26.2. The Only Exception

Song Inspo für dieses Kapitel: Sign of the Times, Apologize, Space Song

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„Haymitch." Effies Stimme war kaum ein Flüstern und doch zuckte Haymitch zusammen. Er hatte sie also tatsächlich nicht gehört.

Haymitch drehte sich taumelnd zu ihr herum und Effies Kehle entsprang ein überraschter Laut. Sie eilte auf ihn zu und wäre dabei fast über die Scherben gestolpert, die überall um ihn verteilt auf dem Boden lagen. Seine rechte Hand blutete und indem er sich mit dem Arm gegen das Fenster gelehnt hatte, war auch das Glas dort blutverschmiert, wo seine Finger es berührt hatten. Effies Augen schweiften über seine Erscheinung zu den Scherben auf dem Boden und dann zu den Ausstellungskästen, die im Abstand mehrerer Meter aufgestellt waren. Sie hatte vorher nicht darauf geachtet, was dort ausgestellt wurde. Ihr Fokus lag auf der nächsten Vitrine, dessen quadratförmiger, gläserner Schutzmantel in tausende kleiner, funkelnder Partikel aufgeplatzt war. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung was passiert war, verzichtete aber darauf, Fragen zu stellen.

„Das muss saubergemacht werden", sagte Effie mit leiser Stimme und begutachtete seine Hand mit vorsichtigen Berührungen. Eine tiefe Wunde zierte die Rückseite seiner Handfläche und das Blut quoll schnell daraus hervor, aber Haymitch schien es kaum zu bemerken. Es musste die Stelle sein, mit der er das Glas zuerst durchbrochen hatte.

„Du ruinierst dein Kleid", sagte Haymitch in mechanischem Ton und starrte auf die hellroten Flecken, die sich auf den blumenförmigen Stickmustern ausbreiteten, dort, wo sein Blut auf ihr Kleid tropfte.

Effie schüttelte nur den Kopf, ihre Finger mittlerweile selbst blutgetränkt. „Wir müssen damit zum Arzt, ich kann da unmöglich nur ein Pflaster draufmachen." Haymitchs Hand zitterte zwischen ihren Fingern und Effie musste dem Drang widerstehen, sie zu drücken, weil sie fürchtete, die Glassplitter dann tiefer in seine Haut zu bohren.

„Es tut mir leid", murmelte Haymitch, ohne sich zu bewegen. Er schien kein Interesse daran zu haben, die Blutung zu stoppen.

„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Haymitch", antwortete Effie und lehnte den Kopf in den Nacken, um in seine silbernen Augen schauen zu können. Seine gesamte Erscheinung wirkte steif und träge, als wäre er gar nicht wirklich hier. Der Blick in seinen Augen war leer, verlassen. Der Anblick trieb Tränen in ihre eigenen Augen. „Ich will nicht sagen, dass sie es verdient hat, aber ... das was sie gesagt hat ... ich weiß nicht, was du alles durchmachen musstest, ich kann es mir kaum vorstellen. Aber ich kenne dich und ich weiß, dass du es nicht verdient hast. Es tut mir so leid."

Es war als würden Effies Worte wieder etwas Leben in Haymitchs Augen hauchen. Er senkte den Kopf in ihre Richtung und hob seine andere Hand, die bis dahin nutzlos an seinem Körper herabgehangen hatte. Seine kühlen Finger strichen über ihre Wange und mit einem Mal musste Effie die Luft anhalten, um nicht vor Überraschung aufzukeuchen. Vom einen auf den anderen Moment schien die Zeit stehenzubleiben. Effie suchte Haymitchs Augen, tausende Fragen in ihrem Kopf, auf die sie wahrscheinlich nie eine Antwort erhalten würde. Leid spiegelte sich in seinen dunklen Pupillen, doch noch etwas anderes mischte sich in den Ausdruck. Ein Verlangen, für das sie keine Worte fand.

Haymitch beugte sich in ihre Richtung und Effie öffnete beinahe automatisch die Lippen. Eine ihrer Hände flog hoch in seinen Nacken, um ihre Finger in den Saum seines Sakkos zu krallen, während er seinen Körper gegen ihren drückte und sie einen Schritt zurücktaumelte, bis ihr Rücken gegen den verbrochenen Schaukasten stieß. Das Glas knisterte unter ihren Absätzen, doch das kümmerte Effie nicht. Haymitch atmete in sie hinein und schlang seine Arme in einer solch plötzlichen Bewegung um ihren Rücken, dass sie zusammengezuckt wäre, wenn die aufkeimende Hitze in ihrer Brust nicht jede andere Gefühlsregung vernebelt hätte.

Haymitchs Lippen glitten über ihre und der Geschmack von Champagner auf seiner Zunge machte sie verrückt. Sie wusste, dass er nicht betrunken war. Den ganzen Tag schon hatte er kaum etwas getrunken. Weshalb erwiderte er nun also den Kuss, den sie gestern Abend begonnen hatte?

„Haymitch", keuchte Effie und versuchte, Haymitch die Arme auf die Brust zu legen, um ihn ein Stück von sich zu schieben. Doch Haymitch schien das Geräusch, das aus ihrem Mund kam, anders zu deuten. Seine Lippen pressten sich stärker gegen ihre und mit einem Mal sah sie Sterne unter ihren geschlossenen Augenlidern.

Sie wusste nicht, wie lange sie sich küssten; wie lange sie eng aneinander geschlungen dastanden und mit den Händen den Körper des anderen erforschten. Jede Faser von Effies Körpers schrie nach mehr, wollte weitermachen. Es fühlte sich richtig an. Trotzdem zwang sie sich, ihren Kopf nach hinten zu lehnen. Haymitchs Hände strichen über ihren Rücken, fuhren hoch zu ihrem Nacken, um sie wieder in seine Richtung zu ziehen.

„Haymitch, warte", brachte Effie hervor und bekam die beiden Worte kaum aneinandergereiht. Ein amüsiertes Schmunzeln breitete sich auf Haymitchs Gesicht aus, welches sie mit einem fieberhaften Blick erwiderte. Sie fühlte sich wie in Trance versetzt, als wäre sie auf einem Trip, der all ihre Nerven zu vernebeln und verzerren schien.

„Warte", sagte sie erneut und strich Haymitch die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, die ihm über die Stirn gefallen waren. Haymitch lehnte sich gegen ihre Berührung wie eine Katze und schien die Welt genauso vergessen zu haben, wie sie. Wo Effie in der Vergangenheit die Barriere von Kapitol und Distrikt gesehen hatte, war nichts als heißes Begehren. Sie konnte nicht sagen, wo es herkam. Alles was sie wusste war, dass es sie erleichterte. „Du musst deine Hand behandeln lassen. Am Ende verblutest du noch."

Effie befreite sich aus Haymitchs Armen und trat einen Schritt zur Seite. Seine Wunde hatte nicht aufgehört zu bluten. Ein Blick an ihr herunter machte ihr klar, dass auch sie voll von seinem Blut war. Sie wollte gar nicht wissen, wie ihr Rücken aussehen musste, dort musste es den meisten Schaden angerichtet haben.

Haymitch schnaubte, nickte aber widerwillig. Das leidenschaftliche Funkeln verschwand langsam aus seinen Augen, als auch er sie näher betrachtete. „Sie werden denken, dass ich versucht habe, dir was anzutun."

Effie zuckte mit den Schultern und zog ihn an seiner intakten Hand hinter ihr her. „Darüber können wir uns später Gedanken machen."

oOo

Zur Diskretion aller Beteiligten befand sich das Krankenzimmer der Sponsorenlounge einige Etagen unter den offiziellen Räumlichkeiten. Auf Feiern, auf denen es nicht selten hoch herging und verschiedene bekannte Parteien aufeinandertrafen, geschahen ab und zu Dinge, die es zu verarzten gab. Nicht selten spielte ein zu hoher Alkoholpegel dabei eine Rolle. Der Gedanke brachte Effie auf eine Idee. „Tu so als wärst du betrunken", wies Effie ihn an, als sie die Tür öffnete und mit Haymitch im Schlepptau die Praxis betrat.

Haymitch warf ihr einen resignierten Blick zu, folgte aber ihrer Anweisung. Er ließ seine Schritte extra träge wirken und machte sich einen Spaß daraus, Effie sein Gewicht auf den letzten Metern bis zum Anmeldeschalter aufzudrücken. Er konnte das genervte Seufzen hören, das sie zu unterdrücken versuchte und grinste breit.

Hinter dem Tresen breitete sich Unruhe aus und ein Avox kam Effie mit Haymitchs Gewicht zur Hilfe. Ein großgewachsener, dürrer Mann in weißem Kittel trat aus dem Nebenzimmer direkt auf die beiden zu. „Lass ihn dort auf der Liege nieder", wies er den Avox an und wandte sich dann Effie zu. „Was ist geschehen?"

„Ich weiß es nicht genau, er muss zu viel getrunken haben. Ich war in einem Sponsorengespräch als ich darüber informiert wurde, dass er in einen Streit mit einem anderen Sieger geraten ist", begann Effie zu reden. Ihre Stimme hatte einen erzwungen hysterischen Ton angenommen. Sie gab sich Mühe, ihren Körper zittern zu lassen. „Ich habe ihm nur ganz kurz den Rücken zugedreht und dann war er plötzlich weg. Sie kennen ja vielleicht die Geschichten ... Haymitch Abernathy aus Distrikt Zwölf. Ich dachte, er hätte seine Trinkerei im Griff. Ich habe ihn kaum vom Boden hochbekommen. Überall waren Glassplitter und Blut ..."

„Miss Trinket, korrekt?", fragte der Arzt und huschte mit schnellen Schritten zu einem Metallschrank, der in der hinteren Ecke des kleinen Raums stand, in dem der Avox Haymitch niedergelassen hatte. Nun saß er zusammengesunken auf der medizinischen Liege und strengte sich an, so betrunken wie möglich auszusehen. Er schwankte mit seinem Oberkörper vor und zurück, als wäre er kurz davor, die Balance zu verlieren und Effie konnte ihr Schmunzeln kaum unterdrücken. Sie nickte stumm und drückte Haymitch eine Hand an die Schulter, um ihn aufrecht zu halten. „Machen Sie sich keine Sorgen, die Wunde habe ich schnell wieder zusammengeflickt."

„Sie sind meine Rettung", seufzte sie einige Oktaven zu schrill.

Der Arzt hob Haymitchs verletzte Hand hoch und begutachtete sie für kaum mehr als einige Sekunden, bevor er ein Desinfektionsmittel auf die Haut sprühte. Ein ätzender Geruch stieg Effie in die Nase. „Nur eine Fleischwunde, bis morgen ist davon nichts mehr zu sehen."

„Das erleichtert mich über alle Maßen", sprudelte es aus Effie heraus und fuhr dann in einem Monolog über die Hilflosigkeit ihrer Situation fort, während der Arzt Haymitchs Wunde reinigte und verband. Er schien erpicht darauf zu sein, sie so schnell wie möglich loszuwerden und war nicht im Entferntesten daran interessiert, sich ihr Gerede anzuhören. Als sie die Praxis schließlich nach einer ihrer langanhaltenden Dankensreden verließen und die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, seufzte Effie in echter Erleichterung auf und presste die Lippen aufeinander. Haymitch warf ihr einen dunklen Blick zu.

„Endlich" sagte er gereizt. „Deine Stimme bereitet mir Kopfschmerzen."

Effie schnaubte und harkte sich bei ihm ein. Sie sprachen nicht, bis sie das Untergeschoss erreichten, wo ihr Fahrer auf sie wartete und beim Anblick von Haymitchs Verband nicht einmal mit der Wimper zuckte. Für einen Augenblick wunderte sich Effie, ob es wohl nicht das erste Mal für ihn war, den Abend in einer solchen Situation zu beenden.

Der Wagen setzte sich schnell in Bewegung und ließ Effie und Haymitch in einer Blase aus bedrücktem Schweigen zurück.

„Eine Sache, die du zu Petunia gesagt hast, stört mich", bemerkte Effie nach einer Weile der Stille. Bis dahin hatte sie nur stumm aus dem Fenster gestarrt, auf die dunkle Stadt mit den hellen, bunten Lichtern, und seinen Arm ignoriert, den er hinter ihrem Sitz ausgebreitet hatte. „Es ist nicht die Aufgabe einer Eskorte, ihrem Sieger das Leben zu erleichtern. Auch wenn das bei dir zwar weitgehend zutrifft, weil ich vieles von dem mache, was eigentlich deine Aufgabe wäre. Meine Kompetenzen gehen weiter, als dich zu babysitten."

„Das weiß ich, Süße", murmelte Haymitch und die Finger seiner ausgestreckten Hand glitten hinter ihrem Rücken zu den Strähnen ihres blonden Haares, das sich in ihrem Nacken kräuselte. „Du kannst dich nicht mit Petunia vergleichen. Das ist nicht dasselbe, sie hat nichts getan im Vergleich zu dem, was du tust."

Effie nickte, zufrieden mit seiner Antwort. Mehr wollte sie nicht hören. Es interessierte sie nicht, wie seine vergangenen Jahre mit ihr ausgesehen hatten. Die Eskalation heute war Hinweis genug. Sie wusste nicht einmal, ob sie über das reden wollte, was heute geschehen war. „Du musst lernen, deine Gefühle unter Kontrolle zu halten. So etwas wie heute kann nicht nochmal passieren."

„Meintest du nicht eben noch, dass es nicht meine Schuld ist?", knurrte Haymitch, seine Finger verharrten in ihrem Haar.

„Es ist nicht deine Schuld", wiederholte Effie sich und drehte den Kopf in Haymitchs Richtung, um ihm in die Augen schauen zu können. Die Erinnerung an seinen Streit mit Petunia hatte den Zorn zurück in sein Gesicht gebracht. „Aber Gewalt ist keine Lösung, Haymitch. Was, wenn du es nicht geschafft hättest, die Kontrolle zurückzugewinnen? Du hättest sie töten können."

„Das wollte ich auch", gab Haymitch zu und setzte seine Finger wieder in Bewegung. Sie strichen in einem langsamen, einlullenden Rhythmus über ihren Hinterkopf und Effie musste gegen die Müdigkeit ankämpfen, die sich in den Vordergrund drückte.

„Ich weiß nicht, was ich hätte tun sollen, wenn du es getan hättest." Nun hatte Effies Stimme tatsächlich einen leicht hysterischen Klang angenommen. „Ich glaube nicht, dass ich damit klargekommen wäre."

„Ich weiß und es tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst einjagen."

„Ich habe keine Angst", sagte Effie und schloss die Augen. „Zumindest nicht vor dir." Sie lehnte ihren Kopf gegen seinen Arm und ließ sich von der Erschöpfung übermannen, die der heutige Tag mit sich gebracht hatte. Wie aus weiter Ferne spürte sie Haymitchs Arm, der sich von der Lehne fortbewegte, nur um sich einen Augenblick später um ihren Rücken zu legen. Die Wärme seines Körpers entspannte sie. Sie hatte keine Angst vor ihm, nein. Seitdem ihre Reise in den Hungerspielen begonnen hatte, hatte sie sich nirgends so sicher gefühlt, wie in seiner Nähe.

Es dauerte nicht lange, bis Effie an seiner Schulter eingeschlafen war. Haymitch beobachtete ihre friedlichen Gesichtszüge, während sie vor sich hindöste. Sie sah wunderschön aus, mild und liebenswert, so frei von dem Schock, den er heute lange genug in ihrem Gesicht gesehen hatte. Mit seiner freien Hand strich er ihr sanft die Haare aus dem Gesicht und fragte sich im selben Moment, wie er es so weit hatte kommen lassen können. Das zwischen ihnen als Affäre zu bezeichnen, von denen andere Sieger manchmal erzählten, kam ihm aus mehreren Gründen nicht richtig vor. Zum einen war kaum etwas zwischen ihnen passiert, bis auf die wenigen Küsse, die sie geteilt hatten. Zum anderen hatte das Wort eine negative Konnotation, die ihm nicht gefiel.

Es fühlte sich anders an. Er mochte Effie und es war nicht nur ihre körperliche Anziehungskraft, von der er sich hingezogen fühlte. Das war es, was ihm Angst machte. Denn seit seinen Spielen hatte Haymitch niemanden in sein Inneres schauen lassen. Auch sie hatte keine Ausnahme sein sollen, doch Effie hatte seine Mauern so leicht überwunden, dass er es für eine ganze Weile nicht einmal bemerkt hatte.

Haymitch fragte sich, ob Chaff und Mags mit ihren Warnungen nicht vielleicht recht hatten. Er wusste nicht, was er hier tat und auch wenn er jede Sekunde davon genoss. Effies Nähe fühlte sich gut und richtig an, aber gleichzeitig wurde er das Gefühl tief in seinem Magen nicht los, dass er einen Riesenfehler beging.

Effie bewegte sich in seinen Armen. Ihr Kopf rutschte weiter seine Schulter herab und Haymitchs Körper bewegte sich instinktiv in dieselbe Richtung, um sie nicht aufzuwecken. Er musste ein Seufzen unterdrücken als er in ihr schlafendes Gesicht schaute. Jetzt war es also geschehen: Sie waren über den Rand von Messers Schneide gefallen und er hatte nicht die Kraft, das Richtige zu tun. Auch wenn er seine Gefühle nicht verstand und sie am liebsten einfach ignorieren wollte, war Effie, hier und jetzt, alles was er wollte. Er wusste, dass es ihr genauso ging. Er hatte es in den Blicken gesehen, die sie ihm in der Arztpraxis zugeworfen hatte, als sie dachte, niemand würde ihr Beachtung schenken. Haymitch wusste, dass sie genauso verwirrt war, wie er. Er hoffte nur, dass sie nichts hiervon bereuen würden.


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Hi,

sorry dass ich so lang auf mich hab warten lassen. Ich war im Urlaub zwischendurch. Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen!

LG

Skyllen :)

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