38. Don't Play With Fire
Don't Play With Fire
Das schlechte Gewissen in Haymitchs Adern begleitete ihn nun schon seit Anbruch der Dunkelheit. Die Hungerspiele neigten sich langsam dem Ende entgegen und es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Sieger für ein weiteres Jahr in alle Himmelsrichtungen über das Land verstreuten. Es blieb nicht mehr viel Zeit, die Gesellschaft der anderen Sieger zu genießen; für eine Weile unter Gleichgesinnten zu sein. Deshalb hatte Haymitch Effie allein zurück ins Penthouse geschickt. Damit er und die Sieger durch die Straßen des Kapitols wandern konnten. Er erleichterte ihn, den Abend mit Chaff und einigen anderen ausklingen zu lassen. Die meisten Sieger waren nette Leute, auch wenn sie Mörder waren.
Dennoch nagte nun das schlechte Gewissen an Haymitch, als er mit der Flasche in der Hand vor einer der heruntergekommeneren Bars im Zentrum herumlungerte. Eines der wenigen Lokale, um die von den meisten bessersituierten Kapitolern ein Bogen gemacht wurde. Weil es schäbig und eingerostet wirkte, weil es keinen Flair hatte, weil der Luxus fehlte. Genau deshalb hatten die Sieger diesen Laden ausgewählt. Um den gierigen Blicken der Oberschicht zu entkommen; um sich entspannt in eine Ecke setzen zu können, ohne von Fans belagert zu werden.
Haymitch dachte an Effie und hoffte, dass sie irgendwie Schlaf finden würde, bis er sich später zu ihr gesellte. Er hatte versprochen, dass er kommen würde. Auch wenn sie nur das Wort Kneipentour gehört und die Augen zu Schlitzen verzogen hatte, weil sie wusste, dass er betrunken zurückkehren würde. Sie hatte die Unruhe, allein zu sein, gut heruntergespielt, aber Haymitch wusste dennoch, dass sie da war.
„Die letzte Runde ging auf Gloss", kam es in diesem Moment von der Tür. Chaff trat aus der Bar heraus, schwankend auf den Beinen und grinste zu seinem Freund herüber. Haymitch schüttelte seine Gedanken ab. „Und nun sieh', wer die Rechnung übernehmen musste, weil der Bursche sich frühzeitig aus dem Staub gemacht hat."
„Ist was in der Arena passiert?", fragte Haymitch. Chaff und er waren für Gewöhnlich die Letzten, die bei den jährlichen Zusammentreffen mit den Siegern das Handtuch schmissen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass der junge Gloss die letzte Runde ausgeben wollte. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht mal erinnern, wann der goldene Junge gegangen war. Er erinnerte sich einzig an die kurze Verabschiedung, der kurze Handschlag, den sie ausgetauscht hatten. Es hätte genauso gut Stunden her sein können.
Chaff schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ihm steigt das alles zu Kopf. Sein eigener Sieg war ja auch erst letztes Jahr." Er schüttelte verwirrt den Kopf und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Haymitch setzte sich in Bewegung und Chaff folgte ihm mit wackeligen Schritten. „Ich glaube, ich werde diese Leute aus Eins und Zwei nie begreifen. Eine andere Sorte, ohne Frage."
„Als würdest du nicht sofort den Platz mit Gloss tauschen, wenn du könntest", murmelte Haymitch, ein Spur Gehässigkeit im Ton.
Sie liefen durch verlassene Gassen, bis sie auf eine der Hauptstraßen gelangten. Hier war das Leben noch im vollen Gange. Beide Seiten der Allee waren von Schaufenstern gesäumt, die sich die Straße hoch bis zum Trainingscenter aneinanderreihten. Und obwohl es zwei Uhr morgens war, liefen Menschen umher, betraten Boutiquen und verließen sie mit bunten Einkaufstüten.
„Nur ein Volltrottel würde das nicht", erwiderte Chaff schließlich und marschierte nach rechts, in Richtung Trainingscenter. Haymitch folgte ihm wankend, die Welt ein Rausch aus Lichtreflexen und Schwindel und presste den Mund zusammen.
Die goldenen Schaufenster waren mit verschiedensten Produkten geschmückt. Detailliert positioniert, als würde alles andere die Kunden verscheuchen. Hier im Herzen des Zentrums reihte sich Luxusmarke an Luxusmarke und Haymitch konnte erkennen, wo einige der Sponsoren ihre aufwändigen Anzüge und Kleider herhatten. Silber, Gold und Diamanten bis das Auge reichte. Ein einziger Stein würde wahrscheinlich reichen, um ganz Distrikt 12 für eine Weile zu ernähren.
Chaff neben ihm begann zu glucksen, als sie an einem besonders seltsamen Kleiderladen vorbeigingen. „Mir kann kein Mensch auf dieser Welt weismachen, dass diese Idioten dieses Zeug auch tragen würden, wenn es drüben in einem herkömmlichen Laden hängen würde."
„Die reden sich doch selbst nur ein, dass das gut aussieht", antwortete Haymitch grinsend. „Tief im Inneren wissen die selbst, wie scheiße sie aussehen. In Scheiße geboren, von Scheiße erzogen, mit Scheiße drum rum. Da kann nur wieder Scheiße rauskommen."
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass die dasselbe über uns sagen", bemerkte Chaff und musterte eines der schleimgrünen Kleider im Fenster, dessen Schnitt so merkwürdig aussah, dass es kaum möglich war, oben von unten zu unterscheiden.
„Worauf du wetten kannst." Haymitch nahm einen großen Schluck von seiner Flasche und war dankbar über den kühlen Brand in seiner Kehle; über das sofort eintretende Gefühl der Leere.
Eine Weile lang liefen sie schweigend nebeneinander. Sie hatten die Shoppingmeile schon fast hinter sich gelassen, das Trainingscenter ragte bereits wie ein Koloss vor dem sternlosen Nachthimmel auf, als Haymitchs Füße wie von selbst zum Stehen kamen. Eine abgehakte, impulsive Bewegung, die sein Bewusstsein nicht vorausgesehen hatte.
Und dann stand er plötzlich vor einem Juwelier, starrte auf den goldenen Schmuck hinter den dicken Fenstern und dachte plötzlich an sie. Sah in das klare, funkelnde Blau der von Gold umrahmten Diamanten und hatte mit einem Mal Effies Augen vor sich. Es traf ihn wie ein Blitzschlag.
Haymitch verfluchte den Alkohol, bereute den letzten Schluck schließlich doch. Eine Strafe des Universums, weil er Drink um Drink bisher reuelos genossen hatte und eine Sache in seinem Leben nie einfach gut sein konnte. Nein, da war immer mehr hinter der Fassade.
Chaff brauchte mehrere Schritte, bis er begriff, dass sein Freund nicht länger neben ihm lief. Er drehte sich um die eigene Achse und blickte für einen Moment wie versteinert auf Haymitch. Als wäre er nicht hundertprozentig sicher, dass dieser Mann vor dem Schaufenster tatsächlich Haymitch war. Chaff musste den Wechsel in der Atmosphäre um sie spüren, denn mit einem Mal hechtete er zu ihm herüber und griff nach seinem Arm. „Denk nicht einmal dran."
Haymitch fiel es schwer, seine Aufmerksamkeit von dem blauen Stein abzulenken. Blau wie Kornblumen.
„Das ist die bescheuertste Idee seitdem du dachtest, es wäre eine gute Idee, dich in der Lounge mit einem Friedenswächter anzulegen. Hast du überhaupt bemerkt, dass sie dich die ganze Zeit beobachten, während ihr in der Lounge herumdackelt?"
Haymitch kniff die Brauen zusammen, so sehr musste er sich konzentrieren, um Chaffs Schwall an Worten zu verstehen. Sein Freund sprach zu hastig, zu überstürzt und die Silben überschlugen sich dabei. „Niemand beobachtet uns", stellte Haymitch augenverdrehend fest. „Und selbst wenn ..." Er zuckte mit den Schultern. „Es gab dieses Jahr so viel Bewegung mit Zwölf. Sie denken eh immer, dass ich etwas am Aushecken bin. Sobald Elowen tot ist, wird sich das legen."
Chaff warf ihm einen Blick zu, der so viel sagte wie So einfach ist das nicht. „Ich kann nicht mehr tun, als dich zu warnen. Das haben Mags und ich nun schon zur Genüge gemacht. Pass auf dich auf, Haymitch. Sei vorsichtig."
„Wir sind vorsichtig", sagte Haymitch und es war so gut wie ein Geständnis.
Chaff seufzte, vom üblichen Misstrauen Effie gegenüber nichts in seinen Zügen. „Lass uns gehen."
Und das war es. Haymitchs Augen glitten ein letztes Mal zu dem blauen Stein, dann nickte er und folgte Chaff zum Trainingscenter. Ihre Schritte tönten so laut durch das Foyer, dass Haymitch das Gefühl bekam, das halbe Haus zu wecken. Obwohl sie alle so weit oben schliefen und selbst bis zur Etage von Distrikt 1 knapp sechzig Meter lagen.
Der Aufzug saugte jede Koordination aus Haymitchs Muskeln. Er hielt sich am Geländer fest und musste sich zusammenzureißen, nicht zu kotzen, als dieser mit einem Wimpernschlag zum Stehen kam. Der Lift gab ein läutendes Geräusch von sich und die Tür zur 11. Etage öffnete sich. Chaff wankte hinaus, blieb jedoch im Türrahmen stehen, um sich ein letztes Mal zu Haymitch umzudrehen.
„Du bist so am Arsch." Keine Belustigung schwang in Chaffs Stimme mit.
„Ich weiß", erwiderte Haymitch, lange nachdem die Türen sich wieder geschlossen hatten.
oOo
Haymitch wusste nicht wie. Bei all dem Alkohol in seinem Blut hätte es nicht möglich sein dürfen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er hierher zurückgekehrt war. Alles, was er wusste, war, dass er wieder vor dem Juwelier stand; wieder in das kristallklare Blau der Diamanten schaute.
Haymitch hatte kein Zeitgefühl. Von der Sonne fehlte aber noch jede Spur. Das schien die Kapitoler nicht zu stören, die an ihm vorbeiliefen, viele selbst alkoholisiert und mit Freunden an ihrer Seite. Wenn man im Kapitol an Schlafstörungen litt und der Geldbeutel groß genug war, würde man hier definitiv keine Langeweile kriegen.
Haymitch schaute durch das Fenster, an dem Schmuck vorbei. Ein einzelner Avox stand hinter der Kasse und ein Friedenswächter in den Schatten dahinter. Wenn man hier nachts einkaufen ging, kam man wahrscheinlich sowieso nicht wegen der Beratung.
Haymitch betrat den Laden. Falls sie ihn erkannten oder den Alkohol rochen, waren sie gut darin, es nicht zu zeigen. Ohne ein Wort deutete er auf die Goldkette im Schaufenster. Fein und dünn, der Anhänger mit dem blauen Kristall das einzig annähernd Prunkvolle. Aber selbst hier hielt sich der Schrei nach Aufmerksamkeit in Grenzen. Es erinnerte ihn mehr an eins der uralten Familienerbstücke, die in den wenigsten Familien in 12 weitergereicht wurden. Zu schlicht für das Kapitol.
Der Avox musste nicht zum Fenster gehen, um zu wissen, was Haymitch meinte. Er öffnete eine Schublade und holte eine identische Kopie der Kette hervor. Dann ein passendes Paar goldener Ohrringe mit tränenförmigen Steinen, ehe er eine fragende Braue hob, bereits an den Grenzen seiner Kommunikation. Es musste sich um ein Set handeln. Haymitch starrte eine Sekunde lang auf die Ohrringe, auf die eingelassenen Steine und nickte dann.
Keine fünf Minuten dauerte sein Einkauf. Und doch raste Haymitchs Herz. Raste, als hätte er etwas Weltveränderndes getan. Und ein Teil von ihm wusste auch, dass dem so war. Haymitch hatte die Grenze übertreten.
oOo
Haymitch fand nie die Gelegenheit, Effie den Schmuck zu geben. Es gab Momente, als sie noch im Penthouse waren, wo er sie in ihr Zimmer führen und ihr das Schmuckkästchen in die Hand hätte drücken können. Er dachte darüber nach, während sie frühstückten, konnte seinen inneren Schweinehund aber nicht überwinden. Ein Teil von ihm fürchtete sich vor Effies Reaktion. Vor dem, was sie sagen würde. Vor dem Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie begriff, was er getan hatte.
Haymitch war ein verdammter Feigling. Also schob er es auf später. Und als sie schließlich zur Sponsorenlounge aufbrachen, schob er es auf den kommenden Abend, der jetzt noch so lange hin erschien. Was machte es schon aus, ob sie die blöde Kette heute Morgen oder heute Abend bekam?
Jetzt, wo Haymitch nüchtern war, war da wieder diese tadelnde Stimme in seinem Kopf aufgetaucht, die nach der vergangenen Nacht etwas zu sehr nach Chaff klang. Du bist ein Idiot. Ihr seid nur Arbeitskollegen. Das hier ist nur körperlich, mehr nicht. Sich ausprobieren. Effie wollte sich nur ausprobieren. Und Haymitch hatte sie aus seinem System kriegen wollen. Das hatte einfach wunderbar funktioniert ... Nicht.
Haymitch konnte die vielen kleinen Andeutungen nicht ignorieren, die Effie ihm – wahrscheinlich auch unabsichtlich – in den Weg streute. Sätze wie Ich habe keine Gefühle für Seneca halfen nicht gerade dabei, ihre eigenen Absichten deutlichzumachen. Oder die Tatsache, dass sie sich vor zwei Tagen ohne zu zögern vor den geladenen Lauf eines Gewehrs gestellt hatte, um ihn zu schützen. Tat man das für seine Affäre? Dort wo Haymitch herkam wohl eher nicht. Mittlerweile war Haymitch sich sicher, dass Effie nicht mit ihm spielte, dass sie keine geheimen Absichten hatte. Es wäre so viel einfacher, wenn dem so wäre.
Stattdessen kribbelten seine Finger nun, weil er Effies Arm so nah war, ohne ihn einfach berühren zu können. War das noch Ausprobieren oder schon abseits der Grenze? Effie, die in ihrem rosa-roten Kleid all die anderen Frauen im Raum in den Hintergrund rücken ließ. Über die Schulter hinweg warf sie ihm einen raschen Blick zu. Sie spürte die Abwesenheit seiner Gedanken. War das noch Ausprobieren oder kannte man seinen Arbeitskollegen irgendwann einfach so gut, weil man Tag und Nacht Seite an Seite arbeitete?
„Was ist los?" Effies Flüstern erreichte Haymitchs Ohren kaum. Die Lounge war zu laut.
Man merkte, dass es auf das Ende der Spiele zuging. Nicht nur wegen dem schieren Andrang an Menschen, sondern auch weil mehr Offizielle zugegen waren. Die Männer mit weißen Rosen an ihren Reversen hatten sich Tag um Tag vermehrt. Politiker der allerhöchsten Instanz. Zumindest nahm er an, dass sie dies waren. Die meisten standen zusammen, blieben unter sich, aber einige wenige bewegten sich wie Geister durch die Menge, als wären sie auf der Suche nach etwas. Ihre Füße waren so geschickt, ihre Körper so unscheinbar, dass Haymitch mehr als einmal beinahe in der Menge mit einem von ihnen zusammengestoßen wäre. Und während Effie dann in allen Maßen, mit all der Höflichkeit, die sie besaß, um Verzeihung bat, grummelte er nur eine halbherzige Entschuldigung, weil er diese Leute nicht ausstehen konnte.
Heute war er noch keinem von ihnen begegnet. Glücklicherweise. Haymitch blinzelte im Versuch die Neonlichter über ihren Köpfen auszublenden, die die Lounge in einen halben Nachtclub verwandelten. Er könnte ein ganzes Leben leben und würde sich trotzdem nie daran gewöhnen. Das hier war kein Ort für hochrangige Politiker. Bei allen verlorenen Geistern konnte Haymitch sich Snow nicht in diesem Raum inmitten all dieser Affen vorstellen. Obwohl sie ihm alle unterworfen waren. Wie seltsam.
Effie überbrückte den Abstand zwischen ihnen und griff in einer nahtlosen Bewegung nach seinem Arm. Haymitchs Haut reagierte überempfindlich auf die Berührung und es kostete ihn Mühe, seine gleichgültige Miene aufrecht zu halten. Er neigte den Kopf leicht in ihre Richtung und schaffte es dann doch nicht, das halbe Lächeln von seinen Lippen fernzuhalten. Die Sanftheit in ihren hellblauen Augen würde ihn seufzen lassen, wenn sie allein wären. Anstelle dessen beschleunigte er seine Schritte, bis sie aus dem engsten Teil der Menge herausbrachen und zur Bar spazierten.
Erst jetzt erinnerte Haymitch sich, dass Effie ihm eine Frage gestellt hatte. Auch wenn sie nicht so aussah, als würde sie zwingend auf eine Antwort warten. Nachdem die letzten beiden Tage nach Ramons Tod ihr schwer zugesetzt hatten, schien sie sich langsam zu fangen. Die Qual war immer noch da, keine Frage, aber es nagte nicht mehr ganz so stark an ihrem Herzen.
So war das mit dem ersten Tod. Niederschmetternd wie eine geliebte Vase die zu Bruch ging, aber für den Moment nicht übermäßig tragisch. Aufweckend, wie ein Weckruf, weil man sich vornahm, auf die nächste Vase mehr achtzugeben. Nur dass die kommenden Vasen alle wieder und wieder zerschmettern würden. Und das – diese immer wiederkehrende Zerstörung – war es, was einen auf lange Sicht zerstörte. Was an einem nagte, wie die Wellen unnachgiebig an den Klippen am Rande des Ozeans nagten und diese im Laufe der Zeit Stück um Stück zu etwas Neuem formten. Nur dass jeder weitere Tod einem mehr und mehr die Form raubte. Anstatt aus dem Stein etwas Neues zu formen, sorgte der Tod nur dafür, dass die eigene Seele weiter und weiter abgerieben wurde, bis Nichts mehr übrig war. Bis man eine leere Hülle seines einstigen Ichs wurde.
Das war genau das, was mit Effie geschehen würde. Nicht heute. Vielleicht morgen. Vielleicht in zehn Jahren. Aber es würde passieren. Haymitch wusste es, weil niemand davor verschont blieb. Niemand mit existierendem Herz und Verstand blieb verschont.
„Denkst du, dass Elowen zum Festmahl gehen wird?", fragte Effie nach einem Schluck ihres Champagners und betrachtete ihn unter ihren Wimpern heraus.
Haymitch kniff die Augen zusammen, um endlich und endgültig aus seinen Gedanken zu entkommen. Das hier war der falsche Ort für Tag- und Albträume. Also drehte er sich auf seinem Barhocker in Effies Richtung, bis seine Knie gegen ihre stießen und trank aus seinem Glas, um seine Antwort im Kopf durchzuspielen.
Heute Morgen hatten die Spielmacher verkündet, dass es in einigen Stunden ein Festmahl geben würde. Verschiedenste Gaben sollten dort ausgelegt werden. Von Medizin, über Nahrung bis hin zu Waffen. Vor allem aber Dinge, die zum jetzigen Stand der Spiele kaum zu bezahlen waren. Nachdem Cashmere gestern Abend noch Kaili aus 4 getötet hatte, um ihr die Infektion zu ersparen, waren noch fünf Tribute übrig: Cashmere und Magnus aus 1, das Mädchen aus 6, der Junge aus 7 und Elowen. Nun, wo die Spannung mit einigen ereignisreichen Tagen wieder aufgelebt war, versuchten die Spielmacher nun, diese aufrechtzuerhalten.
„Elowen ist nicht dumm", sagte Haymitch schließlich. „Sie hat genug Beeren und Wasser, um eine Weile zu überleben. Ihr fehlt nichts. Sie wird bleiben, wo sie ist." Was bedeutete, dass Elowen weiter auf der Baumkrone im Dschungel ausharren würde, auf der sie zwischen den Phasen der Beeren- und Wassersuche ausharrte. Sie wusste, wo sie beides fand, also waren ihre Ausflüge nie von langer Dauer. Der Baum war nicht anders als die anderen Bäume im Sumpf, hoch mit wenig Ästen und Blättern, aber es war besser als sein Glück auf dem Boden zu versuchen. Haymitch war froh genug, dass Elowen einen Baum gefunden hatte, der nicht ganz so schwer erklimmbar war. Das reichte ihm als kleinen Erfolg. Tief in seiner Brust wusste er, dass es nur eine Frage der Zeit war, aber mit diesem Thema hatte er bei Effie noch nie Früchte geerntet.
„Ihr fehlt eine Waffe", stellte Effie fest. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Tatsache bemerkte. Ihre hellen Augen waren auf ihre sich berührenden Knie geheftet, der Ausdruck zwiegespalten. Als sie den Kopf hob, gab Haymitch sich Mühe, sanft zu schauen.
„Der Versuch, sich beim Festmahl eine Waffe zu sichern, wäre Selbstmord."
„Ich weiß." Natürlich wusste sie es. Es änderte nichts daran, dass es die einzige Lösung für ihr Problem war.
„Komm schon." Haymitch sprang von dem Barhocker, schob das leere Whiskeyglas auf den Tresen und hielt Effie dann eine Hand hin. Ein Lächeln stahl sich auf seinen Mund, als ihre Finger sich zögerlich um seine schlossen und sie vorsichtig von dem Stuhl abstieg. Ohne seine Hilfe wäre sie überhaupt erst nicht auf den Hocker hochgekommen.
„Was hast du vor?" Effie klang misstrauisch und neugierig zu gleich. Diese Energie, die von ihm ausging, war selten.
„Wir sollten mit neuen Sponsoren reden. Da sind noch ein paar, die wir heute noch nicht abgeklappert haben." Ein fast enttäuschter Ausdruck schlich sich auf Effies Miene. „Aber", fügte Haymitch gedehnt hinzu und ihre kornblumen-blauen Augen landeten wieder auf ihm. Erwartungsvoll und liebevoll und plötzlich musste er an die vergangenen Nächte denken, die sie eng aneinander geschlungen verbracht hatten. Haymitch blinzelte gegen die Bilder an und dann stand sie wieder vor ihm, wenn auch der Blick immer noch derselbe war. Haymitch räusperte sich und hatte mit einem Mal das Gefühl, zu schwanken. „Aber ich habe mir gedacht, dass wir später nochmal tanzen könnten. Du hast recht. Die Sponsoren sollten uns zusammen sehen."
„Natürlich sollten sie das." Effie strahlte, die Schatten der vergangenen Tage endlich einmal fort. Das genügte Haymitch, um zu wissen, dass es die richtigen Worte gewesen waren. „Schön, dass du mein Sentiment endlich teilst." Als wüsste er nicht, dass sie gerade nur versuchte, sich sein Angebot irgendwie professionell zu reden. Schön zu reden.
Die Sponsorensuche selbst zerrte jedoch an Haymitchs Nerven. Wenn die Leute gestern schon abgeneigt gewesen waren, dann war ihnen heute noch weniger nach einem Deal mit Distrikt 12 zu Mute. Wie an den meisten Tagen teilten Effie und er sich irgendwann auf. Die Stunden verstrichen und lange blieb bis zum Festmahl nicht mehr. Sobald dieses einmal begonnen hatte, würde sich keine Sau in dieser Lounge für Elowen interessieren. Wobei das wahrscheinlich jetzt schon der Fall war.
Irgendwann begann Haymitch einfach nur noch ziellos umherzuwandern. Eher das als zu Effie zurückzukehren, um ihr zu sagen, dass er aufgegeben hatte. Seine Gesichtsmuskeln schmerzten von all den falschen Lächeln. Seine Füße schmerzten von den zu engen Schnürschuhen, die seine Zehen zusammendrückten und seine Fersen trotz der dicken Socken wundschürften. All die Kapitoler um ihn herum wirkten in ihrer Abendgarderobe zu leichtfüßig und graziös und Haymitch wunderte sich, ob sie die Feinheiten ihrer Kleider ebenso störten wie ihn oder ob sie so perfekt in diese – ihre – Welt passten, dass sie solche Probleme gar nicht besaßen.
„Na, wen haben wir denn da?", trällerte da plötzlich eine fröhliche Stimme an Haymitchs Ohr. Er löste seine Augen von der farbenfrohen Menschenmenge, die sich um ihn herum ausbreitete und drehte sich zu der Person neben ihm.
Das letzte Mal als er Laetitia Lowell gesehen hatte, war während des Countdowns der Spiele gewesen. Sie hatte ihr Glas erhoben – vielleicht auf ihn oder auf ihren Deal, es interessierte ihn herzlich wenig. Heute, neun Tage später, lag dasselbe mysteriöse, wissende Lächeln auf ihren vollen, violetten Lippen. Aber alles andere an ihr hatte wenig mit der Person gemein, welche Haymitch in seinem Kopf mit ihrem Namen assoziierte.
Die Frau, die nun vor ihm stand, besaß langes pastell-lila Haar und steckte in einem engen, edelsteinbesetzten Federkleid mit gleicher Farbe, bei dem der Schulter und Brustbereich vollkommen nackt war. Als würde sie wollen, dass die Augen aller Menschen zuerst zu ihrem üppigen Dekolletee wanderten. Ihre ovalen Gesichtszüge waren von riesigen silbernen Diamantohrringen umrahmt und eine Reihe an aufgeklebten Steinchen zierte ihre Brauen.
Haymitch legte den Kopf schräg und schluckte die Worte herunter, die sich auf seiner Zunge bildeten. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und warf ihr den mildesten Blick zu, den er zustande bringen konnte. Auch wenn er Effie versprochen hatte, dass er keinen weiteren Deal mit Laetitia eingehen würde, war es keine gute Idee, einer Frau wie ihr mit Feindseligkeit zu begegnen. Ihre Gewohnheiten mochten verrückt sein, aber sie war immer noch die Ehefrau des Obersten Spielmachers. Eine Tatsache, die man niemals vergessen durfte. Sie war zu Zerstörung fähig, auch wenn sie dies bisher vielleicht noch nie in Betracht gezogen hatte.
„Es ist eine Weile her, dass ich dich hier gesehen habe", brachte Haymitch schließlich hervor. Das einzig Gute an Laetitia war, dass sie die Sieger ohne ihre aufgesetzten Fassaden bevorzugte. Er hatte keine Ahnung warum. Vielleicht genoss sie den unbeschwerten Umgang, den Sarkasmus, die Gleichgültigkeit. Alles Eigenschaften, die man ihr im Kapitol niemals entgegenbringen würde. Es war ihm ziemlich egal.
„Und siehe da, es hat sich einiges getan." Laetitia strahlte, strich sich eine lila Haarsträhne über die Schulter und winkte einen Avox herüber. „Ich bin ehrlich, wenn ich sage, dass ich nicht an den Erfolg von Zwölf geglaubt habe, als du zu mir gekommen bist. Jetzt jedoch ..." Ein mehrdeutiges Schmunzeln schob ihre Mundwinkel weiter nach oben und ihre schneeweißen Zähne blitzten Haymitch entgegen.
„Das Glück ist dieses Jahr wohl mit uns", bemerkte Haymitch halb ironisch und Laetitia klimperte wissend mit den Wimpern. Er nahm das Glas Champagner, welches sie ihm reichte.
„Nur begrenzt, wenn man sich dein noch übriggebliebenes Tribut anschaut." Laetitia musterte einen der Bildschirme, als wüsste sie nicht schon längst, was sie von Haymitch wollte. Er spielte mit, folgte ihrem Blick und betrachtete Elowen für einige Sekunden, wie sie reglos in der Baumkrone hockte. Wartend. Als wenn ihr Albtraum vorbeigehen würde, wenn sie nur lang genug wartete. Laetitia und Haymitch wussten beide, dass es eine Illusion war.
„Komm schon, raus mit der Sprache", forderte Haymitch letztlich, sein Geduldsfaden in diesen Tagen gewöhnlich kürzer.
Laetitias onyxbraune Augen flogen zurück zu ihm und es wirkte, wie wenn seine Worte einen Funken in ihnen entfacht hätten. Sie lehnte sich ihm entgegen, so nah, dass ihr warmer Atem sein Ohr streifte und murmelte „Ich schmeiße heute Abend eine Party bei mir zuhause. Ich würde dich gerne einladen."
Ein schnaubendes Lachen entkam Haymitchs Brust. „Wieso? So gut kennen wir uns jetzt auch nicht."
Laetitia lächelte nur und fuhr mit dem Zeigefinger über die Kante ihres Kristallglases. Sie zuckte die Schultern. „Du tust mir leid", erklärte sie, aber Haymitch konnte das Feuer des Verlangens in ihren Pupillen sehen. So deutlich als könnte er es berühren. Langweilten ihre üblichen Sieger sie etwa so sehr? „Ich könnte sicher noch etwas für dein Mädchen rausholen. Es wäre doch schade ihr Leben auch noch zu vergeuden."
„Es sind nur noch fünf Tribute übrig, Laetitia. Wie willst du das für Zwölf drehen? Wenn du zaubern könntest, hätte ich bestimmt schon was davon mitbekommen." Haymitch grinste, obwohl ihm ziemlich ungut zumute war. Nicht wegen des Angebots, der eine weitere Runde Sex implementierte. Nein, an diese spezielle Währung im Kapitol hatte er sich gewöhnt. Die Tatsache, dass seine Fingerspitzen in dem Bedürfnis, Ja zu sagen, zu kribbeln begannen, ließ die Galle in seinem Magen hochsteigen. Er wusste, dass Elowen sterben würde und Laetitia wusste es auch. Dennoch wollte er nicht kampflos aufgeben. Machte ihn das nun zu einem geringeren Feigling?
„Ich habe bereits gezaubert, mein Lieber." Laetitias violetten Nägel strichen über seine Schulter, hinterließen ein schmerzhaftes Pochen auf seinem Körper. „Denk an das Füllhorn zurück. Willst du wissen, wo deine Tribute eigentlich platziert waren? Glaub mir, ich habe ihnen bereits einmal das Leben gerettet. Ich kann es wieder tun." Triumph loderte in ihren Augen. Wusste sie, wie sehr Haymitch sich anstrengen musste, den Mund zusammenzupressen? Wusste sie, wie sehr er sich zusammenreißen musste, diesem verdrehten Überlebensinstinkt zu widerstehen?
Haymitch blinzelte. Schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Ein Wimpernschlag. Und plötzlich war die Welt vor ihm eine andere.
„Haymitch, da bist du ja!", rief eine ihm so vertraute Stimme, dass Haymitchs Muskeln sich wie von selbst entspannten. Sein Körper drehte sich wie von selbst in ihre Richtung. Erleichterung durchströmte ihn und er wusste nicht, weshalb.
Effie schritt langsam an seine Seite, als stünde die Zeit auf ihrer Seite. Ihr echtes, blondes Haar fiel ihr in sanften Locken um die Schultern, dafür war das weite Lächeln auf ihren pinken Lippen um so gekünstelter. „Ich habe dich überall gesucht!" Da war dieser falsche Akzent in ihrem Ton, den die Kapitoler für gewöhnlich untereinander verwendeten; so dick aufgetragen, dass Haymitch sich ein Schmunzeln auf einmal nicht verkneifen konnte. Was für eine Show sie hier abzog.
„Sorry", erwiderte Haymitch und spielte ihr Spiel mit. „Da habe ich wohl die Zeit vergessen. Bin ich zu spät?"
„Noch nicht ganz." Effies blaue Augen glitten langsam von Haymitch zu Laetitia, als würde sie die Frau jetzt erst bemerken. Sie klimperte einmal mit ihren Wimpern, weitete ihr Lächeln neugierig und zeigte ansonsten kein Anzeichen von Erkenntnis auf ihrem Gesicht. Als hätten sie sich vor neun Tagen schon einmal gegenübergestanden. Als wäre die Ehefrau des Obersten Spielmachers eine Unbekannte – jemand den man nicht kennen musste. „Verzeihen Sie mir. Ich hoffe, ich störe nicht." Dann streckte sie Laetitia mit all der falschen Freundlichkeit, die sie besaß, die Hand hin. „Ich bin Effie Trinket, Eskorte von Distrikt Zwölf."
„Laetitia Lowell", war alles, was Laetitia zurückgab, etwas aus der Bahn geworfen. Sie war es nicht gewohnt, sich vorstellen zu müssen. Trotz ihres jungen Alters kannte sie eigentlich jeder im Kapitol. Heute nicht.
„Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen." Effie klang überschwänglich. Konnte man von seiner eigenen Stimme Kopfschmerzen bekommen, wenn man den ganzen Tag so sprach?
„Ebenfalls", antwortete Laetitia, mit einem Mal nicht mehr so selbstzufrieden wie gerade noch. Sie machte einen höflichen Schritt zurück, das Feuer in ihren Augen erstickt.
„Wir sollten gehen, wenn wir unsere Verabredung nicht warten lassen wollen." Das rosarote Kleid in dem Effie steckte, schmiegte sich schmeichelnd um ihren Körper, ließ sie noch graziöser wirken als sie ohnehin war. Haymitch schaute zwischen Effie und Laetitia hin und her und wunderte sich, wie zwei so ähnliche Farben so verschiedene Wirkungen haben konnten. Neben Effie wirkte Laetitias Pastelllila auf einmal nicht mehr so ausgefallen.
„Definitiv nicht", stimmte Haymitch ihr zu und bot Effie seinen Arm an. Und während Effie sich höflich bei Laetitia entschuldigte, nickte er ihr über seine Schulter hinweg zu. „Danke für das Angebot, aber ich denke, ich passe."
Hätte Haymitch den Preis dafür gekannt, Laetitia Lowell auf solch eine Art und Weise stehen zu lassen, dann wäre er Effie nicht so leichtfertig ins Verderben gefolgt. Stattdessen drehte der unwissende, naive Sieger sich auf dem Absatz um und verpasste den Emotionswechsel, der auf Laetitias Gesicht stattfand. Verpasste, wie ein neues Feuer in ihren Augen zu glühen begann.
-
Nur noch drei Kapitel, bis diese FF zu Ende geht. :(
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