegenwart verschwand und damit auch die imaginären Fesseln und Augenbinde.

Evelyna spürte ihren Zauberstab in ihrer Hand. Sie fröstelte und rieb sich die Stellen, an denen sie eben noch Fesseln gespürt hatte. An ihren Handgelenken waren keine Rötungen zu sehen. Sie war sich noch nicht ganz sicher, was das war, doch wäre er ihr weniger gut gesonnen gewesen, wäre dies ihr Todesurteil gewesen.


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