36.2. High on Despair
Haymitch hatte keinen blassen Schimmer, wie viel Zeit vergangen war, seitdem er sich den letzten Drink eingeschüttet hatte. Er blinzelte gegen die Schwärze des Schlafes, gestört durch ein Geräusch in der Ferne, welches sein Hirn nicht einordnen konnte. Gefahr, rief sein Unterbewusstsein, obwohl er die Arena längst in seinen Träumen abgehängt hatte. Er schlug die Augen auf, ein einzelner Wimpernschlag, aber da war weiter nichts als Dunkelheit. Verwirrung breitete sich in seinen Gliedern aus. Sein Zimmer war das hier schon mal nicht. Denn dort war Licht. Immer. Auch in tiefster Nacht. Ob nun eine Lampe oder die zurückgezogenen Vorhänge, um die Lichter der Stadt hereinzulassen.
Haymitch bewegte seine Muskeln kaum merklich. Falls er sich doch in Gefahr befand, wollte er keine Reaktion seines Gegners triggern. Aber da war niemand außer ihm. Und er lag auch gar nicht, wie er zuerst angenommen hatte, sondern saß auf einem Sessel. Zumindest vermutete er, dass es ein Sessel war, weil etwas Weiches, Nachgiebiges gegen seine Finger streifte. Die Müdigkeit wurde weiter und weiter aus seinem Kopf zurückgedrängt. Nur um von einem Hämmern in seiner Schläfe abgelöst zu werden. Alkohol also. Nicht wenig Alkohol.
Eine Sekunde später ertönte erneut dieses Geräusch. Ein Poltern, welches nun näher war als das vorherige. Deutlich näher. Die Finger von Haymitchs rechter Hand glitten wie von selbst zu seiner Hosentasche – zu dem Jagdmesser, das er immer dabeihatte – und erstarrten, als ein Kichern zu ihm getragen wurde. Weiblich und amüsiert. Sein Körper entspannte sich etwas. Also doch keine Gefahr. Nur Effie.
Der Gedanke an Effie ließ die letzte Erschöpfung von Haymitch abfallen. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, während er den Geräuschen im Flur lauschte, die sich deutlich auf ihn zubewegten. Und dann erinnerte er sich plötzlich daran, wo er war, warum er hier hockte und was er getan hatte, um in diesen Zustand zu gelangen.
Ramon war tot. So wie all die anderen Tribute die vor ihm gekommen waren auch. Diese Erinnerung ließ seinen Magen zusammensacken; machte seinen Magen mit einem Mal so schwer, als könnte er ohne Probleme durch den Boden in die Tiefe gezogen werden. Es schnürte ihm die Luft ab; ließ seine Finger zittern; ließ die Dämonen näher an der Oberfläche seines Bewusstseins kratzen. Nach vierzehn Jahren wusste Haymitch zwar, wie er diese zurückhalten konnte und es gelang ihm für Gewöhnlich. Aber dieses Jahr war anders. Effie hatte alles verändert. Verbessert und verschlimmert. Aber der Schmerz war viel stärker, viel zerstörerischer als jede positive Emotion es jemals sein könnte.
Also hatte er sich betrunken, sobald Effie das Penthouse verlassen hatte. Glas um Glas, Shot um Shot, hatte er sich mit Chaff reingezogen, während der Avox an der privaten Bar von 12 ihnen Blicke zugeworfen hatte. Wo sonst Verstohlenheit lag, war heute Mitleid gewesen. Der Tod eines Tributs traf sie alle, egal ob Avox, Mentor oder Betreuer.
Effie war nun so nah am Wohnzimmer, dass man die trippelnden Schritte ihrer Highheels vernehmen konnte. Klappernd und quietschend glitten die Absätze über den Boden. Ihr Lachen wurde mit jedem Atemzug lauter. Sie war nicht allein. Jemand anders lachte mit ihr. Eindeutig männlich. Haymitch drückte sich tiefer in den Sessel und wartete.
Taumelnde Schritte, Gelächter, flackerndes Licht und plötzlich stand Effie im Türrahmen des Wohnzimmers. Seneca Crane hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, stützend, als bräuchte sie Hilfe. So wie sie aussah, brauchte sie diese tatsächlich. Effies wässrige Augen blinzelten, als sich die Lampen im Wohnzimmer automatisch aktivierten. Der Spielmacher neben ihr lächelte zurückhaltend und belustigt zugleich. Bis sie ihn entdeckten.
Haymitch wusste nicht, wessen Miene er interessanter fand. Cranes, die von privatem Amüsement mit einem Mal in eine kühlere, distanziertere Version überlief, als fühlte er sich ertappt. Oder Effies, die ihre Augen zufrieden aufriss, als wäre sie überglücklich, ihn zu sehen.
„Haymitch!", rief Effie energisch und winkte begrüßend, betrunken wie sie war.
„Hi, Süße", antwortete er schmunzelnd, ebenfalls vollkommen hinüber was Alkohol anging. Na wunderbar.
„In ihrem Zustand wollte ich sichergehen, dass es auf dem Weg ins Penthouse keine Komplikationen gibt", erklärte Seneca Crane, dem Haymitchs eigene Belustigung aufgefallen war, eine Spur zu sachlich.
„Ehre wem Ehre gebührt", erwiderte Haymitch und nickte dem Spielmacher zu, als würde er auf ihn anstoßen wollen. Crane verzog das Gesicht, offensichtlich abgeneigt, jetzt wo Effie ihm keine Beachtung schenkte und die Regung nicht sehen würde. In der Sponsorenlounge hatte er jede Höflichkeit Haymitch gegenüber gewahrt. Vielleicht dachte Crane aber auch einfach nur, dass der Sieger selbst zu betrunken war, um es mitzukriegen.
„Kommst du von hier allein zurecht, meine Liebe?" Sobald Haymitch nicht mehr im Zentrum seiner Aufmerksamkeit lag, verschwanden jegliche negative Emotionen von Seneca Cranes Gesicht. Haymitch gab sich Mühe, den Zorn in seinem Bauch zu unterdrücken, der sich wie ein Faustschlag in ihn hineindrückte. Ramon war tot und dieser Mann maßgeblich dafür verantwortlich.
Effies Kopf drehte sich in Cranes Richtung, sanft und mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen und eine rote Linse legte sich über Haymitchs Sicht. „Ganz wunderbar sogar, ich danke dir." Haymitch starrte auf seine Fäuste, auf die weißen Knöchel, die hervortraten.
Aus dem Augenwinkel sah Haymitch den Spielmacher nicken. Effie und er umarmten sich zum Abschied und er konnte die Genugtuung, dass Effie trotz ihres Alkoholpegels mit einem Mal eine förmlichere Ausgabe ihrer Selbst wurde, nicht zurückhalten. Aber dann drehte Crane sich zu ihm, seine dunklen Pupillen argwöhnisch. „Ich hoffe, dass Sie sich zu Benehmen wissen, Mr. Abernathy." Der Vorwurf war nicht zu überhören. Die Annahme über einen Distriktler, die nur von einem Kapitoler getroffen werden konnte.
„Ich würd' sie niemals anfassen", gab Haymitch mit jeder Deutlichkeit zurück und für einen Moment verzog Crane im Anbetracht der offenen Worte die Lippen. Den Kapitolern war es lieber, auch das Schlimmste hinter einer farbenfrohen Fassade zu verbergen.
Doch schließlich schlich sich etwas anderes auf die Züge von Seneca Crane. Etwas, was Haymitch hätte innehalten sollen. Wie so oft in dieser Saison wäre es Haymitch sicherlich aufgefallen, wenn er nicht bis obenhin mit Alkohol zugepumpt gewesen wäre. Der Spielmacher warf ihm einen langen Blick zu. Sein Mund formte sich zu einem Schmunzeln. Wissend. Kein einziges Wort ging ihm über die Lippen. Das brauchte es auch gar nicht. Dieses Lächeln sprach mehr als tausend Worte. Doch das würdest du.
Haymitch merkte nichts davon. Und so wünschte Seneca Crane ihnen beiden eine gute Nacht, machte elegant auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit des Flures. Seine von Zorn getrübten Erinnerungen sahen nicht weiter als Ramon und die anderen 26 Tribute, denen er bereits beim Sterben hatte zuschauen müssen – sahen weder den Blick noch Cranes Abmarsch.
All diese Gedanken rückten in den Hintergrund als Effie auf ihn zugesprungen kam. Die Welt um Haymitch drehte sich – er war sich sicher, dass ihre Welt sich nicht weniger drehte. Trotzdem schien sie keine Probleme zu haben, diese Wildheit mit ihren hohen Absätzen zu überleben. Es war ein Wunder. Zumindest seiner Meinung nach.
Haymitch kam gerade noch rechtzeitig auf die Beine, um Effie zu fassen zu kriegen, ehe sie auf ihn stürzte. Ihre Pupillen waren riesig, ihre Augen glasig, ihr Blick traurig. Die Freude hatte sie verlassen, so als hätte Seneca Crane sie mitgenommen. „Tschuldigung, Haymitch", kam es aus ihrem Mund, aber sie reihte die Silben des Satzes merkwürdig aneinander. Und obwohl Effie keinen Grund für ihre Entschuldigung nannte, kannte er ihn sofort. Crane. Ihre Abmachung. Effie schloss ihre Arme um seinen Nacken und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. „Mir gings so schlecht. Sooo schlecht. Und dann hab ich ihn ... auf der Party gesehen. Ich musste an all den Reichtum denken. Konnte mich nicht losreißen."
„Wovon konntest du dich nicht losreißen, Prinzessin?", fragte Haymitch leise und hoffte, dass seine Stimme ihre Anteilnahme erwiderte.
Effie zögerte. Es reichte, um ihn von der Bedeutung ihrer Worte wissen zu lassen. Effie zögerte nie. Kapitoler zögerten nie. Sie hatten nichts zu verbergen; nichts zu fürchten. „Vom Gedanken an einen Weg hier raus", flüsterte sie schließlich.
Haymitch senkte langsam das Kinn und schluckte. Schluckte die Worte herunter, die ihm sonst herausgeplatzt wären. Mitleid schwellte in ihm auf und doch wären seine Worte nichts als Pessimismus gewesen. Er blickte auf Effie hinab und hob bebend eine Hand, um ihr übers Haar zu streichen. Beruhigend, wie er hoffte. Er war nicht gut darin, Trost zu spenden.
Die pechschwarze Perücke ließ die gesamte Situation surreal wirken. So sollte es nicht sein. Sie sollte nicht die Betrunkene sein. Sie sollte nicht wegen eines toten Kindes weinen. Sie sollte an Elowen denken, nicht an das Ende. Sie war das strahlende Licht der Hoffnung, während er die reglose Finsternis des Verlusts war.
Effie erwachte aus ihrer Melancholie, bevor Haymitch etwas erwidern konnte. Sie löste sich von ihm, als hätten sie nicht gerade erst tiefgründige Floskeln ausgetauscht und wankte an ihm vorbei, in Richtung des Schlafbereichs. Die wenigen Schritte, die sie allein machte, waren genug, um Cranes Begleitung nachzuvollziehen. Sie würde auf die Schnauze fallen, bevor sie das Wohnzimmer verlassen hatte. Also folgte Haymitch ihr, die Hände ausgestreckt, um sie aufzufangen.
Der Weg zu ihrem Zimmer verlief schweigend. Effie war sich Haymitchs Präsenz bewusst, nutzte seinen Körper als Stütze, um dem Boden auszuweichen. Sagte aber nichts weiter, erwähnte weder den Spielmacher noch die Party oder sonst irgendetwas. Es schien, als wäre sie tief in ihren eigenen Gedanken.
Es kam Haymitch wie ein Deja-Vu vor, als sie zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden vor Effies Schlafzimmertür anhielten. Wieder Arm in Arm. Doch diesmal weinte sie nicht. Also räusperte er sich und wiederholte dieselben Worte. „Kommst du von hier allein klar?"
Effie gab keine Antwort. Alles was sie tat, war, sich in seinem Griff zu drehen, bis ihre Gesichter einander zugewandt waren. Kummer verdunkelte ihre Augen. Haymitch hob die Brauen, verwirrt. Und plötzlich küsste sie ihn. Stürmischer und brutaler als jeder ihrer bisherigen Küsse gewesen war.
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Haymitch ihre Lippen nicht einmal zuordnen, weil er nicht einen blanken Schimmer hatte, was gerade geschah. Aber das hier war Effies Geruch. Das hier war die Form ihres Mundes gegen seinen. Und auch wenn er nicht erklären konnte, was in sie gefahren war, gab er nach; gab sich ihr hin.
Der Flur verwandelte sich in eine Trübung aus Farben. Haymitch beugte sich Effie entgegen, aber sie war bereits da, drückte sich gegen ihn. Ihre Lippen kämpften mit seinen, hart und unnachgiebig. Ihre Zähne zerrten an seiner Haut, als würde sie ihn in Stücke reißen wollen. Er schaffte es kaum, den Kopf genug zurückzulehnen, um zu Atem zu kommen. Effies fordernde Augen waren auf ihn fixiert und Haymitch war wie gelähmt von der Wildheit in ihrem Blick. Von der Trauer, dem Schmerz.
Es brauchte diese Nacht, bis Haymitch schließlich kapierte. Das hier war das Kapitol. Das hier war die Art, wie die Kapitoler mit solchen Emotionen umgingen. Party, Drogen, Leidenschaft. Ablenkung. Keine andere Möglichkeit gab es, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Was ist die Alternative, Haymitch? Unter ständiger Beobachtung des Staates gab es keine. Für Effie wahrscheinlich noch weniger als für ihn. Er konnte am Ende der Saison in den Zug steigen, diesen Ort verlassen. Und selbst nach 12 nahm er seinen Alkohol mit. Sie jedoch musste weiter in diesem Höllenrad verweilen. Sie musste weiter gute Miene zum bösen Spiel machen.
Der nüchterne Teil von Haymitch wusste, dass Effie verloren war; dass sie nach einem Ventil suchte; dass sie einen Knacks abbekommen hatte. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis dieser Knacks sie entzweiriss.
Der nüchterne Haymitch wollte sie nicht zurückküssen. Effie war betrunken, völlig hin. Doch sie riss seinen Kopf zurück, ihre langen Nägel in sein Kinn gebohrt. „Es ist mir egal", sagte sie in endgültigem Ton, als könnte sie seine Gedanken lesen. „Es ist mir scheißegal."
Es reichte, damit der alkoholisierte Haymitch einknickte. Seine Hände fanden ihre Wangenknochen im Bruchteil einer Sekunde und dann drückte er Effie an die Wand neben der Tür. Ein Schnaufen entkam ihrer Kehle, aber ihr Mund hatte seinen gefunden, ehe er blinzeln konnte. Ein neuer Kampf brach aus, denn sie wollte die Oberhand über den Kuss nicht abgeben. Sie wollte die Kontrolle.
Effies Zähne bohrten sich in seine Unterlippe und Haymitch keuchte; unvorbereitet wie er war. Jetzt, wo er seine Instinkte steuern ließ, brauchte er nicht lang, um sich anzupassen. Seine Hände begannen zu wandern. Seine Finger krallten sich gegen ihre Haut, dort wo es ihr freizügiges Kleid erlaubte und diesmal war sie diejenige, der ein Stöhnen entkam. Er lächelte in sich hinein und strich stärker gegen ihre weiche Haut, zog und drückte an ihrem Körper. Bis Effie mit einem Ruck den Kopf zurückzog, ihre Pupillen noch weiter als eben noch. Ihre Augen huschten an ihm vorbei und einen Atemzug lang lag etwas Ernsthaftes in ihrem Blick, als würde sie selbst in diesem Zustand eine gewisse Anständigkeit wahren wollen. Zumindest Dritten gegenüber.
„Wir können nicht hier im Flur ... weitermachen", erklärte sie schließlich, ihre Stimme schwankend und heiser vor Alkohol und Leidenschaft.
„Na klar, das wär ja unglauuublich unangebracht." Haymitch warf ihr ein schiefes Grinsen zu und hatte sie im nächsten Moment in seinen Armen hochgehoben. Effies schreckhaftes Quieken verwandelte sich schnell in ein helles, sorgloses Kichern und nachdem er über die Türschwelle getreten und die Tür mit dem Fuß zugeworfen hatte, war ihr Gesicht plötzlich ganz nah vor seinem. Haymitch drückte ihr einen Kuss auf den Mund, ohne groß darüber nachzudenken. Einfach weil er konnte. Effie sah es als Einladung, dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten.
Die Zeit verlor sich vor Haymitchs Augen zu einem blitzenden Flackern aus Bildern und Emotionen. Eben noch hatten sie in Effies Raum gestanden, taumelnd und küssend, ihre Hände in seinem Haar, während er sie weiter in der Luft trug. Ein Wimpernschlag und dann lagen sie plötzlich auf Effies Bett, ihre nachtschwarze Perücke wie ein Vorhang um ihren Kopf ausgebreitet, während er sich mit einem Arm über ihr abstützte.
Der Alkohol pochte wie ein Hammer in seinen Schläfen, doch Haymitch war es gelungen, das Gefühl weit ab in den Hintergrund zu schieben. Es änderte nichts daran, dass sich die Welt um ihn drehte wie ein Karussell, wie eine wilde Fahrt, dessen Ausgang noch ungewiss war. Aber Effie war hier, Effie war im Mittelpunkt seiner Welt. Das Zimmer und selbst das Bett drehten sich, aber nicht Effie.
Effies Hände erforschten seinen Körper, fuhren über Haut, Haare und Narben, aber Haymitch war zu weit abgetreten, um sich für die Entblößung zu interessieren. Jede ihrer Berührungen sendete einen elektrischen Impuls durch seine Muskeln. Jede Faser seines Körpers wollte sich ihren Berührungen entgegenlehnen, wollte die Barriere seiner Haut überwinden und mit ihr verschmelzen. Und als Effie in einem lachenden Surren sein Hemd entzweiriss und die Hälfte seiner Knöpfe dabei kullernd vom Bett rollten, zögerte er nur eine Sekunde lang. Eine Sekunde, in der er ihre Augen suchte. Bist du sicher?
Die Frage musste sie ihm nicht stellen. In seinem Zustand würde er zu allem Ja sagen, was er kriegen konnte. Auch er hatte Triebe, die er ab einem gewissen Stadium nicht ignorieren konnte. Auch wenn eine leise Stimme, die unter dem Pochen seines Kopfes kaum zu hören war, murmelte, dass er auch ohne all den Alkohol Ja gesagt hätte, wenn sie es gewesen wäre.
Haymitch ignorierte die Stimme. So wie immer. Stattdessen wartete er auf Effies Reaktion. Ihre vernebelten Augen klarten auf, nur ein kleines Stück, und ein sanfterer Ausdruck schob sich in ihre Pupillen. Etwas, was Haymitch in nüchternem Zustand ebenfalls ignoriert hätte. Ihre Nägel glitten über seine Brust, Zentimeter um Zentimeter nach unten und sein Atem geriet ins Stocken. Ein selbstzufriedenes, drängendes Lächeln breitete sich auf Effies rosa Lippen aus und als Haymitch sich ihnen entgegenbeugte, ihre Körper miteinander verband, wusste er, dass es hier und jetzt kein Zurück gab.
Im Nachhinein war der Akt selbst ein einziger Sturm in seinem Kopf. Stunden später, auf dem Bett ausgebreitet wie ein totes Gewicht, wusste Haymitch zwar, dass er geschehen war, aber die Erinnerungen schienen hinter einer Wand aus Milchglas zu liegen. Er konnte hindurchsehen, konnte Umrisse und Farben erkennen, aber keine Einzelheiten. Es war seltsam frustrierend und das erste Mal seit einer Weile bereute er die Unmengen an Alkohol, die er vorher zu sich genommen hatte. Auch wenn es ohne den Alkohol nie dazu gekommen wäre. Während Haymitch gegen die tiefe, undurchdringbare Dunkelheit in Effies Zimmer blinzelte, wusste er nicht, ob es gut oder schlecht war, dass sein Gedächtnis einen Aussetzer hatte. Vielleicht würden die Erinnerungen später zurückkehren, so wie am Morgen nach seinem Besäufnis in der Sponsorenlounge.
Haymitch drehte sich zur Seite, unfähig seine Orientierung zurückzuerlangen, obwohl Effies Bett identisch zu seinem war. Alles schien fernab seines Platzes. Hinter seinem Rücken hörte er Effie murmeln, zu leise, um die Worte auszumachen, sodass er nicht wusste, ob sie tatsächlich wach war. Seine Augen öffneten sich und die Finsternis ließ Unbehagen durch seine Adern strömen. Er war nicht daran gewöhnt, die eigenen Finger nicht vor den Augen sehen zu können. Dort wo er war, war immer Licht.
Haymitch bewegte sich erneut, streckte den Arm aus, um den Rand der Matratze zu fassen zu kriegen. Diese Betten im Kapitol waren immer so verdammt groß. Mit den Fingern in die Kante zwischen Bettrahmen und Matratze gekrallt, zog er sich dem Rand entgegen. Parallel bohrte sich ein so heftiger Schmerz durch seinen Kopf, dass er die Brauen zusammenziehen musste, um den Mund halten zu können. Verdammt, wie viel hatte er getrunken? Es fühlte sich an als würde ihm jemand einen Nagel in den Kopf hämmern.
Irgendwo hinter ihm, von seiner Bewegung animiert, begann Effie erneut zu flüstern. Ihre Stimme war weiterhin zu leise, zu sehr von den Klauen des Schlafes eingelullt. Also ignorierte Haymitch sie. Stattdessen presste er sich zwei Finger an die Schläfen, auch wenn das wenig dazu beitrug, dass das Pochen verschwand. Erst jetzt bemerkte er die Decke, die über seinem Körper ruhte. In einem angestrengten Zug schob er sie fort. Nur um festzustellen, dass er darunter splitterfasernackt war.
„Verdammte Scheiße", kam es ihm dann doch über die Lippen. Haymitch sackte kraftlos in sich zusammen und ließ die kühle Luft vom geöffneten Fenster an seine Haut dringen. Verdammte Scheiße auf so vielen Ebenen.
„Bereust du es?", hörte er Effie fragen, diesmal laut genug. Klar genug, um zu wissen, dass sie der Nüchternheit wieder ziemlich nah war. Wie viel Zeit war vergangen?
Das Einzige, was Haymitch gerade bereute war, dass er den Mund geöffnet hatte. Für Gewöhnlich war Sex keine schwierige Angelegenheit. Für Gewöhnlich war die Frau, mit der man das Bett teilte, aber auch nicht seine Arbeitskollegin. Auch wenn das aufgrund des Arrangements, welches sie beide geschlossen hatten, eigentlich kein Problem darstellte.
Haymitch wusste, dass er seine Antwort mit Bedacht wählen musste. Alles andere würde Effie – die empfindliche, nüchterne Effie – in die Flucht treiben. Also zwang er sich zurück auf den Rücken, auch wenn er eigentlich nichts lieber tun wollte, als zum Lichtschalter zu rennen. Die Schwärze machte ihm zwar keine Angst – nicht mehr – aber erinnerte sie ihn nichtsdestotrotz an seine Albträume.
„Ich nicht", sagte Haymitch, seine Stimme rauer als erwartet. Er räusperte sich. „Tust du es?"
Er spürte, wie Effie den Kopf irgendwo auf seiner Rechten schüttelte und schließlich näher an ihn herankroch. Bis er ihre Körperwärme spüren konnte. Er musste gestehen, dass es dabei half, die Dunkelheit als Dunkelheit zu sehen. Seine Flashbacks waren keine Orte der Wärme, auch wenn er sich meistens schweißgebadet aus ihnen herauskämpfte. Aber es reichte nicht, um ihn im Bett zu halten. Als Effie nichts sagte, schwenkte er die Beine zur Seite und erhob sich.
Das Gefühl seiner Zehen auf dem kalten Boden war wie Medizin für Haymitchs Seele. Es lockerte den Knoten in seinem Hals. Wankend kam er auf die Füße und tappte durch die Schwärze, auf der Suche nach seinen Klamotten. Und obwohl seinem Bewusstsein klar war, dass er in Sicherheit war, dass Effie hinter ihm im Bett lag, raste sein Puls. Er taumelte durch die Dunkelheit, eine Hand schützend ausgestreckt. Das hier war das wahre Siegerdasein.
Erst als Haymitch sein Messer, das er vorhin sicherheitshalber weggeworfen hatte, zu fassen bekam, beruhigte sich sein Körper. Er hatte sich schon halb angezogen, als er sich entschied, das Licht auszulassen und einfach schnell aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen. Effies Atem nach zu urteilen, schlief sie bereits wieder. Und das Licht hätte nur dazu geführt, dass er sich dem hätte stellen müssen, was sie die letzten Stunden hier getrieben hatten. Obwohl Haymitch keine Sekunde davon bereute, wollte er es nicht sehen. Es war nichts von Bedeutung. Nur Sex.
Haymitchs Finger berührten die Tür bereits, als hinter ihm die Bettdecke knisternd zur Seite geschoben wurde. „Geh nicht", hörte er Effie sagen. Anders als eben. In einem Ton, der ihm die Nackenhaare aufstellte und das Messer enger halten ließ. „Bitte lass mich nicht allein."
Dann erst erinnerte Haymitch sich an Ramon. Und erstarrte in seiner Bewegung. Und schämte sich, dass die Tatsache seinem Verstand überhaupt entkommen war. Effies Stimme war flehend. Bettelnd.
Sie war die halbe Nacht fortgewesen, hatte sich betrunken, um zu vergessen. Jetzt erinnerte Haymitch sich plötzlich wieder an den wilden, fordernden Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, nachdem Crane verschwunden war. Effie hatte so lange wie möglich versucht, die Bilder von Ramon von sich zu schieben. Jetzt, wo sie wieder damit konfrontiert wurde, würde sie es über sich ergehen lassen müssen. Er hatte sich im Laufe dieser Saison so oft gefragt, wann sie brechen würde. Haymitch wollte nicht, dass sie brach. Vor allem nicht in seiner Abwesenheit. Obwohl sie Kapitol war, wünschte er ihr keines dieser Gefühle. Ein Schmerz, der schlimmer war als jeder Messerstich, jeder Bluterguss, jeder Knochenbruch.
Also drehte Haymitch sich auf den Fußballen um die eigene Achse, seine Finger nach dem Lichtschalter ausgestreckt. „Ich bleibe." Seine letzten Worte für die Dunkelheit. Dann flutete Licht das Zimmer, so grell, dass er erst gar nichts sah. „Aber zu meinen Bedingungen."
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Ich liebe diese Szene.
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