32. Green, Red and White

Green, Red and White

Erst Tag 4 der Hungerspiele und Haymitch hatte bereits das Gefühl, dass die Zeit im Kapitol sich ins Unendliche streckte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, das Stöhnen zu unterdrücken, welches ihm über die Lippen gehen wollte. Mit einem Finger schob er sich die schwarze Sonnenbrille höher auf die Nase; das verdammte Ding rutschte ihm die ganze Zeit auf dem Nasenrücken herunter. Effie hatte sie ihm besorgt, als er verkündet hatte, dass es keine andere Möglichkeit gab, ihn dazu zu bewegen, das Penthouse zu verlassen. Es war Hochsommer. Die Sonne war unerbittlich und sein halb verkatertes, halb betrunkenes Hirn zuckte bei jedem Lichtstrahl, der sich irgendwie an den getönten Gläsern vorbeischummelte. Wenigstens konnte er mittlerweile aufrecht stehen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Es hatte drei Schmerztabletten gebraucht, um seinen Kopf von Schmerz und Schwindel zu befreien. Trotz alldem fühlte er sich, als könnte er dem eitlen Kapitoler, dem Effie und er nun gegenüberstanden, jede Sekunde auf die polierten Lackschuhe kotzen.

Zu seinem Glück übernahm Effie das Reden. Alles was er tun musste war, sich bei ihr einzuharken und sein aufgesetztes Lächeln nicht zu erzwungen wirken zu lassen. Die Frau des Sponsors warf ihm bereits einen seltsamen Seitenblick zu. Er neigte den Kopf, um sie über den Rand der Sonnenbrille zu betrachten und zwinkerte. Sie brach den Augenkontakt abrupt ab und er grinste. Haymitch wusste, dass Effie ihm dafür wahrscheinlich am liebsten ihren Ellbogen in die Seite gerammt hätte, aber Höflichkeit und Etikette verboten ihr jegliches schlechte Benehmen.

Nach den Ereignissen vom Tag zuvor hatte sich die Lage für Elowen in der Arena beruhigt. Sie verbrachte den Großteil ihrer Zeit auf einem Baum, dämmerte vor sich hin und erlaubte sich ab und an einen Schluck Wasser und ein paar Beeren. Man konnte ihr ansehen, dass sie Rye Hookers Tod immer noch nicht wirklich glauben konnte. Ihre grünen Augen fixierten immerzu einen fernen Punkt und sie schien tief in Gedanken. Die Audienz hatte bereits wieder das Interesse an ihr verloren.

Haymitch war einfach nur froh, dass die Medizin, die sie ihr gestern noch hatten schicken können, ihren Job getan und die Verletzung verschlossen hatte, die sie sich bei dem Sturz am Fluss zugezogen hatte. In den Sümpfen herrscht aufgrund angesiedelter Bakterienstämme eine erhöhte Infektionsgefahr bei offenen Wunden. Auch wenn der junge Sieger keinen Funken Sympathie für Seneca Crane hegte, wäre es dumm gewesen, nicht auf seine Worte zu vertrauen. Spielmacher verrieten nicht viel über ihre Arenen, um dem Publikum die Spannung nicht zu verderben.

Das Team aus Distrikt 8 hatte entweder bei Cranes Vorstellung der Arena geschlafen, oder sie konnten es sich nicht leisten, Medikamente in die Arena zu schicken. Ihr männliches Tribut wäre heute Morgen beim Versuch, etwas zu trinken, beinahe von einem Krokodil zerfetzt worden. Nun trug der Junge eine blutige Bisswunde mit sich herum, die vor Tierspeichel und Sumpfwasser triefte. Nicht die besten Bedingungen. Noch hielt er sich auf den Beinen, aber mit nur einem funktionstüchtigen Arm, war er auch ohne eine wahrscheinlich bevorstehende Sepsis so gut wie erledigt.

Im Laufe des späten Mittags gelang es Effie, eine ältere Frau für Ramon zu überzeugen. Unter der Bedingung, dass er den heutigen Tag überlebte, würde sie etwas zu seiner Unterstützung beisteuern. Es war ungewöhnlich, wie sich die Dinge für Distrikt 12 entwickelten. Haymitch fragte sich, was die Menschen zuhause wohl davon hielten; ob sie froh waren, dass die Kinder diesmal länger durchhielten oder ob es ihnen gleichgültig war. Nach dem kurzen Hoch von gestern, für welches Elowen einen Jungen töten musste, waren die Leute hier nicht weiter begeistert von ihr. Seltsamerweise schien die Situation den gegenteiligen Effekt für Ramons Platz auf den Wetttabellen und Ranglisten zu haben. Er wurde zwar immer noch nicht wirklich hochgehandelt, hatte seit gestern jedoch einige Prozentpunkte zugelegt und ließ Elowen dabei weit hinter sich. Bisher hatte er rein gar nichts getan, um zu beweisen, dass er das Geld der Kapitoler wert war. Doch die Hungerspiele hatten sich noch nie nur rein um die Überlebensfähigkeit gedreht; alles spielte in die Bewertung der Tribute mit ein: Geschlecht, Größe, Attraktivität und so weiter. Jungs wurden meist etwas höher gehandelt, weil die Biologie auf ihrer Seite war. Wenn die jüngere Distriktpartnerin töten konnte, zog man im Kapitol automatisch den Schluss, dass das ältere männliche Tribut mindestens zur gleichen Leistung fähig sein musste. Im Fall von Ramon war die Sache klar: Siebzehn, breit gebaut, solide Größe und attraktiv obendrein. Da übersahen die Kapitoler schon gern mal die Details. Für Haymitch unverständlich, weil er sich lieber auf Fakten als auf reine Mutmaßungen konzentrierte, aber Glücksspiel war hier eben sehr beliebt. Wenn Elowen töten kann, kann Ramon das sicher auch war heute das Motto.

„Lass uns nach oben gehen", schlug Effie vor, als sie mit dem nächsten Sponsoren auch keinen Erfolg hatten. Seit sie die Lounge vor Stunden betreten hatten, hatte sie Haymitchs Arm nicht ein einziges Mal losgelassen. Nun lehnte sie den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen zu schauen. Sie sah ein wenig ärgerlich aus, so wie ihre blauen Pupillen ihn anfunkelten. „Und nimm endlich diese schwachsinnige Brille aus dem Gesicht. Glaub ja nicht, dass ich nicht sehe, welche Blicke du den Sponsoren zuwirfst. Die Hälfte von ihnen haben sicher nur wegen dir abgesagt."

Haymitch begann zu lachen und das Beben seines Körpers ging auf Effies über. Ihre Lippen waren immer noch zu einer unzufriedenen Linie gepresst, als er an ihrem Arm zog und sie in Richtung den Treppen manövrierte, die aufs Dach führten. „Wenn's dich glücklich macht, lasse ich dich in dem Glauben, dass die Sonnenbrille an allem schuld war, Süße."

Effie schnaubte, aber Haymitch wusste, dass sie ihre Entrüstung nur vortäuschte. Er senkte den Kopf zu ihr herab und warf ihr über den Brillenrahmen hinweg einen schalkischen Blick zu. Dieselbe Geste wie zuvor bei der Frau des Sponsoren. Ein lässiges Grinsen umspielte seine Mundwinkel und Effie biss sich einmal auf die Lippe, um ihr Schmollen unter Kontrolle zu halten, bevor sie zu kichern begann.

„Diese Brille lässt dich aussehen, als wärst du in geheimer Mission unterwegs", lachte sie und schüttelte dabei den Kopf. „Und das Modell ist schon seit Jahren vollkommen aus der Mode."

„Tut mir leid, deine heißen Fantasien durchkreuzen zu müssen, aber da war ein Bild von mir im Frühstücksfernsehen", murmelte Haymitch irritiert und presste die Augen stärker zusammen, um den Sonnenstrahlen zu entgehen, die ihnen entgegenkamen. Er seufzte und schob sich die Brille höher auf seine Nase. „Die Leute wissen, dass ich nur 'nen Kater hab."

„Ja, das Bild habe ich leider auch schon zu Gesicht bekommen", erwiderte Effie in mürrischem Ton. „Es geschieht dir recht, dass die Welt jetzt über dich lacht."

Wie am Abend zuvor war das Dach voll mit Menschen, doch die frische Luft tat Wunder für Haymitchs vernebelten Geist. Der Alkohol war immer noch nicht völlig aus seinem System verschwunden. Jetzt musste nur noch die Sonne verschwinden ...

Der Barkeeper sah nicht glücklich aus, als er Haymitch erkannte. Sein Mund verzog sich und er murmelte etwas, was Haymitch nicht verstand. Er reichte Effie ein Glas Champagner und Haymitch fing ihren missbilligenden Blick auf, der auf seinem eigenen Drink ruhte.

„Im Ernst, Haymitch?" Effie seufzte. „Du bist doch sogar noch angetrunken. Noch vor ein paar Stunden bist du ohne Hilfe kaum vom Boden aufgestanden."

Haymitch verdrehte die Augen und nippte an seinem Whiskey. Der altbekannte Geschmack brannte in seiner Kehle und entspannte seine Muskeln. Er zog an seinem Arm und befreite sich aus Effies klammerndem Griff, was ihm ein weiteres Starren einfing. „Mir geht's gut, fast wie immer. Außerdem muss ich diese nervigen Leute doch irgendwie ertragen."

Effie schnalzte warnend mit der Zunge und nahm einen Schluck von ihrem Champagner. „Wenn du so laut redest, können diese nervigen Leute dich auch hören."

Die beiden bewegten sich langsam durch die Menge, in Richtung des Bereichs, wo Haymitch gestern Nacht gefeiert hatte. Er schaute zu Effie herab und beobachtete, wie sie die Menschen scannte; wahrscheinlich bereits auf der Suche nach dem nächsten Sponsor, als ihre Augen an der gläsernen Tanzfläche hängenblieben und sich aufhellten. Ihr Kopf schnellte in seine Richtung und Haymitch war nicht schnell genug, um seinen Blick abzuwenden.

„Lass uns tanzen", sagte Effie und Aufregung schwang in ihrer Stimme mit. „Ich habe noch nie mit dir getanzt!"

„Vergiss es, Süße." Haymitch musste innehalten und sich zu Effie umdrehen, als diese abrupt stehenblieb und ihre Pupillen sich verdunkelten.

„Warum nicht?", fragte sie fordernd. Er kannte diesen Ton. Dieser Ton bedeutete Arbeit und Ärger.

„Weil ich keine Lust habe und Tanzen was für aufgeblasene Kapitoler ist." Haymitch zuckte die Schultern, richtete seine Brille und drehte sich dann wieder um, nur um an Chaffs Gestalt hängenzubleiben, die etwas abseits der Masse gegen den Rücken eines weißen Sofas lehnte. Als sein Freund ihn bemerkte, hob er die Hand und winkte ihn zu sich herüber. Mit einer Frau im Nacken, die ihn wahrscheinlich sonst irgendwie auf diese Tanzfläche gezerrt hätte, kam er Chaffs Bitte gern nach. Effie hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen.

Bei Chaff angekommen, klopfte dieser ihm freundschaftlich auf die Schulter und grinste beim Anblick der Sonnenbrille. „Du musst dich also schon maskieren, um herzukommen? War letzte Nacht so hart?"

Haymitch hob theatralisch die Arme. „Wenn ich mich erinnern könnte, würde ich's dir sagen. Du siehst ja ziemlich ... nüchtern aus."

Chaff zeigte ihm die Zähne. „Was auch immer mir die Jungs gestern für Pillen gegeben haben, ich habe geschlafen wie ein Baby und danach war der Rausch mehr oder minder schon vorbei." Er verschränkte die Arme vor der Brust und spähte über Haymitchs Schulter vorbei. Einen Moment später tauchte Effie auf seiner Rechten auf und bedachte Chaff mit einem kühlen Blick.

„Chaff", sagte sie in einem Ton, der wohl begrüßend klingen sollte. Sie nickte ihm zu und Chaffs Finger glitten automatisch zu den zwei blutigen Kratzern, die Effies Nägel auf seiner Wange hinterlassen hatten.

Chaffs Augen fuhren von Effie zu Haymitch und er hob fragend die Brauen. Haymitch seufzte und hoffte, dass die beiden ihre Abneigung für die Dauer der Spiele zurückstellen würden. Er hatte nicht den Nerv für noch mehr Drama. Aber Chaff war nun mal Chaff ... „Vielleicht sollte ich mich freuen, dass ihr euch vertragen habt, aber ... ich denke nach wie vor, dass Haymitch ohne dich besser dran wäre."

Anders als gestern schien Effie kein Interesse zu haben, auf Chaffs Kommentar einzugehen. Gott sei Dank. Stattdessen reckte sie das Kinn und schenkte ihm ein arrogantes Lächeln. „Wir müssen uns nicht mögen, um kollegial miteinander umzugehen. Schließlich sind wir hier alle reife Erwachsene."

Chaff verzog seinen Mund, neigte jedoch gleichgültig den Kopf. Seine Augen wendeten sich wieder Haymitch zu und er stieß sich vom Sofarücken ab, gegen welchen er lehnte. „Du glaubst gar nicht, wen ich hier getroffen habe." Er deutete mit dem Daumen auf das Sofa und Haymitch trat näher heran, um über die hohe Lehne spähen zu können.

„Hallo Haymitch!", kam ihm eine quietschende, junge Frauenstimme entgegen, die bei dem Erstaunen auf seinen Zügen in Gelächter ausbrach.

„Margarita?" Bei seinem Ton fing selbst Chaff an zu lachen.

Margarita, die Frau mit der Chaff und er die letzte Nacht beinahe durchgefeiert hätten, lag quer auf der Couch und ließ ihre langen pinken Highheels gemütlich über den Rand baumeln, als befände sie sich in ihrem eigenen Wohnzimmer. In ihrer rechten Hand balancierte sie einen Cocktail und Haymitch konnte nicht sagen, ob sie immer noch oder schon wieder trank. Da er sich nicht daran erinnern konnte, was sie gestern angehabt hatte, war es schwer zu sagen, ob sie die Party vielleicht gar nicht verlassen hatte.

Margarita grinste vergnügt zu Chaff und ihm hinauf und salutierte mit ihrem Glas. Ihre blonde Perücke hing etwas schief auf ihrem Kopf, aber das schien die junge Frau nicht zu stören. „Chaff und ich haben uns schon gefragt, wann du hier aufkreuzt", zwitscherte sie und begann zu kichern, als sie die Sonnenbrille entdeckte. „Oh, haben wir dich gestern etwa überfordert? Ich habe mindestens so viel getrunken wie du und habe keinen Kater, alter Mann."

Haymitch verdrehte die Augen und nahm einen demonstrativen Schluck von seinem Whiskey, konnte sich ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. „Klar hast du keinen Kater, du bist ja praktisch noch ein Kind."

„Ich hatte echt lang nicht mehr so viel Spaß, das müssen wir unbedingt wiederholen!" In Margaritas pinken Iris funkelte eine Jugendhaftigkeit, die typisch für das Kapitol war. Jung, frei, unabhängig und genug Geld, um sich den Sommer lang als das auszugeben, auf das man gerade Lust hatte.

„Auf keinen Fall!", kam es von Haymitch und Chaff gleichzeitig und die beiden Sieger warfen sich einen langen, wissenden Blick zu, bevor sie zu lachen begannen. Haymitch lehnte sich gegen den Sofarücken und schaute kopfschüttelnd zu Margarita hinunter, die zu schmollen begann. „Klar, der Abend war lustig, aber meine Reputation leidet darunter, Süße."

Chaff und Margarita starrten ihn skeptisch an und Haymitch hob defensiv die Schultern, konnte jedoch nicht wirklich ernst bleiben. „Habt ihr mal Fernsehen geguckt? Mein Gesicht ist überall in den Prominachrichten!" Ein schwaches Argument, schließlich wusste jeder, wie wenig er auf die Meinung anderer gab. Vor allem, wenn es die Meinung des Kapitols war.

Effie, die ihren Austausch bisher nur schweigend beobachtete hatte, musterte Haymitch dunkel. Er zeigte ihr die Zähne und zwinkerte, was ihre Gesichtszüge nur eiserner werden ließ. Haymitch dachte an ihre Diskussion heute Morgen und seufzte in sich hinein, bedeutete ihr aber mit der Hand, die Distanz zwischen ihnen zu schließen. Jedoch wäre Effie nicht Effie, wenn sie seine Geste mit Absicht nicht verstehen wollte. So wie Chaff verschränkte sie die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. Sie sah genau so aus, wie er sich ein verwöhntes, quengelndes Kind vorstellte, das einmal seinen Willen nicht bekommen hatte.

„Wo ist eigentlich dein Verlobter abgeblieben?", fragte Chaff in diesem Augenblick und für eine Sekunde fürchtete Haymitch, dass die Frage an Effie gerichtet war und er auf Crane anspielte, doch als er sich wieder zu seinem Freund umdrehte, ruhten seine braunen Augen auf Margarita.

Margarita kicherte und deutete gelangweilt in Richtung der Gärten, die den westlichen Teil des Dachs ausmachten. „Ach, er hat sich mit irgendeinem Mädchen ins Labyrinth verkrochen. Der kommt schon wieder."

Ihre Worte schienen Effie neugierig zu machen, denn sie machte einige Schritte auf die Couch zu, um Margarita genauer zu betrachten. Haymitch konnte nicht verhindern, dass ihm auffiel, wie ihre Finger bei der Bewegung gegen seinen Arm streiften und dort innehielten.

Als Effie in Margaritas Sichtfeld fiel, wurde Margaritas Lächeln breiter und sie setzte sich etwas in den Kissen auf. „Hallo, Miss Trinket!" Sie streckte ihr eine Hand hin, die Effie über die Rückenlehne schüttelte, nun einen beinahe freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht. „Wir wurden uns noch nicht offiziell vorgestellt, ich bin Margarita Price. Freut mich wirklich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen!"

Haymitch und Chaff waren wohl ebenso verwirrt wie Effie, als sich der typisch förmliche Kapitolakzent in Margaritas Ton schlich. „Freut mich ebenso", erwiderte Effie mit einem milden Schmunzeln auf den Lippen.

„Ich entschuldige mich, falls ich Haymitch gestern von irgendetwas abgehalten habe, Miss", fuhr Margarita fort und klang nun um einiges erwachsener als noch wenige Sekunden zuvor. Sie klang wie jede andere Frau aus dem Kapitol. Haymitch fand es seltsam, wie schnell die Menschen hier ihre Schalter umlegen konnten, je nachdem mit wem sie es zu tun hatten. Effie schien in dieser Rangordnung wohl über den Siegern zu stehen.

„Es gibt nichts zu entschuldigen, meine Liebe. Haymitch ist alt genug, um selbst zu wissen, was er tut", sagte Effie und stünde Chaff nicht direkt neben ihm, hätte Haymitch sie wahrscheinlich mit seinem Blick durchbohrt.

Irgendwie gerieten die beiden Frauen ins Reden. Chaff schien mit jedem Wort, das aus ihren Mündern kam, gelangweilter auszusehen. „In Ordnung", platzte es schließlich aus ihm heraus und unterbrach Effie mitten in irgendeiner Erzählung. „Jetzt, wo sich alle kennen, können wir uns ja den wichtigen Dingen widmen."

Effie drehte sich erwartungsvoll zu Haymitch und allein das Glitzern ihrer Augen verriet, dass ihre Frage ihm nicht gefallen würde. „Heißt das, du tanzt endlich mit mir?"

„Auf keinen Fall!" Seine Stimme klang möglicherweise einen Hauch zu defensiv.

„Oh, er ist wirklich kein schlechter Tänzer", erzählte Margarita hinter vorgehaltenem Mund, als würde sie Effie ein Geheimnis verraten. „Besser als ich allemal. Tut mir übrigens leid, dass ich dir die ganze Zeit auf die Schuhe getreten bin." Der letzte Satz war an Haymitch adressiert.

„Genug Geschichten über mich", schnitt Haymitch dazwischen und warf Margarita einen warnenden Blick zu, die aber nur grinsend mit den Schultern zuckte und weiter ihren Cocktail schlürfte. „Ich tanze nicht. Punkt. Ende der Diskussion."

Effie löste sich von ihm und entfernte sich mit einem langen Schritt von der Couch. Nun, da sie sich nicht mehr in Margaritas Augenwinkel befand, gefroren ihre Gesichtszüge zu der kühlen, distanzierten Maske, die Haymitch so hasste. Mit einem gleichgültigen Ausdruck in den hellblauen Augen, wandte sie sich zum Gehen. „Vielleicht ist es besser, wenn ich allein gehe. Ich werde auf der Tanzfläche ohnehin eine Menge fähigerer Partner finden, von denen jeder äußerst gewillt sein wird, mit mir zu tanzen."

„Ich glaube, das ist mein Stichwort, zu gehen", brummte Chaff und stieß sich von der Sofalehne fort. Er nickte Margarita flüchtig zu und klopfte Haymitch auf die Schulter, bevor er sauf dem Absatz kehrtmachte und durch die Menge in Richtung Treppenabgang verschwand. Da er keine Tribute mehr im Rennen hatte, hielt ihn hier nichts. Warum war er überhaupt hergekommen? Das war gar nicht seine Art.

Effie war im Inbegriff, zur Tanzfläche zurückzukehren, als Haymitch einen lautlosen Fluch von sich gab und nach ihrem Handgelenk griff, bevor sie sich ihm entziehen konnte. Fast als hätte sie mit einer Reaktion seinerseits gerechnet, wehrte sie sich nicht gegen seine Berührung, sondern bewegte sich stattdessen zurück auf ihn zu. Ihre Maske blieb jedoch an Ort und Stelle.

„Lass uns reden", murmelte Haymitch und zog Effie fort von Margarita und der Sofalandschaft; fort von den zahlreichen, fremden, neugierigen Augenpaaren. Zu seiner Überraschung sträubte sie sich nicht, was er bei ihrem Gesichtsausdruck und der Art, wie er sie praktisch auf die Gärten zuschob, erwartet hätte. Auf halber Strecke löste Haymitch seinen Griff um ihr Handgelenk und verschob seine Finger sanft zu ihrem Rücken. Er war Effie so nah, dass er darauf achtgeben musste, nicht auf die Schleppe ihres langen, dunkelroten Kleids zu treten.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Garten primär um einen Wassergarten, der aus mehreren künstlichen Teichen und tropischen Blumenbeeten bestand. Orangene Fische schwammen in angelegten Kanälen, die sich um die Gehwege schlängelten, welche tiefer ins Grüne hineinführten. Gewächshäuser aus milchigem Glas beherbergten Flora, die nur in ganz bestimmten Distrikten heimisch war und wahrscheinlich so manch einen Sieger vergessen lassen würd, dass man nicht tatsächlich zurück in der Heimat war. Das Dach der Lounge musste groß sein, größer als die untere Etage, anders konnte Haymitch sich nicht erklären, wie die Landschaftsarchitekten des Kapitols es geschafft hatten, ein lebensgroßes Labyrinth inmitten der restlichen Grünfläche zu erschaffen.

Haymitch führte Effie durch die Wassergärten und ihren prachtvollen rosaroten Lotusblüten hindurch, vorbei an den Gewächshäusern, von denen natürlich keines Distrikt 12 gewidmet war. In 12 gab es nichts, was das Kapitol maßgeblich beeindrucken könnte; keine außergewöhnlich hübschen Blumen, keine Farbenvielfalt, nur Wälder und Farne und Feldblumen. Als sie unter dem Efeubogen des Labyrinths hindurchschritten, verschwand die Sonne über ihnen. Die Wände der Büsche waren hoch genug, um Schatten zu bieten. Haymitch seufzte erleichtert, blieb jedoch erst stehen, nachdem er um einige Ecken gebogen und in einer Sackgasse gelandet war.

Effie machte einen zögerlichen Schritt auf das Gewächs zu, betrachtete die dunkelgrünen Blätter skeptisch und drehte sich langsam zu Haymitch herum. Fragend hob sie eine ihrer perfekt gezupften Brauen. „Worüber willst du–"

Weiter kam sie nicht. Haymitch hatte den Abstand zwischen ihnen im Bruchteil einer Sekunde überbrückt und seine Sonnenbrille rutschte ihm beinahe von der Nase, als er sich zu Effies Gesicht herabbeugte und seine Lippen gegen ihre presste. Ein überraschter Laut entsprang ihrer Kehle, der sich jedoch einen Moment später in ein zufriedenes Seufzen verwandelte, welches ihm einen elektrischen Impuls den Rücken hinabschickte. Haymitchs Hände fuhren hoch zu ihren Wangen und er streckte die Finger seiner Linken nach ihrem Nacken aus. Ihr echtes, blondes Haar, welches ihr in leichten Locken über den Rücken fiel, kitzelte seinen Handrücken, als er über ihre Halsbeuge strich und ihr Gesicht stärker gegen seinen Mund drückte. Effie zögerte nicht lange, bevor sie ihm ihre eigenen Arme um die Schultern schlang. Einige Sekunden taumelten sie im Schatten der Hecken, im Kampf um die Oberhand des Kusses, bis ein Ruck durch Haymitchs Körper ging und Effie sich seinen Bewegungen anpasste, als er einen Schritt nach dem anderen machte, bis ihr Rücken mit den Blättern der Bäume kollidierte.

„Haymitch, mein Kleid", flüsterte Effie warnend, aber ihre Stimme klang weit entfernt, abgelenkt.

„Dein Kleid ist wunderschön", erwiderte Haymitch und löste sich lange genug, um Effies Gestalt in sich aufzusaugen, auch wenn er wusste, dass ihre Worte etwas anderes gemeint hatten. „Du bist wunderschön. Rot ist deine Farbe, Prinzessin."

Rot war tatsächlich ihre Farbe. Das bordeauxrote, leuchtende Kleid musste ursprünglich als Abendkleid gefertigt worden sein, für einen Ball oder für ... eine noble Veranstaltung, denn selbst für die Hungerspiele schien es zu edel, zu besonders zu sein; auf eine klassische Art und Weise. Etwas anderes fiel Haymitch nicht ein. Sie sah in dem Kleid tatsächlich aus wie eine Prinzessin. Der funkelnde Stoff weitete sich zunehmend zum Boden und berührte ihn sogar mit den letzten Zentimetern. Die glitzernden Stickereien zogen sich hoch bis zu den Schultern und wieder hinab zu den Handgelenken. Effies blonden Haare waren zwar aufbereitet aber im Großen und Ganzen unberührt. Im Kontrast zum schweren Goldschmuck und dem dunkelroten Makeup, der Lippen und Lider zierte. Doch Haymitch musste sich eingestehen, dass sie trotz alldem immer noch gut aussah. Mehr als gut.

Haymitchs Augen glühten, als er sich Effie erneut entgegenlehnte. Ein erstauntes Seufzen entkam ihr, als sein Mund sich gegen ihren Hals schmiegte, doch sie legte sofort den Kopf in den Nacken, als er sich langsam und schleichend über ihre Kehle nach oben arbeitete. Seine Zunge liebkoste ihre warme Haut und Effies Finger verharrten in seinem Nacken und für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete Haymitch, dass er sich einen Schritt zu weit gewagt hatte, aber dann verwandelte sich ihr Seufzen in ein tiefes Summen und sie presste ihren Körper näher an seinen heran. Einen Moment lang war alles was Haymitch sah, ein endloses Weiß. Dann, als seine Sinne langsam aufholten, fand Effies Mund seinen und die Welt um sie herum verblasste ein weiteres Mal.

„Tanz mit mir, Haymitch", murmelte Effie gegen seine Lippen und lehnte sich dann fort von ihm. In ihren kornblumen-blauen Augen glitzerte ein Sturm an Lust und Leidenschaft, dem Haymitch sich kaum entziehen konnte. Es kostete ihn jede Kraft seines Körpers, um den Kopf zu schütteln. Seine Finger fuhren über ihren Rücken, strichen über den weichen Stoff und mit jedem Atemzug stieg das Bedürfnis in seinem Inneren, sie ohne ein weiteres Wort zurück zu sich heranzuziehen.

„Vergiss es, Süße", sagte Haymitch, aber seine Stimme klang rau und war kaum mehr als ein sanftes Flüstern. Er räusperte sich und lehnte sich ein Stück in ihre Richtung, ließ seinen eigenen Blick auf Effie wirken. Ein Schmunzeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sah, dass er eine ähnliche Wirkung auf sie hatte wie sie auf ihn. Effie schluckte und ihre Pupillen schienen sich zu weiten, als er keinerlei Anstalten machte, sie erneut zu küssen. „Ich habe nur mit Margarita getanzt, weil ich stockbesoffen war. Es gibt nichts, was mich ein weiteres Mal auf diese Tanzfläche bringen wird. Nicht einmal du."

Die Erwähnung von Margaritas Namen nahm das Leuchten aus Effies Blick. Es war, als wäre sie wieder auf der Erde angekommen. Ein unzufriedener Ausdruck huschte über ihr eben noch weiches Gesicht und sie biss sich frustriert auf die Unterlippe. Haymitch konnte förmlich sehen, wie ihre Augen einen abwesenden Zug annahmen und sie zu nachdenken begann. Ihre weiterhin geweiteten, tiefblauen Augen wanderten zurück zu seinem Gesicht und verharrten an einem unsichtbaren Punkt; dort wo eben noch die Sonnenbrille auf seinem Nasenrücken gewesen war. Haymitch konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sie von seiner Nase in seiner linken Hand gelandet war, die weiter Effies Rücken erforschte.

Effie, die sich für eine Strategie entschieden hatte, um ihn von einem Tanz zu überzeugen, schmiegte ihre Arme enger um seinen Hals und Haymitch protestierte nicht, als ihr Gesicht Zentimeter vor seinem eigenen innehielt. In ihren Schuhen waren sie sich von der Größe beinahe ebenbürtig. Effies Lippen teilten sich und sie schenkte ihm ein Lächeln, das seinen Magen einen Satz machen ließ.

„Du hast doch noch Alkohol im System", flüsterte Effie mit zarter Stimme und Haymitch gelang es nicht, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken, als die langen Finger ihrer linken Hand über den Stoff seines Anzuges fuhren. Ihre Nägel fuhren über seine Schulter, in einer quälend langsamen Bewegung seinen Arm hinab. Er wollte sie. Jede Faser ihres Körpers. Wenn sie so weitermachte, würde sie kriegen, was sie wollte. „Strenggenommen bist du also noch betrunken. Also tanz mit mir, Haymitch. Einmal und nie wieder."

Haymitch schwirrte der Kopf. Effies Lächeln hatte einen Hauch von Kalkulation angenommen; ihre Augen funkelten im Wissen, dass sie gewonnen hatte. Noch ehe er ein Nicken zustande gebracht hatte, drückte sie bereits ihre Lippen gegen seine; ein kurzer, flüchtiger Kuss. Dann befreite sie sich aus seinem Griff und umklammerte seine Hand, um ihn aus dem Labyrinth herauszuführen. Ehe Haymitch sich versah, durchquerten sie bereits den Wassergarten und er fragte sich ernsthaft, ob er vielleicht doch betrunkener war als zuerst angenommen, oder ob sie tatsächlich diese Wirkung auf ihn hatte. Es erschien ... unmöglich. Lass uns reden. Er hätte am liebsten aufgeschnaubt. Und wie sie geredet hatten.

Doch so wie immer, wenn das Kapitol seine Finger im Spiel hatte, holte die Realität Haymitch und Effie ein, sobald sie in die Zivilisation zurückkehrten. Der Stimmungsumschwung der Menschen war so deutlich zu spüren, dass Haymitch fast über seine eigenen Füße gestolpert wäre. Sein Herz machte einen unangenehmen Satz und Effies Finger drückten plötzlich stärker gegen seine.

Unverantwortlich und dumm. Mehr hatte er nicht zu ihrem Verhalten zu sagen. Die Hungerspiele liefen, Elowen und Ramon waren beide im Rennen und anstatt darauf zu achten, dass dies auch so blieb, verkrochen sie sich in ein gottverdammtes Labyrinth, um rumzumachen wie Teenager. Für eine Sekunde war Haymitch so angewidert von sich selbst, dass er sich fragte, wie es überhaupt dazu hatte kommen können. Was machte diese Frau nur mit ihm, dass er seine Werte und seine Moral vergaß?

Noch bevor Haymitch eine Antwort auf diese Frage bekam, blieb sein Blick am nächsten Bildschirm hängen. Ein erleichterter Luftzug entglitt ihm, als er Cashmere und die Karrieros wiedererkannte. Keine Spur weit und breit von einem seiner Tribute. Doch das Bild, das sich ihm bot, verwirrte ihn dennoch. Sie waren nicht früh genug hier gewesen, um den Kontext hinter dem Streit zu verstehen, den Cashmere und das Mädchen aus 2 gerade mit Worten auszufechten schienen.

Die Gruppe stand inmitten des Dschungels, die Bäume so weit auseinander, dass sich eine kleine Lichtung zwischen den Farnen bildete. Auf dem feuchten Boden lag der leblose Körper eines Mädchens, das zu klein und zierlich aussah, um eine realistische Chance gegen irgendwen der Karrieros gehabt zu haben. Ihr Shirt war so blutgetränkt, dass es unmöglich war, die aufgedruckte Zahl darauf entziffern zu können. Doch ihr Haar war rabenschwarz und im Vergleich zu Elowen war sie doch zu groß.

Elira scheint wohl der Geduldsfaden mit Cashmere geplatzt zu sein", lachte Claudius Templesmith, dessen Stimme sich von den Worten abhob, die die beiden Tribute in der Arena austauschten. „Da scheint wohl jemand neidisch zu sein, dass Cashmere jeden Gegner ausschaltet, bevor ihre Verbündeten eine Chance dazu haben. Mit dem weiblichen Tribut aus Distrikt Sieben hat sich ihr Abstand zu den anderen gerade wieder ein Stück erweitert!"

Elira, offenbar das weibliche Tribut von Distrikt 2, schien sich vor Cashmere in Rage zu reden, während diese nur unbeeindruckt zuschaute, ihr blutbeschmiertes Schwert in einem lässigen Griff an ihrer Hüfte. Sie sah fast schon gelangweilt aus, während Elira vor- und zurückstapfte, mit dem Finger auf das blonde Mädchen zeigte und wütend das Gesicht verzog. Der Rest der Karrieros schaute stumm zu, wie der Streit seinen Lauf nahm. Magnus, der Junge aus 2 und das Mädchen aus 4 waren noch übrig und der Ausdruck auf ihren Gesichtern, schien einen Teil von Eliras Frustration zu teilen.

Irgendwie kann ich sie ja schon verstehen, Claudius", bemerkte Caesar amüsiert. „Jeder Tod, der auf Cashmeres Konto geht, vergrößert ihren Abstand an der Favoritenspitze und bringt ihr mehr Sponsorengeschenke ein. Ich wäre sicherlich auch verärgert!"

Natürlich! Aber sicherlich würdest du darüber nicht deine Manieren verlieren, wie die liebe Elira hier", erwiderte Claudius, in dessen Stimme sich eine Abneigung geschlichen hatte, die er mit einem Lachen zu verbergen versuchte. „Mit diesem Verhalten macht man sich nicht gerade beliebt. Ich frage mich ja, wo sie dieses breite Repertoire an Schimpfwörtern aufgefangen hat!"

In einem normalen Jahr haben die anderen Tribute es bereits schwer, aber Cashmere ist die Schwester unseres geliebten Siegers Gloss aus dem letzten Jahr! Den Wettbüros zur Folge scheint das die Chance der übrigen nicht gerade zu befeuern. Was denken Sie, liebe Zuschauer? Ist Eliras Verhalten gerechtfertigt? Stimmen Sie ab!" Caesars Stimme verschmolz mit den Geräuschen der Arena und die Menschen auf der Terrasse riefen Durcheinander, als Bewegung in den Streit zwischen Cashmere und Elira kam.

Elira, die ziemlich frustriert sein musste, schien Cashmeres Passivität gar nicht zu gefallen. Sie hielt in ihrem Schritt inne, zischte und pirschte dann an das andere Mädchen heran. Da war eine Waffe an ihrem Gürtel, doch im Anbetracht des goldenen Schwerts in Cashmeres Hand, hätte Elira sowieso keine Chance gehabt. Es geschah ganz schnell, aber wenn man die Hungerspiele länger verfolgte, kannte man die Signale. Die Tribute standen unter enormem Stress, unter enormem Druck. Die Furcht, nicht lebend aus der Arena herauszukommen, fraß sich so tief in sie herein, dass sie einen unter gegebenen Umständen verrückt machte.

Eliras Hände kollidierten mit Cashmeres Brust und schubsten sie nach hinten. Ob sie tatsächlich die Intention gehabt hatte, ihr ernsthaft wehzutun, würde niemand jemals erfahren. Es ging zu schnell, als dass die anderen Karrieros hätten einschreiten können; aber selbst wenn, wieso sollten sie? Ein Tribut weniger ließ sie ihrem Ziel einen Schritt näherkommen. Cashmeres Füße gruben sich in einer harten Bewegung in den Matsch. Sie machte eine schnelle Aktion nach vorn, sodass man nur ihr langes, blondes Haar aufwirbeln sah. Das Schwert, welches eben noch so locker in ihrer Hand geruht hatte, lag nun in einem festen Griff. Eliras Augen weiteten sich, als hätte sie keine Gegenreaktion erwartet. Ihre Hand flog hinab zu ihrem Gürtel, doch sie hing um wenige Sekunden hinterher. Cashmere ließ das Schwert in einer präzisen Bewegung nach vorn fahren und ein Hauch von Bedauern huschte über ihr Gesicht, als sie es wieder zurückzog.

Elira röchelte nach Luft, senkte das verblüffte Gesicht panisch zu ihrem Bauch hinab und machte einen schwankenden Schritt nach hinten. Ihre Füße strauchelten über den unebenen Boden und ein wehklagender Laut kam ihr über die Lippen, als ihr Distriktpartner ihr zur Hilfe kam und nach ihrem Arm griff. Der Junge senkte sie vorsichtig ab und starrte dann zornig von Cashmere zurück zu dem Mädchen, das gerade noch lebendig gewesen war. Nun war von ihr nicht mehr als ein leerer Ausdruck in den braunen Augen übriggeblieben, die starr gen Himmel blickten. Die Kanone ertönte und Elira aus Distrikt 2 war tot.

Die Leute um Haymitch und Effie brachen in Jubel aus. Einige begannen zu klatschen, andere pfiffen, wieder andere johlten Cashmeres Namen oder den ihres Bruders. Caesar und Claudius begannen wieder, das Geschehen zu kommentieren, diesmal aufgeregter als eben noch. Der Tod eines Karrieros war um einigeres spannender als der eines Mädchens aus Distrikt 7, die ohnehin nie eine realistische Chance gehabt hatte. Nun, wo Cashmere eine Verbündete umgebracht hatte, wagten die anderen Karrieros es nicht, ihr die Stirn zu bieten. Ein Fehler. Gemeinsam hätten sie wahrscheinlich eine Chance gegen sie gehabt. Später, wenn die Zahlen sanken, würde es anders aussehen ...

Haymitch schüttelte den Kopf und wandte den Blick vom Bildschirm ab. Dieses Spiel, diese Stadt, dieses Leben machten ihn verrückt. Seine Augen trafen Effies, die ihn schon seit einiger Zeit zu beobachten schien. Da war keine Trauer auf ihrem Gesicht, nicht so wie bei Elowens Begegnung mit dem Tod, aber auch die Freude fehlte. Ihre Wangen, die eben noch rot geglüht hatten, hatten an Farbe verloren.

Haymitch seufzte. „Lass uns im Penthouse weiterschauen, da wird heute nichts mehr passieren."

Effie kniff erstaunt die Brauen zusammen. Bei allem, was er hätte sagen können, hatte sie wohl kaum damit gerechnet. „Es ist gerade Nachmittag, Haymitch. Wir können nicht einfach gehen. Was ist mit den Sponsoren?"

„Der Tag ist für uns gelaufen, Süße", erklärte Haymitch kurzangebunden. Er kannte das Zahnrad der Spiele und wie es funktionierte in- und auswendig. „Heute werden alle nur Augen für Distrikt Eins haben. Da gerade zwei Tribute gestorben sind, werden die Spielmacher sich mindestens bis morgen raushalten. Wir können also genauso gut verschwinden."

„Woher weißt du das? Bist du dir sicher?" Effie klang immer noch skeptisch und Haymitch versuchte, ihr Misstrauen nicht persönlich zu nehmen.

„Schau dir die Karte an", sagte er und nickte zu einem anderen Monitor. „Sowohl Elowen als auch Ramon sind zu weit von anderen Tributen entfernt, um uns heute Ärger zu machen. Da es langsam Abend wird, werden die anderen Tribute auch keine Exkursion mehr starten."

Effie ließ die Luft tief in ihre Lungen strömen, schloss kurz die Augen, als würde sie nachdenken und drückte dann seine Hand. Erst jetzt bemerkte er, dass sie seine Finger immer noch umklammerte. Vorsichtig, ohne ein Schauspiel daraus zu machen, wand Haymitch sich aus ihrem Griff heraus; unter dem Vorwand sie an ihrem Rücken zu platzieren, um sie aus der Menge herauszuführen. Falls Effie seine Starre bemerkte, sagte sie nichts. Er hatte nichts dagegen, ihre Hand zu halten. Es in der Öffentlichkeit zu tun, war jedoch etwas völlig anderes. Etwas Gefährliches. Und Haymitch hatte für ein Leben genug Gefahr durchgespielt. Also drückte er seine Finger gegen Effies Rücken und navigierte sie hinunter ins Erdgeschoss der Lounge, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden; ohne den Mann in Weiß zu bemerken, er ihn im Auge hatte, seitdem Haymitch die Lounge heute Morgen betreten hatte. Kein Friedenswächter, aber die Rose am Revers sprach mehr als tausend Worte.


-

Hallo und willkommen zurück,

ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen, lasst es mich gerne wissen! :) 

Liebe Grüße

Skyllen

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top