3. Stuck In Reverse
Stuck in Reverse
Die Abschiedsszenen waren nicht dramatischer als in einem durchschnittlichen Jahr. Das Mädchen hatte nur noch ihre Mutter übrig. Umringt von drei jüngeren Geschwistern, hatte sie sie schluchzend, aber ohne ein Wort zu verlieren, in die Arme geschlossen. Der Junge hingegen hatte noch Vater und Mutter, jedoch keine weiteren Geschwister. Den Vater kannte Haymitch sogar, er war ein bekannter Schmied im Distrikt. Irgendetwas am Gesicht seiner Mutter kam ihm auch bekannt vor, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, was es war. Oder wann. Er bemerkte nicht den wütenden Blick, den sie ihm zuwarf.
Effie Trinket war damit beschäftigt, sich mit Petunia um den weiteren Zeitplan zu kümmern. Sobald sie erst einmal alle im Zug sein würden, konnte man sowieso nichts mehr ändern, aber vorher musste alles ganz schnell gehen. Zumindest war es das, was sie Haymitch in strengem Ton klargemacht hatte, bevor sie sich wieder Petunia angeschlossen hatte. Dabei war er immer der Erste im Zug. Er machte sich nicht die Mühe, Gepäck mitzunehmen – das Kapitol sorgte schon für einen vollen Kleiderschrank. Abgesehen davon gab es nichts in 12, wofür sich ein verspätetes Einsteigen gelohnt hätte.
Also setzte Haymitch sich, ohne auf die Kapitolerinnen oder Tribute zu warten, schnurstracks ins Auto, um zum Zug zu fahren. Das Einzige, was ihn kümmerte war sein Alkohol und den gab es an Bord reichlich. Der einzige Pluspunkt des Kapitols. Da es jedoch nur ein Auto gab, blieb dem Fahrer keine andere Wahl, als auf den Rest zu warten.
Und so musste Haymitch sich, als sie irgendwann endlich am Zug angekommen waren, an zwei zum Kotzen irritierenden Kapitolern und zwei unbehaglich vortrottenden Kindern vorbeidrängeln, um in die altbekannte Kühle des Abteils zu verschwinden. Einfacher gesagt als getan. Während Trinket und der Drache das Blitzlichtgewitter in vollen Zügen genossen und sich lächelnd in alle Richtungen umdrehten, juckte es in Haymitchs Fingern schon – so wenig konnte er es erwarten, dieses Jahr hinter sich zu bringen. Bisher hatte er die beiden Tribute bisher so weit es ging ignoriert, was seinem Standardprozedere entsprach und sich in den kommenden Wochen auch nicht ändern würde.
Nun wollte er kurzen Prozess mit den Reportern machen. Als ihn eine buntgekleidete Frau nach seiner Meinung über seine neue Betreuerin fragte und wie er denn ihre zukünftigen Chancen einschätzte, sagte er einfach nur: „Es kann nur bergauf gehen."
Petunia warf ihm einen giftigen Blick zu, bevor sie sich wieder den Kameras zuwandte. Nicht, dass Haymitch irgendeine Sympathie für Effie übrighatte, aber jeder Mensch in diesem Land war wohl besser für den Job als Betreuer geeignet. Mit Ausnahme vielleicht von dem Kopf der Schlange, Snow, selbst.
Irgendwie orientierte sich der Rest der Gruppe an Haymitchs Tempo, sodass, nachdem er in den Zug gestiegen war, die anderen wenige Sekunden später folgten. Von Effie erntete er einen anerkennenden Blick, den er erst zu deuten verstand, sobald ihre Augen daraufhin auf das Klemmbrett in ihrer Hand und den Zeitplan fielen, der darauf abgebildet war.
Haymitch verzog die Lippen in Ablehnung. Jedoch blieb ihm keine Gelegenheit, einen abfälligen Kommentar zu bringen, da sich die Türen des Abteils in diesem Augenblick hinter ihnen schlossen. Effie atmete erleichtert auf, was ihr sofort einen tadelnden Blick von Petunia einfing. Er musste sich seine Schadenfreude verkneifen.
Unter ihnen setzte sich der Zug sanft in Bewegung und Haymitch sah dies als sein Zeichen, um zu verschwinden. Ohne einer seiner Kapitolkolleginnen einen letzten Blick zu würdigen, überließ er ihnen die beiden Tribute und machte sich sofort auf den Weg zur Bar.
Auf ein neues Jahr dieses Albtraums.
oOo
Etwas von Haymitchs wortlosem Verschwinden aus der Bahn geworfen, drehte Effie sich zu Elowen und Ramon. Als sie sich jedoch an ihren nächsten Tagesordnungspunkt erinnerte, zogen sich ihre Mundwinkel wie von selbst nach oben. „Kommt, ich zeige euch eure Zimmer."
Die beiden Tribute folgten Effie schweigend. Keiner der beiden hatte bisher ein Wort gesprochen – weder mit ihr oder untereinander. Sie konnte Elowens verängstigtes Gesicht in den langen Spiegeln des Flures sehen. Ramon hingegen schaute einfach nur demonstrativ geradeaus, aber Effie war sich sicher, dass es in seinem Inneren ziemlich anders aussah. Mit den Folgen der Ernte zurechtzukommen war nicht für jedes Tribut einfach, hatte man ihr innerhalb ihrer Ausbildung vor Antritt erklärt.
Es war einer der Gründe, weshalb sie die Übergabe der Zimmer nicht mehr in die Länge zog als nötig. Besonders nachdem keiner der beiden auch nur einen Funken ihrer Begeisterung über ihre geräumigen und luxuriösen Gemächer geteilt hatte. Ihr Verhalten war seltsam und befremdlich. Selbst Effie, die zum gehobenen Mittelstand des Kapitols zählte, konnte nur von dieser Art von Ausstattung und Technik träumen. Die Kinder nahmen es hin, als wäre es nichts Besonderes – als wäre es nicht der Rede wert. Dabei konnten ihre Häuser in 12 nicht besser sein, wenn man den Zustand des Distrikts im Allgemeinen in Augenschein nahm. Vielleicht legten die Distriktler einfach Wert auf anderes. Sie hatte keine Ahnung, schließlich hatten die Tribute bisher nicht mit ihr geredet.
Um den Tributen Zeit für die Eingewöhnung zu gewähren, machte sie sich bald schon auf die Suche nach ihrer eigenen Mentorin. Sie fand Petunia im Gesellschaftswagen, wo diese an einem kleinen Fenstertisch saß und ihre Nägel inspizierte.
„Ich habe ihn mir anders vorgestellt", sagte Effie, unsicher wie sie es anders beschreiben sollte, und setzte sich zu ihr.
Petunia schaute nicht auf, als Effie sich ihr gegenübersetzte. Natürlich wusste sie sofort, wer gemeint war. Sie schüttelte den Kopf und spitzte die Lippen. „Abwarten", murmelte sie und fuhr sich mit dem rechten Daumen vorsichtig über die Nägel ihrer linken Hand. „Was glaubst du, wo er gerade ist, hm?" Schließlich schaute sie doch auf und fixierte Effie mit erhobenen Augenbrauen.
„In seinem Abteil?" Effie zuckte unsicher mit den Schultern. Sie hatte vorhin nicht darauf geachtet, in welche Richtung Haymitch verschwunden war.
„Geh nur", ermutigte Petunia mit einem dünnen spöttischen Lächeln und schaute nicht auf, während sie sprach. „Schau was er macht, du kannst ihn sofort zum Abendessen rufen."
Mit einem Nicken erhob Effie sich vom Tisch und flitzte aus dem Abteil. Sie wusste, wo sie den Sieger einquartierten. Petunia hatte es ihr auf der Hinfahrt gezeigt. Sie war sich nicht sicher, wie sie Petunias Gesichtsausdruck deuten sollte. Ihr schien es beinahe gleichgültig zu sein, was mit Haymitch passierte. Auch wenn Haymitch schwerer war als andere Sieger, musste sie sich als Eskorte trotzdem für ihn verantworten. Petunia hatte selbst gesagt, dass es ein ehrenvoller Job mit Höhen und Tiefen sei. Trotzdem schienen sie und Haymitch das genaue Gegenteil einer freundlichen Arbeitsbeziehung zu haben und Effie grübelte über die Gründe nach, bis sie vor seiner Tür ankam.
„Haymitch?" Effie klopfte, aber es tat sich nichts. Das gesamte Abteil schien totenstill. Angestrengt lauschte sie, um irgendein Geräusch aus dem Inneren seines Zimmers hören zu können. Erst als sie den Atem für einige Sekunden anhielt, konnte sie schwere Schritte vernehmen. Dann plötzlich nichts mehr.
Sie war sich sicher, dass er ihr Klopfen gehört haben musste. Seine Ignoranz wäre im Kapitol einem Skandal gleichgekommen. Wie unhöflich konnte man sein? Im Gefühl, dass diese Auseinandersetzung sie Geduld und Frustration kosten würde, verzog Effie ihren Mund zu einer Grimasse. Allein auf dem Gang konnte sie niemand sehen und sie somit auch niemand dafür rügen. Dann klopfte sie nochmal. „Haymitch, ich weiß, dass du da drin bist."
„Verschwinde", hörte Effie ihn rufen, doch seine Stimme klang seltsam verzerrt.
Sie stutzte und ließ die Empörung abebben, die bei seiner Antwort durch ihre Adern brodelte. Einen Moment lang hielt sie inne – zählte in ihrem Kopf leise bis dreißig. Als sich weiterhin nichts tat, biss sie irritiert die Zähne zusammen. Im Schutz der Einsamkeit erlaubte sie es sich, sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand zu lehnen. Mit der Perücke auf dem Kopf war es schwierig, eine Position zu finden, die ihren Nacken nicht in Mitleidenschaft zog.
„Es ist nicht sehr höflich, auf diese Weise durch eine geschlossene Tür mit einer Dame zu sprechen", bemerkte Effie schließlich und kam sich unheimlich dumm vor, einen leeren Flur zu unterhalten. Darüber hinaus sagte ihr ihr Bauchgefühl, dass ihre genauso leeren Worte Haymitch Abernathy nicht interessieren würden. Wenn sie in der kurzen Zeit seit ihrer Bekanntschaft etwas gelernt hatte, dann, dass er sich für soziale Normen nicht im Geringsten scherte.
„Ich rede nicht mit dir, du redest mit mir und wenn es dir nicht passt, dann kannst du dich ja verpissen", brüllte er keinen Augenblick später zurück und Effie zuckte vor Erstaunen zusammen. Das hier musste etwas mit ihr persönlich zu tun haben. Es konnte einfach nicht sein, dass das hier sein alltägliches Verhalten widerspiegelte. Niemand würde sich ohne Provokation so benehmen, nicht einmal Haymitch Abernathy.
„Es tut mir leid, falls wir uns auf dem falschen Fuß erwischt haben, aber ich denke, dass wir dieses Gespräch am besten gleich auf das Abendessen verschieben", lenkte Effie schnell ein und machte auf dem Absatz kehrt, um aus seinem Abteil zu fliehen.
Was auch immer es war, was ihn so an ihr aufregte, das hier war nicht er passende Ort, um dies aus der Welt zu schaffen. Trotz allem konnte sie nicht fassen, wie er sie behandelt hatte. Denn auch im Anbetracht eines Konflikts war es eines jeden Pflicht, seine Emotionen beiseitezuschieben und auf sachlicher Ebene zu kommunizieren. Wo käme man sonst hin? Petunia hatte recht, dieser Mann besaß wirklich keine Manieren ...
Deshalb machte Effie sich nicht die Mühe zu verstehen, was der Sieger ihr als nächstes an den Kopf warf. Sie war bereits aus seinem Abteil verschwunden.
oOo
Sobald Haymitch die Flasche an seine Lippen gesetzt hatte, wusste er bereits, dass er es nicht zum Abendessen schaffen würde. Er machte sich nichts daraus. Auch nicht, als Effie Trinket plötzlich an seiner Tür klopfte und irgendetwas von ihm wissen wollte. Er wimmelte sie ab, hatte keine Lust, sich mit ihr über irgendwelche Strategien zu unterhalten, die sowieso nichts bringen würden, weil die beiden Tribute es sowieso nicht weiter als zum Füllhorn schaffen würden.
Haymitch verstand diese Frau nicht, wie konnte sie so etwas nicht wissen? Schließlich musste sie sich die Spiele doch jedes Jahr angeschaut haben, oder nicht? Von daher hätte sie doch ahnen müssen, wie es jedes Jahr aufs Neue mit den Tributen von Distrikt 12 zu Ende ging. Oder war sie immer so sehr auf ihre Favoriten fixiert, dass sie die entbehrlichen Tode am Füllhorn, die mittlerweile Routine waren, gar nicht mehr als solche wahrnahm? Wie eine Hymne, welche man schon so lange auswendig aufsagte, dass ihre einzelnen Worte irgendwann an Bedeutung verloren.
Was Haymitch jedoch noch viel schlimmer fand, waren diese geheuchelten Entschuldigungen, die Kapitoler einem andauernd an den Kopf warfen. Ohne überhaupt einen Grund der Entschuldigung zu haben und immer für die banalsten Situationen – während die tatsächlich relevanten Entschuldigungen nie ausgesprochen oder gar in Erwägung gezogen wurden. Die Kapitoler lebten in einer detailverliebten Welt, in der das große Ganze schon vor viel zu langer Zeit verloren gegangen war. Er brauchte keine gekünstelte Höflichkeit, von der sie hofften, ihn milde stimmen zu können. Er brauchte ein Ende dieses Grauens, welches sie nicht einmal als solches erkannten.
Als er nicht zum Abendessen erschien, stattete Effie ihm einen weiteren Besuch ab, jedoch ebenfalls ohne großen Erfolg. Sie war nicht stark genug, um irgendetwas in ihm umzustimmen. Neben Petunia, die wie ein riesiger aufbrausender Sturm war, war sie nur ein schwacher Wind, der ab und an durchs Land fegte. Oder die Ruhe vor dem Sturm.
Denn keine fünf Minuten später kam Effie mit Petunia zurück. Und diese hatte über die Jahre einige Tricks auf Lager. Zu seinem Verdruss. Denn wenn man es richtig anstellte, konnte man einem Sieger als Eskorte das Leben schwer machen. Und nun zeigte der Drache ihr einen dieser Tricks bereits im ersten Jahr. Effie starrte Petunia an wie eine Heilige, als sie nur einen Satz brauchte, um Haymitch aus seinem Zimmer zu kriegen.
Dieser warf ihnen einen mörderischen Blick zu, als er vorbeischritt und zur Tür torkelte.
„Du tust dich angeschlagener, als du eigentlich bist", fügte Petunia selbstzufrieden und überheblich wie eh und je hinzu. Wenn sie so weitermachte, würde Trinket noch diese Saison zu einer Kopie von ihr mutieren.
oOo
Die Kinder saßen bereits schweigend am langgezogenen Esstisch, ohne sich gegenseitig auch nur eines Blickes zu würdigen. Betrübte Gesichter, die emotionslos geradeaus starrten, ohne die kuriosen Speisen auch nur anzurühren.
Haymitch seufzte als er sie sah, denn sie schienen nicht sehr kooperativ. Stur. Eine Dummheit, die sie das Leben kosten würde.
Sein Seufzen ließ sie aufschauen. Ihre Augen hefteten sich auf Haymitch, der mit grimmigem Gesicht das Abteil betrat, dicht gefolgt von Petunia und Effie. Mit einem weiteren Atemstoß ließ er sich in einen der Stühle ihnen gegenüber fallen. Die beiden Frauen nahmen schweigend ihre Plätze ein. Effie rechts von ihm und Petunia am Kopf des Tisches. Eingekesselt zwischen all diesen bedauernswerten Menschen. Dieses Jahr meinte es echt nicht gut mit ihm ...
Während Haymitch die teils gierigen, teils abwertenden Blicke auf seine Person ignorierte, schnappte er sich das erstbeste an Essen, was ihm ins Auge fiel. Wenn er schon hier sein musste, dann würde er sich sicherlich nicht von den anderen in ihrer Misere beeinflussen lassen. Petunias Aufmerksamkeit schien ihn besonders brennend in Beschlag zu nehmen, aber das war er ja ohnehin gewohnt. Er unterdrückte den Drang, eine vulgäre Geste in ihre Richtung zu machen. Sich gegen Petunias bescheuerte Psychotricks zu behaupten, gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Jedes Mal, wenn es ihr gelang, ihm unter die Haut zu gehen, ging es ihm danach noch miserabler als gewöhnlich.
Ein Kopfsenken eröffnete Haymitch, dass er sich irgendein Steak und eine Beilage auf den goldenen Teller geschaufelt hatte, die er zwar nicht definieren konnte, aber einen unglaublichen Geruch in seine Nase trieb. Dann stibitzte er sich die Weinflasche aus Effie Trinkets Hand, die ihm einen erschrockenen Blick zuwarf, bevor sich ihre Augen zu Schlitzen verengten. Anstatt irgendetwas zu sagen, begann er schweigend zu essen und grinste über ihre Empörung in sich hinein. Ab und an gaben die übertriebenen Reaktionen der Kapitoler schon einen Lacher her.
Das Abendessen zog sich. Kaum jemand sprach. Nur Petunia und Effie unterhielten sich über dies und jenes. Und er saß natürlich zwischen ihnen beiden, sodass sie keine Wahl hatten, als über ihn hinwegzureden. Haymitch tat, als würde er Effies Seitenblicke nicht bemerken. Er verstand ihr Problem nicht. Was hatte sie denn bitte erwartet? Einen glänzenden Sieger, der sich dem beugte, was im Kapitol aufgeschlossen und zeitgemäß erschien? Was zur Hölle hatte Petunia ihr erzählt? Oder was hatte sie ihr nicht erzählt?
Er würde Effie Trinket ganz sicher nicht anders behandeln als andere Leute aus dem Kapitol. Sie besaß keinen Sonderstatus. Sie war genauso schlimm, wie der Rest von ihnen auch. Sie hatte sich für diesen Job als Eskorte entschieden und würde nun mit den Konsequenzen seiner Gleichgültigkeit leben müssen. Das erschien ihm trotzdem nicht als Strafe genug für ihre Unterstützung der Hungerspiele. Es gab keine Strafe, die je genug sein würde ...
„Ach so und das war's jetzt, oder was?", kam es plötzlich vom männlichen Tribut, der Petunia mitten in irgendeiner Erzählung unterbrach. Sie fixierte ihn entrüstet, aber der Junge beachtete sie gar nicht. Fast hätte Haymitch die ganze Sache amüsant gefunden, wenn sein Blick nicht ausschließlich auf ihn gerichtet gewesen wäre, der sich gerade sein zweites Glas einschenkte.
Haymitch hob fragend die Augenbrauen, jedoch ohne ihn anzusehen. „Hast du ein Problem?"
„Und ob ich ein Problem habe", zischte dieser wütend und ließ seine Gabel sinken. Das Mädchen warf ihm einen unschlüssigen Seitenblick zu. „Mir war ja bekannt, dass Sie nichts weiter als ein Trunkenbold sind, Abernathy, aber–"
„Raymond, richtig?", fuhr Haymitch dazwischen. Seine Stimme war nicht laut und schien trotzdem den ganzen Raum zu durchdringen.
Petunia hörte auf zu essen und Effie schnaubte aufgebracht. „Ramon, Haymitch", brachte sie unter zusammengepresstem Kiefer hervor und das Feuer in ihren Iriden war mörderisch. Dass er sich den Namen seiner Tribute nicht gemerkt hatte, nahm sie wohl persönlich. Natürlich. Das Kapitol stellte sich immer in die Opferrolle.
Haymitch, der sich schon lange nicht mehr die Mühe gemacht hatte, sich irgendwelche Namen zu merken, zuckte nur indifferent die Schultern und beugte sich über den Tisch. „Ramon. An deiner Stelle würde ich lieber die Klappe halten. Denk mal darüber nach: Du, ganz allein in der Arena. Dir ist heiß, deine Kehle ist trocken wie Schmirgelpapier und du hast einen höllischen Durst, aber nichts zu Trinken weit und breit. Was glaubst du, wer dir in so einer Situation helfen kann?"
Ramons Gesicht verdüsterte sich von einem Moment auf den nächsten und er öffnete den Mund, als läge ihm etwas auf der Zunge, doch Haymitch war bereits fortgefahren. Er war zu betrunken, um sich für die Gefühle dieses Kindes zu scheren. „Ich, du Nervensäge. Ich, Haymitch Abernathy. Der Mentor von Distrikt Zwölf. Du willst überleben? Dann halt die Klappe, geh mir nicht auf die Nerven und halt dich aus meinen Trinkangelegenheiten raus."
Eigentlich hatte Haymitch nicht erwartet, dass Ramon noch etwas erwidern würde. Die Einschüchterungsnummer klappte auch bei den aufdringlichsten Tributen. Nicht heute. „Na klar, wir haben ja bei meinem Bruder gesehen, wie gut das funktioniert hat."
Das Schweigen, welches folgte, war für beide Seiten überraschend. Haymitch starrte Ramon an und Ramon starrte furchtlos zurück. Ein ziemlich ungutes Gefühl machte sich in seinem alkoholisierten Magen breit. Effie war die Erste, die sich aus der Starre löste. „Ich glaube nicht, dass wir–"
„Dich Kapitolabschaum hat aber niemand gefragt", zischte Ramon und brachte sie mit seinem einfachen, feindseligen Starren zum Schweigen. Es war nicht zu übersehen, wie wenig Respekt er dem Kapitol entgegenbrachte.
Haymitch spürte den Zorn, der in ihm aufzukochen drohte. Er sah, wohin das hier führen würde. Und die Tatsache, dass er bereits einiges an Alkohol im Blut hatte, machte die Angelegenheit nicht einfacher. Mit zusammengepressten Lippen lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und musterte den Jungen schweigend. „Dein Bruder?"
„Der Zwölfjährige von letztem Jahr."
„Er hätte es sowieso nicht geschafft", murmelte Haymitch und doch war er überrascht, dass er sich nicht mehr an den Jungen erinnern konnte. An die Spiele von letztem Jahr konnte er sich so gut wie gar nicht mehr erinnern. Wenn er sein Hirn durchstöberte ... hatte er kein klares Bild vor seinem geistigen Auge.
Über die Jahre hatten sich die Spiele zusammengemixt, waren zu einem Wirrwarr einzelner, herausstechender Momente verschmolzen. Die Jahre nach seinem Sieg waren verschwommen wie all die Erinnerungen an die Zeit davor – seine Familie, sein Mädchen, das Leben, welches er vorher geführt hatte. Denn das war das einzige, in dem Haymitch gut war: So viel trinken, dass er vergaß.
Zu seiner Scham konnte er nicht einmal sagen, wann und wie der Junge von letztem Jahr gestorben war – als hätte er nicht einmal existiert. Deswegen hatte ihn Ramons Mutter vorhin auch so angesehen. Voller Verachtung. Ein Teil von ihm litt unter diesem beklemmenden Gefühl, welches nur durch den Alkohol gedämpft wurde. Es machte ihn fertig, zerriss ihn, dass er keinem der Kinder helfen konnte – auch Ramon und dem Mädchen gegenüber fühlte er sich schuldig. Doch er war einfach nicht fähig, ihnen zu helfen. Er konnte nicht. Er würde daran kaputt gehen. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis es ihm irgendwie gelingen würde, sich das Leben zu nehmen. Deswegen hielt er sich raus. Weil er ein egoistischer Feigling war.
„Glauben Sie mir, Abernathy, mir ist klar, dass ich nicht auf Sie zählen kann, aber ich werde schon noch dafür sorgen, dass Ihnen diese Spiele in Erinnerung bleiben", sagte Ramon, als hätte er seine Gedanken gelesen. Der Zorn in seiner Stimme war unüberhörbar, als er sich erhob und zu Effie und Petunia drehte. „Euch allen." Schließlich machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand durch die Tür des Abteils.
Für einen Moment herrschte Stille, bevor sich Effie mit einem unsicheren Lächeln zu Wort meldete. „Das kriegen wir schon wieder hin. Sicher nur eine leere Drohung. Er hat gerade einfach nur viel zu verarbeiten", meinte sie und schaute zu Petunia, die abwesend nickte.
Im weiteren Verlauf des Essens blieb Haymitch still. Jeder Versuch Effies, ein Gespräch mit ihm und dem Mädchen anzufangen, schlug fehl. Kurz darauf setzten sie sich alle gemeinsam vor den Fernseher und sahen sich schweigend die Wiederholung der Ernten an. Alles in ihm schrie, sich auf und davon zu machen, aber Petunias jüngste Drohung schwebte noch über seinem Kopf. Und so fehlten ihm die Optionen.
„Die Tribute aus Eins bis Vier sind stark", bemerkte Petunia resigniert. Effie biss sich unwissentlich auf die Unterlippe und das weibliche Tribut, dessen Namen Haymitch auch nicht kannte, spielte mit ihren Fingern, um nicht auf den Bildschirm gucken zu müssen. Für eine Dreizehnjährige hielt sie sich relativ gut, wie ihm auffiel. Nicht, dass es etwas ändern würde.
Zwei Freiwillige aus Distrikt 1, wohlgenährt und gut gebaut, ebenso wie in 2 und 4. Sogar 3 hatte dieses Jahr eine recht gute Ernte.
Dann Distrikt 12. Effie begann sofort zu plappern und bombardierte Petunia mit Fragen, wie sie sich gemacht hatte. Petunia versicherte ihr halbherzig, dass sie sich für ihr erstes Mal wirklich gut präsentiert hatte. Natürlich war das alles, was zählte, was relevant war. Bemerkten die beiden die verstörten Blicke des Mädchens überhaupt, die ihren schlimmsten Albtraum nun erneut durchleben musste?
Haymitch seufzte, stand auf und verschwand ohne ein weiteres Wort. Dieses Schauspiel würde er sich nicht weiter geben. Sollte Petunia doch Worten Taten folgen lassen. Und wenn schon, irgendwie kam er immer an Alkohol. Ansonsten campierte er einfach die gesamte Saison auf Chaffs Etage.
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Effie wusste, dass Distrikt 12 es, im Angesicht mit sehr starken Tributen aus den ersten vier Distrikten, eher schwer haben würde, aber sie gab die Hoffnung nicht auf. Schließlich lag es an ihr und Haymitch, das Blatt zu wenden, sobald die beiden Tribute erst einmal in der Arena waren. Und von Ramon konnte sie sogar sagen, dass er das Füllhorn überleben könnte. Er war schlau, keine Frage, das hatte sie daran erkannt, wie er Haymitch ohne jeden Zweifel angesehen hatte. Berechnend.
Effie erhob sich. „Soll ich dich auf dein Zimmer begleiten?", fragte sie Elowen. Natürlich musste sie beide Tribute gleich behandeln. Und wer konnte schon sagen, dass in dem jungen Mädchen nicht vielleicht ebenfalls etwas steckte? Obwohl ihr Anblick recht unschuldig wirkte. Sie war ein süßes Mädchen.
Elowen nickte und folgte Effie. „Werden wir eine Strategie haben?", fragte sie plötzlich, als sich die Tür zum Esszimmer hinter ihnen geschlossen hatte. Es war das erste Mal, dass Elowen sie direkt angesprochen hatte, ohne vorher eine Frage gestellt bekommen zu haben. Effie schaute sie erstaunt an. „Ich meine, wir müssen doch irgendwie vorgehen, oder? Ramon ist groß und stark und schert sich nicht sehr dafür, aber ich könnte mehr davon profitieren", fügte sie leise zu.
Effie wiegte kurz ihren Kopf nach links und nickte dann mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Keine Sorge, Liebes, wir werden uns auch für dich etwas einfallen lassen." Es war keine Lüge. Sie würde keines der Tribute im Stich lassen. Das hatte niemand verdient. Das Beste aus ihnen hervorzubringen war genau ihre Aufgabe, die Effie sehr ernst nahm.
Elowen blieb vor ihrer Zimmertür stehen und musterte Effie aus ihren tiefgrünen Augen. Skeptischer als jemand in ihrem Alter in der Lage sein sollte. „Aber ohne Haymitch kriegen wir das nicht hin. Er kennt sich aus. Er weiß, worauf es ankommt."
„Ich werde ihn schon überzeugen", sagte Effie und steckte ihr eine wirre, blonde Haarsträhne hinters Ohr. Eine Geste ihrer eigenen Mutter, die sie selbst als Kind immer tierisch genervt hatte. Jetzt, wo sie plötzlich in der anderen Rolle steckte, kam sie ihr fürsorglicher vor, als es ihr damals den Eindruck gemacht hatte. Fürsorglicher, als Effie eigentlich im Plan gehabt hatte. Sie hatte bereits einen freundlichen, aber bestimmten Kommentar auf den Lippen gehabt, um Elowen darauf hinzuweisen, mehr auf ihre Haare zu achten. Irgendwie kam ihr dieser mit einem Mal unangebracht vor ...
Elowen zuckte kaum merklich vor Effies Berührung zurück, was eine völlig andere Emotion in ihr auslöste. Verwunderung. Kränkung. Scham? Fürchtete sich das Mädchen etwa vor ihr? Wieso? Dafür gab es keinen Grund ... Ihre großen, runden Augen schienen Effie beinahe zu durchdringen.
„Versprochen?" Für ein so junges Alter war sie unglaublich reif und ernst. Viel weiter als Effie selbst damals gewesen war.
Gleichzeitig war Effie sich bewusst, dass es sehr viel Mühe kosten würde, dieses Versprechen zu halten. Schier unmöglich. Haymitch schien eine sehr schwierige Person zu sein und hatte bisher noch keinerlei Interesse an den Tributen selbst oder den Spielen gezeigt. Obwohl es seine Aufgabe war. Seine Pflicht.
Doch Effie konnte dem Kind dieses Versprechen nicht ausschlagen. Schließlich war es ihre eigene Pflicht, den Tributen so gut wie es ging zu helfen, egal was Haymitch sich in den Kopf gesetzt hatte. Und Elowen verdiente es. Sie war freundlich, liebenswert und hatte sie höflich um Hilfe gebeten. Deshalb war vollkommen klar, was Effies Antwort war.
„Versprochen."
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Wie hat es euch gefallen? Ich bin etwas spät dran, weil ich im Urlaub bin. Tut mir leid :(
Liebe Grüße
Skyllen
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