35.1. Guilt

Guilt

Selbst am nächsten Morgen konnte Effie den Schreck des vergangenen Tages nicht völlig von ihr abschütteln. Nachdem die Handgreiflichkeit zwischen Haymitch und Alucard Sparrow trotz des vielen Bluts unbemerkt geblieben war, hatte sie gehofft, einfach mit dem Abend fortfahren zu können, als wäre nichts passiert. Doch auch nicht Haymitch, der sie mit seinem seltsamen Humor zu trösten versucht hatte, hatte wirklich zu ihr durchdringen können. Seine Witze waren eher schräg gewesen und Effie war ziemlich schnell aufgefallen, dass er keinerlei Erfahrung damit hatte, jemandem Trost zu spenden.

Und selbst jetzt, wo das Sonnenlicht ihre Haut wie eine warme Berührung liebkoste, konnte Effie sich nicht völlig von dem Bild vor ihrem inneren Auge loslösen, welches sie bereits vom Schlafen abgehalten hatte. Nie in ihrem Leben hatte sie sich in einer solchen Situation befunden – einem Mann hilflos ausgeliefert. Natürlich kannte sie die Geschichten, aber hatte sie allesamt als Übertreibungen oder Rufmord abgetan. Jetzt fragte sie sich, wie viele von ihnen tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Und dennoch würde Effie sich wieder in diese Lage bringen. Wenn Haymitchs Drohung nicht über ihr hängen würde.

Haymitch. Effie wusste, dass er trotz seiner schlechten Aufmunterungsversuche immer noch sauer auf sie war. Weil sie Alucard Sparrow freiwillig in dieses Labyrinth gefolgt war, obwohl sie genau gewusst hatte, was sie erwarten könnte. Effie war davon ausgegangen, dass sie besser dazu fähig sein würde, ihre Emotionen von sich zu schieben. Sie hatte nicht geglaubt, dass Alucard so weit gehen würde. Sie hatte nicht geglaubt, dass ihr Kopf ein solches Drama daraus machen würde, falls doch.

Und nun stand Effie also inmitten der Sponsorenlounge, ein aufgepeppter Orangensaft in ihrem Kristallglas, um nach außen die übliche selbstbewusste Ruhe auszustrahlen. Haymitch hatte ihr einen schiefen Blick zugeworfen, als sie ihn nach seinem Flachmann gefragt hatte, nur um sich dann doppelt so viel Vodka in seinen eigenen Saft zu schütten.

Der sechste Morgen der Hungerspiele startete noch öder als der davor. Die Menschen, die an den Wettbörsen ihre Scheine einreichten, hatten sich seit gestern halbiert. Auch insgesamt waren zu der Uhrzeit für gewöhnlich mehr Sponsoren vor Ort. Effie hatte bereits seit ihrer Ankunft die Augen nach Seneca offengehalten. Doch er war nicht hier. Sie konnte sich zusammenreimen, was das bedeutete. Die Spielmacher waren sicher bereits am Tüfteln, wie sie das Ruder in die richtige Richtung lenken konnten, bevor Präsident Snow sich ihnen annahm. Man flüsterte, dass ein persönlicher Besuch des Präsidenten bei den Spielmachern vorkommen konnte, wenn die Dinge nicht nach Plan liefen. Und das hier war bereits der zweite Tag, der belanglos begann.

Bisher hatte sich in der Arena kaum etwas getan. Die Karrieros waren zwar zum Morgengrauen für die Jagd aufgebrochen, hatten bisher jedoch keine Fährte aufgespürt. Mit einem Haufen nunmehr unmotivierter Verbündeter im Schlepptau wanderte Cashmere eher ziellos umher als tatsächlich auf Beute aus zu sein. Es schien fast, als würde sie ihnen eine Pause gönnen. Vielleicht plante sie aber auch nur, wie sie sie einen nach dem anderen umbringen würde.

Effie und Haymitch standen etwas abseits der rauschenden Menschenmenge, mit dem Rücken an das Geländer der Terrasse – mit der stärkenden Sonne im Rücken. Sie nippten schweigend an ihren Gläsern und beobachteten beinahe passiv das Treiben auf der lichtüberfluteten Lounge als einige Avoxe das Frühstücksbuffet aufstellten. Keiner von ihnen machte Anstalten, sich unter die drängelnden Menschen zu mischen.

Haymitch verzog bei dem Schauspiel abschätzend die Augen. Eine Kritik, die berechtigt war. Die Leute hechteten auf das Essen zu, als verhungerten sie, wenn sie ihre Ellbogen nicht in die Mitmenschen rammten, die ebenfalls zum Buffet wollten. Als spielte es eine Rolle, wer die goldenen Macarons oder die mit Kaviar überzogenen Baguettes zuerst erreichte. Als wüssten sie nicht, dass ohnehin für Nachschub für mindestens doppelt so viele Gäste gesorgt war. Effie konnte ihm die Gedanken förmlich in den Augen ablesen.

Es geschah von jetzt auf gleich. Ohne großes, pompösen Trara – nur mit der Kanone als auschlaggebenden Indikator. Es war wie eine unsichtbare Kraft, die alle Köpfe auf der Terrasse zum Drehen brachte. Plötzlich starrten alle auf die großen Bildschirme. Gemurmel stieg auf. Realisation sickerte zum Publikum durch. Die Stimmen verloren wieder gelangweilt an Stärke, als klar wurde, wer da gestorben war. Köpfe wandten sich wieder ab, fokussierten zurück auf die vielen vielen Speisen. Gleichgültigkeit durchströmte die Menge.

Der Junge aus Distrikt 8, der zwei Tage zuvor von einem Krokodil gebissen worden war, war seinen Verletzungen erlitten. Die Infektion hatte ihn schließlich in die Knie gezwungen.

Effie spürte, wie Haymitch sich ihr zuwandte. Langsam, als zögerte er. Ihre Blicke trafen sich und ein Teil von ihr, der mit den Gedanken immer noch nicht ganz in der Lounge angekommen war, schaltete mit einem Mal hoch. Der Ausdruck auf Haymitchs Gesicht, als wäre er gerade aus einem verwirrenden Traum aufgewacht, erregte Effies Aufmerksamkeit. Sie kämpfte sich durch den Vorhang der Trance hindurch, den der Alkohol über sie geworfen hatte und analysierte. Analysierte Haymitchs Gesicht, welches ungläubig und sprachlos wirkte. Dann zählte sie im Kopf nach und öffnete den Mund, als die Realität auch sie einholte.

Es war so ein banaler Moment. Effie hatte erwartet, dass er aufregender und feierlicher sein würde. Es war nur ein weiterer Tod, der sich in die vielen anderen einreihte. Auf der Messlatte nicht einmal ein nennenswerter Tod. Und dennoch. Und dennoch hatte dieser Tod in diesem beiläufigen Moment das Blatt für Distrikt 12 möglicherweise nachhaltig gewendet.

Noch bevor Effie die Worte laut aussprechen konnte, hallte die Stimme von Caesar Flickerman durch die Lautsprecher der Lounge.

„Meine Damen, meine Herren! Nach sechs Tagen der Hungerspiele ist es endlich soweit! Die finale Phase wurde soeben eingeläutet! Wir sind in den Top Ten angekommen, liebe Leute! Ist das nicht aufregend?! Nur noch zehn Tribute kämpfen darum, diese Arena zu verlassen! Was für ein Nervenkitzel!" Während auf den Bildschirmen die übriggebliebenen Tribute einer nach dem anderen präsentiert wurden, konnte Effie ihre Augen nicht von Haymitchs lösen.

Top 10. Top 10! Und beide Tribute von Distrikt 12 waren noch im Rennen. Das letzte Mal als das vorgekommen war ... Effie spürte, wie Haymitch nach ihrer Hand griff. Seine warme Haut umgaben ihre Finger mit solcher Intensität, als würde er nie wieder loslassen wollen. Das letzte Mal als überhaupt ein Tribut aus Distrikt 12 in den Top 10 gewesen war, war in seinem Jahr gewesen. Die 50. Hungerspiele. Vor vierzehn Jahren.

„Du hast es geschafft", murmelte Haymitch verblüfft. Eine Sekunde wirkte er misstrauisch, als wäre er sich nicht sicher, ob das hier ein großer Streich war. Doch dann hoben sich seine Mundwinkel allmählich an. Effie konnte nicht anders als zurückzulächeln.

Wir haben es geschafft." Der Blick, den Haymitch Effie zuwarf war anders. Neu. Als würde er sie tatsächlich gerade das erste Mal sehen. Als wäre ihr Gesicht bis zu diesem Moment immerzu im Schatten versteckt gewesen.

Ein seltsames Gefühl der Euphorie schlich sich durch Effies Adern; verdrängte die Trägheit des vergangenen Tages. Eben noch spürte sie Haymitchs Hand um ihre eigene, dann strahlten sie sich an und sie fiel ihm um den Hals. Jetzt, wo Caesars Worte vollständig in ihr Gehirn durchgesickert waren, konnte sie sich nicht länger kontrollieren.

„Wir sind in den Top Ten, Haymitch!", quiekte Effie und sprang auf und ab vor Freude.

Haymitch gab ein kehliges Lachen von sich und löste sich gerade genug von ihr, um Effies Perücke zu entgehen, die auf und ab wippte. Wie ein Kind, das sich nicht zurückhalten konnte, klatschte sie in die Hände und strahlte von einem Ohr zum anderen. Haymitch ahmte ihr Lächeln nach, auch wenn seine Freude weiterhin gehemmt war. Dass er überhaupt lächelte, war Triumph genug für Effie. Sie zog ihn in eine weitere stürmische Umarmung und sein warmer Atem ließ die Hitze in ihrem eigenen Körper nur höher steigen.

Doch viel mehr Zeit zum Feiern blieb ihnen nicht. Sie waren Eskorte und Mentor und sie hatten eine Aufgabe, die nun viel wichtiger war als noch vor wenigen Minuten zuvor. In den Top 10 zu sein, veränderte alles. Und vor allem Distrikt 12 – der aufsteigende Außenseiter – würde das für sich nutzen können. Auch Haymitch schien das klarzuwerden, denn er meckerte nicht, als Effie ihn kurz darauf zurück in die untere Etage der Lounge drängte. In den Mentorenbereich.

Effie hatte ihr Notepad bereits in der Hand und Haymitch warf ihr einen schiefen Blick zu, weil es wie aus dem Nichts in ihren Händen aufgetaucht war. Sie lächelte in sich hinein, kein Interesse daran, ihn zu erleuchten. Stattdessen setzte sie sich auf eines der Sofas und schlug die Beine übereinander. „Abgesehen von Elowen und Ramon sind acht Tribute übrig", stellte sie fest. „Wer ist unsere Konkurrenz? Mit wem haben wir es zu tun?" Haymitch zuckte mit den Schultern. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, aber das wunderte Effie nicht wirklich. Es war für ihn schwer genug gewesen, sich die Namen seiner eigenen Tribute zu merken. Also tippte sie einen Befehl in ihr Notepad und starrte auf die zehn Gesichter, die auf dem Display aufleuchteten. „Distrikt Eins ist mit Cashmere und Magnus vollständig. Distrikt Vier ebenfalls. Aus Drei lebt noch der Junge, aus Vier das Mädchen. Dann noch ..."

Effies Stimme stockte und Haymitch lehnte sich in ihre Richtung, um auf das Notepad schauen zu können. „Was ist los?"

„Es ist so surreal", murmelte sie schließlich und ließ das Tablet in ihren Schoß sinken. „Ich habe daran geglaubt, dass wir es so weit bringen würden. Aber jetzt, wo wir es geschafft haben und nur noch so wenige Kinder leben, kann ich es trotzdem nicht ganz glauben."

„Wer fehlt denn noch?", fragte Haymitch.

„Das Mädchen aus Sechs und der Junge aus Sieben. Das waren alle. Dann bleiben nur noch Elowen und Ramon."

Haymitch schwieg, als würde ihm nun auch zum ersten Mal wirklich klarwerden, wie weit Distrikt 12 gekommen war. Effie konnte sehen, wie er die aufkeimende Hoffnung aus seinen silbernen Augen verbannte, noch ehe sie sich durchringen konnte. Sie seufzte und drückte seine Hand. „Unsere Chancen sind außergewöhnlich, Haymitch. Sie waren nicht mehr so gut seit ..."

„Seit meinem Sieg", beendete Haymitch ihren Satz mit einer Düsternis, die ihre Nackenhaare aufrichtete. Wo eben noch Freude gewesen war, war nun Unbehagen. So wie eigentlich immer, wenn es um die Hungerspiele ging. Wie hatte sie erwarten können, dass eine Zahl seine Einstellung auf magische Art und Weise ändern würde? Das eben war nichts als eine kurzsichtige Emotion gewesen, die sich an seinen Mauern hatte vorbeischleichen können.

„Wenn wir eine Chance haben, dann jetzt, Haymitch", presste Effie energisch hervor. Sie musste ihn im Hier und Jetzt behalten. Mittlerweile kannte sie den Schleier, der sich vor seine Augen schob, wenn er kurz davor war, sich aus der Realität zu verabschieden. Sie drückte ihre Nägel in seine Handfläche und er zuckte und versuchte halbherzig, seine Hand aus ihrem Griff zu befreien. Sein Kopf drehte sich, ihre Augen trafen sich. „Elowen und Ramon zählen auf uns. Sieh, wie weit Elowen und Ramon gekommen sind, obwohl alle Chancen gegen sie standen. Jetzt haben sie eine Chance."

Haymitch nickte langsam, als würde er sich aus den Fängen seiner Trance freikämpfen. Er befreite seine Finger aus ihren und griff nach dem Flachmann in der Innenseite seiner Jacke. Seine Miene wirkte beinahe resigniert, nachdem er einige Schlucke getrunken hatte. Als würde selbst der Alkohol ihm keine Erlösung bieten. „Das heißt dann für uns wohl noch mehr Ärscheküssen bei den Sponsoren als sowieso schon."

„Achte auf deine Ausdrucksweise." Effie verdrehte die Augen, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Die Sponsoren kommen später. Zuerst müssen wir mit der Presse reden. Wir müssen ins Gedächtnis der Leute gelangen. Caesar wird bei der Situation von Distrikt Zwölf sicher ein Interview mit uns führen wollen. Eigentlich müssten wir jetzt sogar schon im Hovercraft zurück nach Zwölf sitzen, um die Interviews mit den Familien zu führen."

Haymitch hob überrascht die Brauen, als hätte er diesen Teil der Spiele vollkommen vergessen. Wahrscheinlich, weil er nie selbst in dieser Situation gewesen war. „Aber?", fragte er gedehnt.

„Das Management hat sich entschieden, die Interviews in diesem Jahr auszulagern", erklärte Effie und erhob sich bereits wieder vom Sofa. „Die Reise in die Distrikte kostet Geld, aber vor allem Zeit. Es ist in den vergangenen Jahren öfter vorgekommen, dass in der Arena etwas passiert ist, während die Mentoren unterwegs waren und so nicht rechtzeitig handeln konnten. Das soll damit vermieden werden. Ob wir oder jemand anders in Zwölf ist, spielt eigentlich sowieso keine große Rolle."

Haymitch nickte schleppend, wirkte aber sichtlich unerfreut. „Na das wird sicher ein Spaß für die Kameraleute aus dem Kapitol auch nur ein Wort aus Ramons Eltern rauszukriegen."

„Die Tribute profitieren von den Interviews. Es ist im Interesse der Familien, dass sie daran teilnehmen", entgegnete Effie ernst.

„Das spielt in Zwölf aber keine Rolle."

„Das sollte es aber, wenn–"

„Hör mal, ich hab gerade echt nicht den Nerv auf diese Diskussion", unterbrach Haymitch sie mit einer Schärfe im Ton, die Effie innehalten ließ. „Akzeptier doch einfach, dass die Dinge in Zwölf anders laufen als in deinem wunderschönen Kapitol. Du wirst die Leute nicht ändern können und ich schon gar nicht."

„Vielleicht hättest du doch fliegen sollen", flüsterte Effie nachdenklich und ohne ihn anzuschauen. Sie mochte es nicht, wenn er sie so von oben herab behandelte. Als wenn er etwas wüsste, das ihr vorenthalten war. Auch wenn er seine Leute mit Sicherheit besser einschätzen konnte. Sie hatte Ramon kennengelernt. Wenn seine Familie in Distrikt 12 auch nur halb so stur war wie er, würde das kein gutes Interview abgeben. Sie brauchten die Interviews, um die Tribute interessanter wirken zu lassen. Sie brauchten die Interviews, um Elowen und Ramon am Leben zu halten. „Jemand muss ihnen erklären, wie wichtig diese Interviews sind."

„Oh, glaub mir, Süße, dass die Caravans niemanden in diesem gottverdammten Land mehr hassen als mich. Ich habe schon einen ihrer Söhne auf dem Gewissen, erinnerst du dich?" Haymitch sagte es mit solcher Leichtigkeit, mit solcher Bitterkeit, als hätte er seine Worte schon vor langer Zeit als Wahrheit akzeptiert.

Effie kam blitzartig zum Stehen und reckte Haymitch ihr Kinn entgegen. „Du bist nicht schuld, dass Ramons Bruder bei der Ernte gezogen wurde, Haymitch", stellte sie mit jedem Funken an Ernsthaftigkeit fest, den sie heraufbeschwören konnte. „Du bist der Mentor. Du kannst nicht mehr tun, als die Tribute von außen zu unterstützen. Zu zweit war es schon schwer genug, überhaupt Sponsoren für Elowen und Ramon zu finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Petunia die letzten Jahre viel geleistet hat."

„Ich habe auch nichts geleistet", gab Haymitch schroff zurück.

„Als Mentor ist die Sponsorensuche auch nicht deine Pflicht. Vertraglich ist das die Aufgabe der Betreuer, auch wenn viele Mentoren dennoch unterstützen" Effie verstand nicht, wie er sich für etwas verantwortlich machen konnte, auf das er keinen Einfluss hatte. „Die Tribute beeinflussen den Ausgang der Spiele zum Großteil selbst. Ramons Bruder war nicht gut genug, sonst hätte eure Unterstützung seine Chancen vergrößert. So wie unsere Ramons nun vergrößert."

„Ah, da ist ja wieder die Ansprache über deine geliebte Chancengleichheit", blaffte Haymitch laut genug, sodass einige Leute in der Nähe ihnen Blicke zuwarfen. „Muss ich dich an unser kleines Gespräch über Laetitia erinnern oder soll ich dich nächstes Mal einfach direkt mitnehmen, damit du es mit eigenen Augen sehen kannst?"

Effie zuckte zurück und versuchte krampfhaft, ihre Gesichtszüge neutral zu halten. Es fühlte sich trotzdem an wie ein Schlag ins Gesicht. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten, diese Wahrheit – diesen Teil des Kapitols – zu akzeptieren. Es machte keinen Sinn. Es ging gegen alles, wofür das Kapitol stand. Zumindest das Kapitol, welches sie kannte. Ein zitternder Atemzug entkam ihren Lippen und sie senkte das Kinn. „Ich habe gesagt zum Großteil. Wir haben alles dafür getan, dass unsere Tribute eine Chance haben. Dass sie keine Nachteile haben."

Das Silber in Haymitchs Augen verlor etwas an Härte. Die Mundwinkel, die bisher vehement nach unten gezogen waren, schoben sich kaum sichtbar nach oben. Er musste den Schmerz über ihr Gesicht huschen gesehen haben. „Ich habe letztes Jahr so viel gesoffen, dass ich mich kaum an die Spiele erinnern kann. Oder an Ramons Bruder. Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, wenn ich mich mehr gekümmert hätte." Haymitch zuckte die Achseln und plötzlich war er es, dem ein Anflug von Qual übers Gesicht huschte. „Aber es scheint mit jedem Jahr noch etwas schwieriger zu werden, nicht daran kaputtzugehen." Er hielt inne und seine angetrunkene Stimme schwankte, als würde er die nächsten Sätze eigentlich zurückhalten wollen. „An manchen Tagen kann ich nicht mal in den Spiegel schauen, weil ich nur ein Monster sehen würde. Also versuch nicht, mich von der Schuld zu befreien, nur damit ich dir heute nicht zur Last falle."

Effie schwieg für den Bruchteil einer Sekunde. Sie atmete tief ein, um seine Worte an ihr abprallen zu lassen. „In Ordnung", sagte sie schließlich und fixierte seine grauen Augen mit solcher Intensität, dass sie Haymitchs plötzliche Anspannung spüren konnte als würden sie sich berühren. „Du bist schuld. Du hast dem Jungen nicht geholfen."

Haymitch öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ihm fehlte die Sprache. Verwunderung flog über seine Züge. Sie hatte ihn aus der Bahn geworfen. „Ich bin schuld." Effie war sich nicht sicher, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. So wie Haymitch sie anschaute, schien er sich auch nicht sicher zu sein.

„Du bist schuld, dass du dem Jungen die Zeit in der Arena nicht erträglicher gemacht hast. Aber seinen Tod hast du nicht zu verantworten." Und als Haymitch zu einer hastigen, verärgerten Erwiderung ansetzen wollte, fuhr Effie fort. „Wenn es keine Mentoren geben würde, wäre er dann trotzdem gestorben?"

Wieder hatte Haymitch keine Antwort. Er wollte es nicht wahrhaben, das sah sie. Als würde er die Schuld aufgebürdet bekommen wollen. „Ohne die Mentoren würden die Tribute trotzdem in die Arena gehen. Wir Betreuer würden ihre Namen trotzdem bei der Ernte ziehen. Aber ohne euch Mentoren wären die Tribute hilflos." Eine Welle der Übelkeit durchfuhr Effie noch während sie den Satz aussprach. Sie hatte die Lippen bereist wieder geöffnet, um weiterzureden, als sie begriff, was sie da gerade gesagt hatte. Als sie die Tragweite der Wahrheit in ihren Worten begriff. „Ihr seid nicht schuld", flüsterte sie dann und konnte Haymitch dabei nicht anschauen. Wir Betreuer würden ihre Namen trotzdem bei der Ernte ziehen.Wir sind es."

Für einen Moment hatte Effie das überwältigende Gefühl, vornüber zu fallen. Sie spürte ihre Beine nicht mehr unter sich. Ihr Verstand ratterte, im Versuch, die Aussage umzudrehen; die Aussage richtigzustellen. An manchen Tagen kann ich nicht mal in den Spiegel schauen, weil ich nur ein Monster sehen würde. Monster? Wenn nun die Betreuer die Monster waren, dann war sie auch eines. Aber ...

Haymitch starrte sie an. Von Wut und Verblüffung nichts mehr auf seinem Gesicht zu sehen. Für einen kurzen Augenblick glaubte Effie, Verständnis in seinen Pupillen blitzen zu sehen. Als hätte er ihre Rolle in den Hungerspielen bereits akzeptiert und was es aus ihr machte. Als wäre sie in seinen Augen bereits ein Monster. Haymitch sagte nichts. Er versuchte nicht, ihr den Gedanken ihrer Schuld auszureden. In seinen Augen war sie schuldig, das sah sie ganz deutlich. Ob nun so schuldig wie er sich selbst für schuldig befand oder mehr war egal. Schuldig war schuldig.

Effie hatte in den letzten Tagen oft genug Schuld verspürt. Weil Haymitch vom ersten Tag im Kapitol gelitten und sie keine Ahnung hatte, wie sie ihm helfen konnte. Weil Haymitch ihretwegen zu Laetitia Lowell gegangen war, um den Tributen eine Chance zu geben. Weil es ihr trotzdem nicht gelang, die Sponsoren zu finden, die sie verdienten. Effie wusste, dass etwas schieflief. Nicht nur heute oder in dieser Saison. Generell. Effie konnte es in ihren Knochen spüren. Doch für keine einzige Sekunde hatte sie daran gedacht, Schuld zu sein, falls keines der Tribute es lebend aus der Arena zurückschaffte. Ja, Haymitch hatte sie oft genug daran erinnert, dass sie im Gegensatz zu ihm freiwillig hier war, aber anders als er hatte sie das bisher nicht für etwas Schlechtes gehalten.

Elowens Schicksal nahm sie mit, sie fühlte mit dem Mädchen und fürchtete sich vor dem, was passieren würde, falls das Undenkbare eintreten sollte. Doch keine Sekunde lang hatte sie daran gedacht, dass sie daran schuld sein könnte. Schuld an Elowens Tod, falls sie in der Arena sterben sollte. Schuld, weil Effie ihren Namen gezogen hatte.

Wenn es keine Mentoren geben würde, wäre er dann trotzdem gestorben? Wenn es keine Betreuer geben würde, würden die Tribute dann trotzdem sterben?

„Geht es dir jetzt besser?", fragte Effie und riss sich von der dunklen Vorahnung in ihrer Brust los, die versuchte, an die Oberfläche ihres Bewusstseins zu drängen. Sie schob die Fragen und Gedanken von sich. Es hatte keinen Sinn, sich damit zu beschäftigen. Die Dinge waren wie sie waren. Und dennoch. Effie schaffte es nicht, ihre heitere Stimme aufrechtzuerhalten.

Effie würde nie herausfinden, ob ihre Ansprache Haymitch geholfen hatte. Denn noch ehe Haymitch eine Reaktion zeigen konnte, brach irgendwo in der Menge plötzlich Tumult aus. Ein aufgeregter Ruf, der von den großen Bildschirmen herrührte. Die Menschen reagierten wie eine Einheit, als wären sie alle Teil eines einzigen großen Organismus. Eben noch hatte eine erdrückende Trägheit über den Gästen der Lounge gehangen. Doch die schien von jetzt auf gleich wie weggeblasen. Effie und Haymitch drehten fast schon synchron die Köpfe zum Bildschirm, der ihnen am nächsten war. Und den sie bis jetzt ignoriert hatten, um über die kommenden Schritte zu sprechen.

Ein Fehler.

Cashmeres goldenes Gesicht strahlte auf dem Fernseher, ihre Augen auf einen Punkt abseits der Kamera fixiert. Fixiert auf jemanden. Die Kamera wechselte das Bild und eröffnete Blick auf einen matschigen Sumpf. Schummrig und düster, aber das knöcheltiefe Wasser hatte es den Karrieros leicht gemacht, den Jungen geräuschlos zu verfolgen. Der Junge hatte sie erst gehört, als sie von hinten zu ihm aufgeschlossen hatten, um ihn in eine Falle zu treiben. Der Junge, der ihnen nun mit nichts als einem langen Stock in der Hand ausgeliefert war.

Der Junge war Ramon.


-

Oh oh ... was glaubt ihr, wie wird das ausgehen?

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