37. Gold
Gold
Es war die zweite Nacht, die Haymitch in Effies Bett verbrachte. Erst die zweite Nacht und trotzdem schien es so, als hätte sie sich bereits an seine Präsenz neben ihr gewöhnt. Im Halbschlaf streckte sie die Hände nach ihm aus, als müsste sie sichergehen, dass sie wirklich nicht allein war. Für ihn war es das genaue Gegenteil. Hier zu liegen und darauf zu warten, dass die Sonne hinter den glitzernden Dächern aufging, fühlte sich fremd und falsch an. Und dennoch genoss es ein Teil von ihm.
Es war ein einfaches Arrangement. Ein neues Arrangement. Eine Erweiterung von ihrer ursprünglichen Abmachung, wobei der Sex wahrscheinlich noch zur Ersten zählte. Es war nicht bei dem einen Mal geblieben. Auch ohne Alkohol wirkte es auf Haymitch so, als würde Effie so all ihren aufgestauten Emotionen am besten Luft machen können. Er hatte noch nie jemand so stürmisches und leidenschaftliches erlebt. Sie war das genaue Gegenteil von ihm. Vielleicht war es auch einfach das, was ihn an der ganzen Sache reizte: Seine eigene Welt zu vergessen.
Haymitch wollte behaupten, dass der Sex der beste Teil des Arrangements war. Das wäre die leichteste Antwort gewesen. Aber er konnte nicht leugnen, dass es etwas Friedliches, Idyllisches hatte, neben Effie im Bett zu liegen, ihrem ebenmäßigen Atem zu lauschen, ihre stetige Körperwärme zu spüren, während draußen in der Stadt die Nacht langsam vom Tag abgelöst wurde. Da war so eine Ruhe, die ihn in diesen frühen Stunden umgab. Eine Ruhe in seiner Brust, die ihn entspannte. So anders als das Chaos, welches er für Gewöhnlich verspürte. Es war der Hauptgrund gewesen, weshalb er am Ende des nächsten Tages wieder geblieben war, nachdem sie darum gebeten hatte.
Mittlerweile war es der achte Tag der Hungerspiele. Ramons Tod lag bereits mehr als vierundzwanzig Stunden zurück. Ein ganzer Tag in der Sponsorenlounge, an dem Effie und Haymitch hatten so tun müssen, als würde ihnen der Tod ihres männlichen Tributs nicht nahegehen. An dem sie die teilweise amüsierten Beileidsbekundungen über sich hatten ergehen lassen müssen, ohne den Mund zu öffnen, ohne ein unhöfliches Wort über ihre Zungen kommen zu lassen. Um den Schein zu wahren. Um kein böses Blut zu schöpfen. Denn da war noch ein Mädchen im Rennen. Da war noch Elowen, für die sie alles geben mussten. Also hatten sie das Spiel mitgespielt, so wie es von ihnen erwartet worden war.
Auch wenn all die Schmeichlerei natürlich nichts gebracht hatte. Nach Ramons Tod waren von den Top Zehn nur noch neun übriggeblieben. Die meisten Sponsoren hatten sich bereits festgelegt und die, die es noch nicht getan hatten, hatten kein Interesse an Elowen. Die kleine Elowen, die so lange überlebt und sogar einen Jungen getötet hatte. Die nur weiter Beeren und Nüsse sammelte und ihre meiste Zeit auf Bäumen verbrachte. Ihr ging es besser als einigen anderen Tributen in der Arena.
Tag Acht der Hungerspiele war wahrlich nicht erwähnenswert. In der Arena hatte das weibliche Tribut aus Distrikt 3 dran glauben müssen, nachdem sie dem Jungen aus 7 beim Sammeln über den Weg gelaufen war. Ihr Distriktpartner, mit dem sie eine Allianz gehalten hatte, war zu weit weg gewesen, um ihr zu helfen und hatte im Anbetracht der ungewissen Gefahr die Hände in die Beine genommen. Das Tribut aus 7 hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die Fährte aufzunehmen, weil er es allein auf den Rucksack mit getrocknetem Fleisch des Mädchens abgesehen hatte. Hungerspiele.
Wenn man darüber nachdachte, dass die Kapitoler nur nach dem brutalsten Tod dürsteten, hätte man dem ganzen Spektakel doch einen anderen Namen geben sollen. Haymitch hielt Killerspiele für einiges passender.
Aber auch außerhalb der Arena war nicht viel geschehen. Im Fernsehen waren die Interviews der noch lebenden Tribute ausgestrahlt worden. Elowens Mutter hatte keinen besonders freundlichen Eindruck gemacht, auch wenn sie einige Sätze mit dem Reporter gewechselt hatte. Mehr als Haymitch von Distrikt 12 erwartet hatte, auch wenn im Interview mehr als deutlich geworden war, dass sie nicht an das Überleben ihrer Tochter glaubte und auf einen gnadenvollen Tod hoffte. Ein Fakt, der Effie nicht gerade dabei geholfen hatte, ihre betrübte Laune zu heben. Oder Elowen glaubhaft an Sponsoren zu verkaufen. Heute mussten sie mehr erreichen. Mit jedem toten Tribut würde es schwieriger werden, Elowen zu unterstützen.
Haymitch starrte abwesend aus dem Fenster. Noch war der Himmel weiter in ein kräftiges Blau getaucht, aber der Mond war bereits hinter den Bergen verschwunden. Am weit entfernten Horizont zeichneten sich die ersten Nuancen eines Oranges ab. Und gerade weil die Sonne ihren ersten Auftritt bereits hinlegte, war Haymitch froh, noch hier im Bett liegen zu können. Froh, dass er noch einige Stunden hatte, ehe er aufstehen und sich diesem nächsten unausstehlichen Tag stellen musste.
Ein Seufzen entfuhr Haymitchs Lippen und er verschränkte die Arme vor der Brust, während er den Kopf in den Nacken legte und auf dem hölzernen Kopfteil abstützte. Genau genommen lag er gar nicht im Bett, sondern saß; sein Rücken gegen das Kopfteil gelehnt und nur seine Beine unter der dünnen Bettdecke. Wenn er hier in Effies Zimmer war, schlief er ohnehin nicht. In seinem eigenen Raum schlief er ja schon kaum. Und hier einzuschlafen, mit Effie neben ihm in Reichweite ... Etwas, was er nicht riskieren konnte bei den lebendigen Albträumen, die ihn plagten.
Effies Körper neben ihm bewegte sich. Erst ein Zucken ihres Körpers, dann drehte sie sich nach langem Innehalten in seine Richtung. Nichts Ungewöhnliches. Wie sich herausgestellt hatte, besaß Effie einen unruhigen Schlaf. Haymitch schob es auf die Hungerspiele. Wenn sie nicht schon von eigenen Albträumen geplagt wurde, dann würden sie diese früher oder später einholen.
Effie bewegte sich weiter, streckte nun ihre Arme aus, was ihn wunderte. „Haymitch?", flüsterte sie, kein Anzeichen von Müdigkeit in der Stimme. Dafür eine Fragilität, als müsste sie sich zusammenreißen, gleichmäßig atmen zu können.
Haymitch nickte, weil die Stadt genug Licht spendete, dass sie seine Silhouette ausmachen konnte. Er dachte an das Zucken ihres Körpers und fragte sich, ob sie nicht tatsächlich aus einem Traum aufgewacht war. Die Frage beantwortete sich, als sie nach seinem Handgelenk griff und ihn zu sich zog. Ihm blieb Zeit für einen Atemzug, bevor ihr Mund auf seinem lag; bevor ihre Finger über seine Brust gen Süden streichelten.
Und so glitten die ersten Sonnenstrahlen der späten Nacht – oder des frühen Morgens – mit einem Atemzug in den Hintergrund; verschwammen am Rande von Haymitchs Vision als Effies Körper mit seinem verschmolz.
oOo
Die Sponsorenlounge war überlaufen. Bei so wenigen überbleibenden Tributen wurden die Menschen irgendwann doch aufgeregt. Es half, dass die Karrieros ihrem nächsten Opfer dicht auf den Fersen waren. Der unvermeidbare Tod wurde in den nächsten Stunden erwartet. Überlaufen genug, dass Effie gehofft hatte, dem Mann aus dem Weg gehen zu können, der ihr heute Morgen beim Eintreten schon ins Auge gefallen war.
Caius Canville. Herausgeputzt in einem maßgeschneiderten, schwarzen Anzug, dessen vergoldeten Ornamente im Neonlicht blitzten und glitzerten, egal ob aus dem Augenwinkel oder im direkten Blickfeld. Egal wo sie war, er wollte einfach nicht aus ihrer Vision verschwinden. Als würde er sie wieder und wieder daran erinnern wollen, dass er hier war; dass er wartete.
Effie wusste natürlich, dass sie Caius nicht einfach umgehen konnte. Spätestens nachdem ihre Schwester Aurelia ihre Absichten mit dem aufstrebenden Politiker vor einigen Monaten ausdrücklich erklärt hatte. Ein Traum einer jeden Mutter und auch Lyssandra Trinket hatte ihren Stolz nicht zu kurz kommen lassen. Caius war vielleicht nicht so elitär wie Seneca, aber hoch genug in der Nahrungskette, um zur Elite zu gehören. Er entstammte einer Familie von Politikern, die allesamt hohe Ämter innehielten. Sein Vater war Teil des äußeren Zirkels des Präsidenten und war damit fast so unantastbar wie der mysteriöse Snow selbst. Und reich. Da schaute man gerne schon mal über die zahlreichen Affären des zukünftigen Schwiegersohns hinweg.
Caius Canville, der schon seit einigen Wochen offiziell verlobt war, ließ sich von dieser einschränkenden Tatsache nichts anmerken. Er bewegte sich leichtfüßig durch die Menge, graziös wie immer und schenkte den Damen sein weißes, umwerfendes Lächeln, während die Menge sich um ihn teilte, als wäre er ein Gott. Der verlobte Bachelor. Der Boden, auf dem er lief von Frauen allen Alters verehrt. Eine Bubble, in die Effie nicht eindringen wollte, zu der sie nicht gehören wollte. Ein Teil von ihr wunderte sich, weshalb Caius von all den Frauen, die er hätte haben können, gerade ihre Schwester ausgewählt hatte. Nicht dass sie kein Vorzeigebeispiel einer treuen, pflichtbewussten Ehefrau war. Doch man brauchte Caius auf einer Veranstaltung wie heute nur einen flüchtigen Blick zuwerfen, um zu wissen, dass seine Interessen auf anderen Eigenschaften lagen.
Effie starrte und starrte, tief in Gedanken. Ohne zu merken, dass Caius ihre Aufmerksamkeit bemerkt hatte. Obwohl ihre Augen auf ihm ruhten, folgten sie ihm nicht, als er sich aus einem Gespräch mit einem jungen Mädchen löste und mit federndem Gang zu ihr herüber stolzierte.
„Effie!", rief Caius vergnügt, seine Stimme süß wie Honig. Seine Hand kam sanft auf ihrer Schulter zum Liegen und sie tauschten Luftküsse aus, noch ehe Effie völlig in der Gegenwart angekommen war. „Ich habe gewartet, dass du rüberkommst und Hallo sagst."
„Caius", erwiderte Effie, zu stolz, um ihm zu offenbaren, dass ihr Starren ihr unangenehm war. „An Tagen wie diesen bin ich sehr beschäftigt, wie du sicherlich weißt."
„Gewiss doch." Caius' Lippen verzogen sich zu einem schalkhaften Grinsen und er fuhr sich durch das dunkelbraune Haar, eher er an seinem Champagner nippte. „Es läuft ziemlich gut für dich. Oder wohl eher lief. Dein Ass im Ärmel ist ja leider dem Goldenen Mädchen zum Opfer gefallen."
Etwas in Effies Bauch zog sich bei Caius' Worten zusammen. Nach außen hin wahrte sie die standhafte Attitüde. Kopf hoch und lächeln. „Mein männliches Tribut mag tot sein, aber Zwölf ist weiterhin im Rennen. Ich glaube daran, dass wir eine Chance haben."
Caius legte den Kopf schief und seine umbrabraunen Augen fuhren forschend über Effies Gesicht hinweg. „Ich mag zwar meine meiste Zeit auf Partys verbringen, aber vergiss nicht, wer ich bin", erwiderte er nun, eine Spur der Seriosität darin. Das hier war eine der seltsamen Seiten von Caius, die Effie nie begriff. Anders als seine Missetaten vor ihr genauso zu verstecken, wie er es vor Aurelia und dem Rest der Trinkets tat, sprach er ihr gegenüber immer die Wahrheit. Effie wusste nicht, was er in ihr sah, um ihr diese Dinge nicht vorzuenthalten. Oder warum er sich bei ihr nicht die Mühe machte, den aufgesetzten Kapitoldialekt zu verwenden. „Als Politiker muss man die Mienen der Menschen lesen können, wenn man Erfolg haben will. Vor allem die Mienen der Leute, die ihre Emotionen hinter einer Fassade aus Lügen versteckt halten."
„Das sind keine Lügen", entgegnete Effie kühl und bediente sich am Champagner, der ein Avox ihnen in dieser Sekunde anbot. Der blubbernde Alkohol half nicht, die Furcht in ihrer Mitte zu lindern, drängte aber das Zittern zurück, welches sich anzubahnen drohte. Ein Zittern, das seit Ramons Tod nicht mehr gänzlich aufgehört hatte. „Ich glaube tatsächlich daran, dass mein Mädchen gewinnen kann. Vielleicht nicht geradeheraus mit einer Waffe, aber es gibt genug andere Wege, die übrigen Tribute zu übertrumpfen."
„Ach, Effie." Caius seufzte theatralisch, doch als Effie seinen Pupillen begegnete, fand sie dort nicht die Belustigung oder Missbilligung, die sie erwartet hatte. Stattdessen Mitleid. Kaum sichtbar, aber dennoch da. „Fest an eine Lüge zu glauben, macht sie nicht weniger zur Lüge."
Hitze strömte durch Effies Körper. Angst und Zorn zugleich. Aber das hier war nicht Haymitch, mit dem sie ihre Gefühle teilen konnte; der sie verstehen würde. Und auch wenn Caius anscheinend mehr von dieser Welt der Hungerspiele wusste, als es den Anschein machte, wusste sie, dass sein Mitleid ihrer Naivität galt. Nicht den sterbenden Kindern oder ihren Gefühlen den Tributen gegenüber.
Effie hätte nicht gewusst, was sie auf Caius' Worte erwidern sollte. Da war nichts, was sie ihm zu sagen hatte. Die durcheinanderredenden Stimmen der Menschen um sie herum, die plötzlich wie ein geeinter Chor in die Höhe schnellten, gaben ihr einen Vorwand, sich von Caius fortzudrehen. Zu den Bildschirmen, die die Arena übertrugen. Und zum ersten Mal war sie froh, Teil dieser Menge zu sein; als Teil von ihr agieren zu können; sich in ihren Handlungen verstecken zu können. Auch wenn das letzte Mal, als diese Euphorie von der Sponsorenlounge Besitz ergriffen hatte, Ramon mit seinem Leben bezahlt hatte.
Die Kameras waren auf den Jungen aus Distrikt 3 gerichtet, dem die Karrieros schon seit einer Weile auf den Fersen waren. Nur dass dieser nicht länger ahnungslos durch die Gegend spazierte, sondern mit seinem Speer auf einem Baum hockte und sich in der Krone versteckte. Während die vier übriggebliebenen Karrieretribute geradewegs an ihm vorbeiliefen.
„Wie es scheint, ist unser lieber Dell aus Distrikt Drei Cashmere und ihrem Team einen Schritt voraus", bemerkte Caesar Flickerman fast schon beiläufig. „Abgesehen davon, dass er mit seinen achtzehn Jahren der älteste Tribut ist, gehört er dieses Jahr auch zu den größten. Etwas, was man nicht unterschätzen sollte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Wut über den gestrigen Tod seiner Distriktpartnerin noch ziemlich frisch ist."
Distrikt 3 war zwar seltener ein Teil der Karrieretribute, aber dafür oft ähnlich lange im Rennen. Beide Tribute hatten dieses Jahr eine gute Beute am Füllhorn gemacht. Ihr Bündnis hatten sie schon während der Interviews bekannt gegeben. Ein Bündnis, welches gestern durch den Tod des Mädchens zu Ende gegangen war. Ob Wut mit im Spiel war, wie Caesar behauptete, konnte Effie nicht beurteilen. Der Junge aus Distrikt 7 war für diesen verantwortlich, nicht die Karrieros.
Diese bemerkten Dell nicht, gingen ohne weitere Notiz an seinem Versteck vorbei und folgten einer falschen Spur, die der Junge vorher gelegt hatte. Dell erhob sich aus der Baumkrone und balancierte den matschbeschmierten Speer in seiner rechten Hand. Wartend. Bis die vier Tribute genau dort standen, wo er sie haben wollte. Dann schleuderte er den Speer von sich und während dieser durch die Luft zischte, sprang er von dem Baum, den Karrieros direkt entgegen.
Die Kanone feuerte in dem Moment, in der der Speer den Rücken des Jungen aus Distrikt 2 durchbohrte. Sein Körper kippte nach vorn, hatte noch nicht den Boden berührt, als Dell seinen Speer bereits wieder aus ihm herauszog. So lange brauchten die übrigen Karrieros, um auf dem Absatz herumzufahren; um den Hinterhalt in Augenschein zu nehmen.
Cashmere preschte nach vorn, ihr Schwert gezückt und Magnus folgte ihrem Beispiel mit seinem eigenen Speer. Das Mädchen aus 4 reagierte nicht so schnell, zusätzlich im Nachteil, weil sie die Nachhut gebildet hatte und sich somit direkt in Dells Radius befand. Sie griff nach ihrem Schwert und duckte sich parallel, um dem schmutzigen Speer zu entgehen, der nun neben Dreck auch vor Blut triefte. Innerhalb weniger Sekunden hatten die drei Karrieros Dell umzingelt. Er musste von Anfang an gewusst haben, dass das hier ein Himmelsfahrtkommando war. Aber sie waren ihm ohnehin bereits auf der Spur gewesen.
Dell kämpfte, sein Speer im Kontrast zu Magnus' fast schon braun anstatt silbern. Der Stab war lang genug, um sich damit gleichzeitig von mehreren Seiten verteidigen zu können. Es sah aus wie ein Tanz und wirkte auf den ersten Blick friedlicher, als man erwarten würde. Wenn man den leblosen Körper des männlichen Tributs aus 2 ignorierte. Stahl traf auf Stahl, Funken sprühten, Metall krächzte. Es wirkte wie eine einstudierte Choreografie, als hätten die Kinder die Schritte und Bewegungen vorher lange einstudiert.
Dann brach Dell aus der Choreo heraus. Er stach in Cashmeres Richtung, aber nichts als ein Bluff. Denn im nächsten Moment ging er in die Hocke, um Magnus' Reaktion auszuweichen und stürzte sich dann auf das Mädchen aus 4. Und während Cashmere zurücktaumelte und Magnus ins Leere schlug, rammte er seinen Speer auf ihren Körper zu. Es gelang ihr, zur Seite springen, aber nicht schnell genug, um die Kollision völlig zu verhindern. Die Spitze schürfte über ihr Schlüsselbein bis hin zur Schulter. Das Mädchen zischte vor Schmerz, als der scharfe Stahl ihre Haut aufschlitzte. Aber noch ehe Dell einen weiteren Schritt auf sie zumachen konnte, hatten sowohl Cashmere als auch Magnus sich von ihren Ablenkungen erholt. Mit seinem Rücken, der ihnen nun wehrlos zugewandt war, war es ein Leichtes, ihn niederzustrecken. Fast gleichzeitig, als führten die Tribute aus Distrikt 1 immer noch ihre synchrone Choreografie aus, stachen sie ihm mit Schwert und Speer in den Rücken. Die nächste Kanone knallte durch den Dschungel.
„Die Ereignisse überschlagen sich!", rief Caesar aufgeregt und hektisch zugleich. Er fuhr damit fort, die Ereignisse zusammenzufassen. „Sie wurden gerade Zeugen wie Dell aus Distrikt Drei erst unseren Liebling Wystan aus Zwei aus dem Verkehr gezogen hat, um sich dann einen nervenzerreißenden Kampf mit Cashmere, Magnus und Kaili zu liefern. Während unser Dreamteam aus Eins wohlauf ist, wurde Kaili aus Vier verletzt. Somit sind Distrikt Zwei und Drei für diese Saison wohl komplett aus dem Rennen, sorry liebe Freunde."
In all dem Lärm der Sponsorenlounge fühlte Effie sich klein und unbedeutend. Sie drehte sich fort von dem Bildschirm, nur um zu merken, dass Caius immer noch neben ihr stand. Er schaute sie an, beobachtete sie. „Und so sind es nur noch sechs." Er lächelte auf seine charmante, einnehmende Art und Weise, die Effies Herz weder wärmte noch erregte.
„Zwei Konkurrenten weniger", sagte Effie kühl, auch wenn ihr Inneres alles verspürte außer Kälte. Dieser Tod aus dem Hinterhalt, dieser Speer durch den Rücken, brachte Ramons Bilder zurück an die Oberfläche. Sie nahm einen langen Schluck von dem mittlerweile warmen Champagner.
Caius hob die Brauen und verzog belustigt die Lippen. „Hast du das gerade gesehen, meine liebe Schwägerin? So wird dieses Spiel dieses Jahr enden. Du siehst doch, wie die Karrieretribute drauf sind. Dein kleines Mädchen könnte sich für den Rest der Spiele verstecken und würde trotzdem verlieren."
Effie erwiderte sein Lächeln dezent. All die falsche Freundlichkeit, die Caius ihr entgegenbrachte, warf sie direkt zurück. Wie ein Kraftfeld; je stärker die Kraft des Aufpralls, desto größer die Kraft des Rückstoßes. „Hast du noch mehr zu sagen oder ist heute deine einzige Absicht, mich aufzuziehen, liebster Schwager?"
„Glaube keineswegs, dass ich nur mit dir spreche, um dich lächerlich zu machen", erwiderte Caius und zwinkerte ihr zu. Seine Hand fuhr wieder zu ihrer Schulter und seine drahtigen Finger verharrten auf ihrer nackten Haut, die das heutige bordeauxrote Samtkleid bot. „Wir gehören noch nicht lange zu einer Familie, Effie. Für die Canvilles gibt es nichts Wichtigeres als das. Und wir beide, du und ich, sind nun eine Familie. Ich sehe es als meine Pflicht, meine Familie zu unterstützen, dort wo ich kann. Deshalb bin ich hier."
„Um mich zu unterstützen?", echote Effie dunkel, das Misstrauen auf ihr Gesicht geschrieben.
„Oh, du hast schon vom ersten Moment nur schlecht von mir gedacht!", klagte Caius mit aufgesetzt niedergeschlagener Stimme und drückte sich die andere Hand in theatralischer Geste ans Herz. Dann wurde aus dem gespielten Schmollmund ein weiteres Grinsen. Es hatte etwas Teuflisches. „Ich wollte schon immer mal Sponsor sein!"
Caius' Finger glitten in die Innenseite seines Sakkos und fischten ein Bündel roter Geldscheine hervor. Eine Geste, die allen Leuten, die sie bisher schon unauffällig beobachtet hatten, die Kinnlade runterfallen ließ. Niemand, und wirklich niemand, schloss so einen Sponsorendeal ab. Kein Sponsor würde einfach so einen Stapel Bargeld herumreichen, als wäre er nicht der Kern dessen, mit der ihr gesamtes Leben am Laufen gehalten wurde. Man prahlte zwar mit seinem Geld, rieb es anderen unter die Nase, aber präsentierte es nicht auf diese Weise. Das hier war ein Affront auf so viele Weisen und Effie wäre am liebsten im Boden versunken. Bargeld. So bezahlte man Drogen und Huren und was das Kapitol ansonsten noch für illegale Attraktionen zu bieten hatte. Aber keinen Sponsorendeal.
Effie starrte auf die Geldscheine, die Caius ihr hinhielt und spürte das prickelnde Gefühl in ihren Fingerspitzen, ihn zu schlagen. Seine Augen glitzerten amüsiert, während ihre kaum finsterer hätten sein können. Er bezahlte sie wie eine Hure. Weil er genau diese Aufmerksamkeit für sie wollte. Weil er ihr zwar mit dem Geld etwas Gutes tat, aber dieser Gefallen natürlich mit einem anderen Preis kam.
„Du bist unglaublich, weißt du das?", zischte Effie voller Abscheu. Sie hatte keine andere Wahl, als das Geld zu nehmen. Es abzulehnen wäre undankbar und arrogant, vor allem für Distrikt 12. Ihr einziger Trost war, dass es keine unbeträchtliche Summe war. „Welcher Mensch trägt überhaupt so viel Geld mit sich herum, Caius? Sowas spricht sich rum! Du wirst noch überfallen, wenn du dich weiter so präsentierst!"
„Sag doch einfach Danke." Caius schmunzelte, deutete eine kleine Verbeugung an und tätschelte ihr ein letztes Mal die Schulter. „Ich hoffe doch einfach nur, dass meine Schwägerin schon bald mit einem angenehmeren Distrikt assoziiert wird. Aber jeder fängt mal klein an, nicht wahr?" Eine letzte Neckerei, bevor er ihr zunickte und an ihr vorbeispazierte. Bereits auf der Suche nach einem neuen Abenteuer.
Nur dass Caius sich nach knapp zwanzig Metern doch nochmal zu Effie umdrehte. Sein eindringlicher Blick überrumpelte sie, was sein Grinsen weitete. „Bevor ich es vergesse, du siehst heute wirklich atemberaubend aus", rief er über die tosende Menge hinweg, so laut, dass Köpfe sich wieder in ihre Richtung drehten, und warf ihr einen Luftkuss zu. Einen Atemzug später war Caius zwischen den Menschen verschwunden. Und diesmal verschwand das störende Funkeln seines vergoldeten Anzugs mit ihm.
oOo
„Wer war das denn?", fragte Haymitch, Rücken an den Tresen gelehnt und Vodka im Glas, als Effie sich zu ihm gesellte. Die Szene mit diesem brünetten Mann hatte er aus der Ferne ohne Probleme verfolgen können. Dank der vielen anderen, die sie ebenfalls beobachten wollten. Ein Mann der klar das Selbstbewusstsein und den Charme der Elite besaß; der so offensichtlich von der Wegwerfmentalität des Kapitols vergiftet war, dass es eigentlich an seinen Körperöffnungen herausfließen müsste, so voll war er von sich selbst. Die Frauen warfen sich ihm trotzdem in den Weg, wahrscheinlich um einen Schnipsel seiner Welt, seines Lifestyles, seines Geldes abzubekommen. Auch wenn es nicht von Dauer war.
Ein Mann, der jeden im Raum mit einem Zauber besessen und gefügig gemacht hatte. Ein Zauber, der allein auf Effie keine Wirkung zu haben schien, egal wie viele anregende Lächeln und intime Berührungen er ihr entgegenwarf. Ihre Miene war über eine gekünstelte Freundlichkeit nicht hinausgekommen und hatte sich im Verlauf des Dialogs eigentlich nur verschlechtert. Bis er einen Batzen Geld in ihre Hand gedrückt hatte und ihr die Fassungslosigkeit und Rachsucht kaum deutlicher hätten im Gesicht stehen können.
Haymitch fand es amüsant. Es gab so wenige, die dazu in der Lage waren Effie Trinket aus der Bahn zu werfen. Effie fand es offensichtlich nicht witzig.
„Ein großzügiges Mitglied der Familie", war alles, was Effie antwortete.
Haymitch zögerte, weil dieser Mann so sehr nach Elite schrie, dass es ihn verwirrte. Die Trinkets gehörten nicht zur Elite. Abgesehen davon schien sie nicht sonderlich gut auf diesen großzügigen Freund der Familie zu sprechen zu sein. Effie winkte ab, noch ehe Haymitch den Mund öffnen konnte, um mehr zu erfahren.
„Wir haben neues Geld, das ist alles, was zählt." Auch wenn Haymitch deutlich hören konnte, dass wohl eher das Gegenteil der Fall war. „Komm, ich muss zur Einzahlungsstelle, um es auf unser Konto zu übertragen."
Nachdem sie das Geld einzahlten, tat sich wieder etwas in der Arena.
Kaili, das Mädchen aus Distrikt 4, das von Dells Speer erwischt worden war, ehe dieser niedergestreckt werden konnte, hatte sich eine Infektion eingefangen. Wie sich herausstellte hatte Dell seinen Speer im Vorhinein nicht ohne Grund auf so sichtbare Weise verschmutzt. Er hatte sich den Dreck zu Nutze gemacht, um seine Gegner damit auf lange Sicht mit in den Tod zu reißen. Kailis Wunde an der Schulter, die sie noch am Ort des Geschehens verarztet hatten, hatte sich in nur wenigen Stunden entzündet. Eine Blutvergiftung, den schwarzen Venen unter ihrer Haut nach zu urteilen. Das Fieber war bereits ausgebrochen, so heftig, dass sie kaum noch in der Lage war, weiterzulaufen. Cashmere, die nach dem Hinterhalt von Dell ziemlich sprunghaft wirkte, haderte nicht lang. Kaili hätte es ohnehin nicht überlebt. Alles, was Cashmere ihrer Verbündeten noch anbieten konnte, war ein schneller, schmerzfreier Tod. Und so waren innerhalb von zwei Tagen von den verbleibenden Zehn nur noch fünf Tribute übrig. Und Elowen eine von ihnen.
Elowens Überleben war kein sonderlicher Grund zum Feiern. Einigen weiteren, erfolglosen Sponsorengesprächen folgend, zog es Haymitch und Effie gegen Abend schließlich nach oben auf die Dachterrasse. Die Nachmittagssonne tauchte die Stadt in einen goldenen Schein, färbte die Fenster der benachbarten Gebäude bronze und wärmte die kupferfarbenen Drinks in ihren Händen schneller als sie sie trinken konnten.
Haymitch lehnte mit dem Rücken zum Geländer der Terrasse. Eine dünne Glasscheibe und ein Metallrahmen war alles, was ihn vom freien Fall trennte. Mit den Jahren im Kapitol hatte er Vertrauen mit ihrer Ingenieurskunst geschlossen. Seine silbernen Augen ruhten auf Effie, die neben ihm stand und auf die leuchtende Stadt hinausschaute. Sie schien verloren in all dem Gold. Es spiegelte sich in ihren Augen, überlagerte das Blau ihrer Iris.
Effie hatte den Menschen den Rücken zugekehrt, hatte die Sponsorensuche aufgegeben. Jeden Tag mit denselben Sponsoren zu sprechen, änderte nichts am Endergebnis ihrer Entscheidungen. Es gab keine freien Sponsoren mehr. Zumindest keine, die an Distrikt 12 interessiert waren. Haymitch verstand es; hätte nichts anderes erwartet. Er wollte Elowen helfen, wollte sie retten, wollte sie lebend nachhause bringen. Aber wie? Das Glück war gegen sie. Und obwohl Elowen mehr in der Arena geleistet hatte als einige andere Außenseiter, waren ihre Wettquoten die Schlechtesten. Haymitch verachtete sie dafür. Verachtete seine Machtlosigkeit.
Effie neben ihm war niedergeschlagen. Wegen Ramon. Wegen ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie begriff langsam, wie wenig sich doch ändern ließ, wenn einmal entschieden war. Ihre sonst so lebhaften Augen wirkten in den vergangenen Tagen leer. Ihre sonst so energischen Züge aussichtlos. Es war schwierig geworden, ihr ein ehrliches Lächeln zu entlocken.
Haymitch schlürfte an seinem warmen Alkohol und ließ seinen Blick über Effies Körper fahren. Ein Körper, den er fast vollends erforscht hatte, dessen Wege und Rundungen er kannte. Sie trug eine lockige, weinrote Perücke. Fast identisch zur Farbe ihres Kleides. Allein die stählernen Bestückungen an Schultern und Brust lieferten einen Kontrast, sowie die schwere Silberkette um ihren Hals.
„Woran denkst du?", fragte Effie, der sein Anschauen nicht entgangen war. Sie stützte sich mit den Armen auf dem Geländer ab, ihr Glas schwebte über der haltlosen Freiheit der Tiefe.
Haymitch war froh, dass sie sich ein wenig gehen ließ. Dass sie nicht stocksteif neben ihm stand, wie eine Lady sich angeblich zu benehmen hatte. Er war froh, dass Effie dieses bescheuerte Verhalten in seiner Gegenwart mittlerweile abgelegt hatte. Fühlte sie sich wohl in seiner Nähe?
„Vertraust du mir?", fragte Haymitch. Obwohl sie abseits der Leute standen, hielt er seine Stimme bedeckt. Sein Ton war ihm unbekannt, als würde gar nicht er, sondern jemand anders sprechen. Wahrscheinlich jemand, den er nicht oft genug an die Oberfläche kommen ließ. Jemand, dem Effies Gegenwart guttat.
Effie drehte den Kopf in seine Richtung, fand seine Augen über ihre Schulter hinweg. Die Leere dort plötzlich fortgewischt von einer Milde, die in Haymitchs Brust schmerzte. Ihre dunkelroten Lippen hoben sich allmählich zu einem Lächeln, sanft und selten und wertvoller als jedes Geld, das man ihm hätte bieten können, wenn er nicht bereits genug davon gehabt hätte.
„Natürlich vertraue ich dir, Haymitch", erwiderte Effie, als wäre es das Normalste auf der Welt. Als wäre es nichts Ungewöhnliches, dass Kapitoler und Distriktler zusammen in Harmonie koexistieren konnten.
Und für einen Moment, für eine kurze Sekunde, versuchte Haymitch sich genau diese Welt vorzustellen, in der es keine Grenzen zwischen Kapitol und Distrikten gab. Eine Welt, in der jeder sein konnte, wer er wollte, wo er wollte, mit wem er wollte. Eine Welt, in der sich Kapitol und Distrikte nicht anfeindeten, ohne Grausamkeit und Brutalität. Eine Welt, in der Effie und er hätten sein können, wer sie wollten. In der sie nicht den Strich bei Sich Ausprobieren hätten ziehen müssen, nur weil darüber hinaus nichts existieren konnte. Oder durfte. So genau wusste Haymitch es tatsächlich gar nicht.
Die Sekunde verstrich und Haymitch blinzelte die Illusion fort. Die aufkeimende Sehnsucht ließ sich nicht so leicht verscheuchen. Sehnsucht nach seiner Familie, nach einem Leben ohne Einsamkeit, nach einem Leben, welches es Wert war, gelebt zu werden.
Haymitch starrte Effie an und lächelte leicht; ein Geist eines Lächelns, sein Kopf noch halb in einem alternativen Universum. „Ich habe an Distrikt Zwölf gedacht", beantwortete er ihre ursprüngliche Frage. „An den Sommer dort. Hinter der Stadt ist um diese Jahreszeit alles voller bunter Wildblumen. Ich glaube es würde dir gefallen." Ihr Farbenreichtum erinnert mich an dich. Oder dein Farbenreichtum erinnert mich an sie.
Effies Lächeln wurde weiter, wärmer. „Vielleicht habe ich ja irgendwann die Gelegenheit."
Sie beide wussten, dass es nie dazu kommen würde. Dass Effie bis auf den Hauptplatz und das Dorf der Sieger nichts von 12 sehen würde. Denn in dieser Welt würden sie nie ein Leben teilen können, würden immer an den Restriktionen von oben scheitern. In dieser Welt gab es für Haymitch und Effie kein Leben, in dem mehr als ein Sich Ausprobieren zur Debatte stand. Irgendwas anderes auch nur in Erwägung zu ziehen war somit nur reinste Zeitverschwendung.
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