26.1. The Only Exception

Song Inspiration für dieses Kapitel: Sign of the Times – Harry Styles, Apologize – Timbaland (feat. One Republic), Space Song – Beach House

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The Only Exception

„Womit kann ich Ihnen zu Diensten sein, mein Prinz?", lallte Chaff. Effie fragte sich, ob Haymitch letztes Jahr zu dieser Zeit in demselben Zustand gewesen war. Haymitch ignorierte Chaffs Witzeleien, sein Gesicht blieb ernst, was die Aufmerksamkeit seines Freundes erregte. Mit einem Mal schlich sich ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht, als würde ihm bereits ein Gedanke durch den Kopf schießen. „Im Ernst, was ist das Problem?"

„Petunia ist das Problem", erwiderte Haymitch, beugte sich dann vor und flüsterte Chaff etwas ins Ohr. Obwohl sie ein gutes Stück von den vielen Menschen in der Lounge entfernt waren, hatte Effie keine Chance, Haymitchs Worte zu verstehen.

Belustigung funkelte in Chaffs Augen als er den Kopf zurückzog und Haymitchs ernsten Blick traf. „Es wäre mir ein Vergnügen", grinste er und verschwand mit schnellen Schritten zurück zur Bar.

„Was hast du ihm erzählt?", fragte Effie und starrte zu Chaff, der sich mit einem weiten Grinsen über den Tresen lehnte und mit einem der Avoxe sprach.

„Das wirst du jetzt gleich sehen", erwiderte Haymitch und konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel sich nach oben bewegten.

Chaff setzte sich wieder in Bewegung. Mit seiner gesunden Hand balancierte er ein vollbeladenes Serviertablett auf dem sich Gläser mit buntem Alkohol tummelten. Effie konnte Haymitchs Kichern neben sich vernehmen und fragte sich, was er so amüsant fand, dass er seine Wut so plötzlich vergaß. Es dämmerte ihr einige Momente später, als Chaff sich seinen Weg durch die Menge aus Sponsoren, Mentoren und Eskorten bahnte, geradewegs auf Petunia zu. Erst als er schon fast vor ihr stand, nahm sie Chaff überhaupt zur Kenntnis und ihre Augen weiteten sich verwirrt, als sie das riesige Tablett sah. Dann stolperte Chaff. Zumindest hatte es wie ein Stolpern wirken sollen. Eigentlich gab er dem Tablett nur einen kleinen Stups. Eine Sekunde später ergossen sich die Getränke auf Petunia, die einen quiekenden Schrei von sich gab und nach hinten auswich. Die Gläser fielen berstend zu Boden und zersprangen in tausende kleiner Splitter. Die Menschen, um Petunia, drehten sich erschrocken zu ihr um. Chaff hob mit entschuldigender Geste die Arme in die Luft, konnte das Lächeln auf seinen Lippen aber kaum verbergen. Haymitch begann zu prusten. Selbst Effie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„War das deine Idee?", fragte Effie und lachte in sich hinein.

Haymitch lächelte zu ihr herunter und lehnte sich ein wenig in ihre Richtung. „Ich habe Chaff kreativen Freiraum gelassen und ich finde, er hat ihn ganz gut genutzt."

„Das hat er tatsächlich."

Chaff hatte mittlerweile seinen Rückzug angetreten und war an der Hälfte der Menschen vorbei, als Petunia ihren peinlichen Schock überwand und Chaff nachstarrte. Sie kannte ihn natürlich aus Jahren der vielen Trinkabenden der beiden Sieger im Penthouse von 12. Ihre funkelnden grünen Augen folgten Chaff und landeten schließlich auf Haymitch und Effie auf der anderen Seite der Lounge. Als sie Haymitchs zufriedenes Lachen sah, verdunkelte sich die Farbe ihrer Wangen schlagartig. Petunia sah wütend aus. Wie ein wildes Tier, das jeden Moment seine Fassung verlieren würde. Ihre Füße setzten sich von der einen auf die andere Sekunde blitzschnell in Bewegung, während ihr Blick weiter auf Haymitch fixiert war.

„Haymitch ..." Der Rest des Satzes blieb Effie im Halse stecken, denn Petunia bewegte sich so schnell durch die Menge, dass sie die beiden schon beinahe erreicht hatte.

„Komm schon", sagte Haymitch mit dunkler Stimme und drehte sich zu Effies Überraschung auf dem Absatz um, um den Eingangsbereich zu verlassen. Effie folgte ihm mit schnellen Schritten, damit Petunia sie nicht einholte.

Der Flur zu den Aufzügen war verlassen und die andauernde Stille bildete einen ungewöhnlichen Kontrast zu dem lautstarken Gefeiere und Gejubel von nebenan. Das dumpfe Gelächter und Gerede, das aus der Lounge hergetragen wurde, klang seltsam verzerrt und so weit weg, als hätte man eine andere Welt betreten. Haymitch blieb am Ende des Ganges stehen, der sich dort nach links gabelte. Vor ihm befand sich nichts als Glas. Dahinter lag das Kapitol, das wie ein Diamant in der Nachmittagssonne glänzte. Haymitch drehte sich zu Effie, doch seine grauen Augen schweiften über sie hinweg, zu einer Bewegung hinter ihren Schultern. Effie blieb neben ihm stehen, starrte eine lange Sekunde hinunter auf die Stadt und drehte sich dann zu Petunia, die sich mit Zornesröte im Gesicht an Haymitch heranpirschte.

„Wie kannst du es wagen", fauchte sie, jede vorgetäuschte Freundlichkeit von eben verschwunden. „Dieses Kleid ist mehr wert als dein gesamter Distrikt!"

Haymitch lachte ein bitteres Lachen und lehnte sich so selbstgefällig gegen die Fenster, als wäre er sich sicher, dass sie niemals unter ihm brechen würden. „Diesen Kapitolbullshit kannst du dir sparen", sagte er in desinteressiertem, finsterem Tonfall, den Effie noch nie aus seinem Mund gehört hatte. Jede Emotion, jedes Leben, war aus seiner Stimme verschwunden. Alles was zurückblieb, war eine Bedrohlichkeit in seinen Worten, die ihr die Nackenhaare sträubte. „Das eben war eine Warnung, ich hoffe du hast sie verstanden. Wenn du dich noch einmal hier blicken lässt oder ich mitkriege, dass du dich irgendwo negativ über Zwölf, Effie oder mich äußerst, kriegen wir beide ein Problem. Hast du das kapiert?"

„Du kannst mir nichts vorschreiben", zischte Petunia und kam auf Haymitch zu, bis sie direkt vor ihm stand. Mit ihren hohen Schuhen waren sie auf Augenhöhe. Wenn Blicke töten könnten. Ein stürmischer Ausdruck blitzte in Petunias grünen Augen und sie presste die Zähne aufeinander. Ihr Auftreten hatte so wenig mit einer Dame der High Society gemein, dass Effie sich fragte, wie sie diesen brodelnden, missgünstigen Charakter die ganze Zeit hatte verstecken können. „Du magst zwar ein Sieger sein, aber ich lasse mir nichts von einem Mann aus einem Distrikt vorschreiben. Vor allem nicht von einem aus Zwölf."

„Wenn du morgen wieder einen Fuß hier reinsetzt, wird Chaff auch dein nächstes Kleid ruinieren", fuhr Haymitch fort und ignorierte Petunias Provokation. „Du hast hier nichts verloren. Du bist nicht mehr die Eskorte von Zwölf, Gott sei Dank. Du hast nichts mehr zu sagen. Niemand interessiert sich für dich, Petunia."

Ein Fauchen entkam Petunias Kehle und ihre Hand schoss in die Höhe. Effie starrte wie versteinert auf die Szenerie, unfähig sich zu bewegen oder etwas einzuwerfen. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihre Einmischung keine gute Idee. Petunia streckte ihren Zeigefinger in Haymitchs Richtung aus und drückte ihren orangenen Acrylnagel auf seine Brust. Haymitch rührte sich keinen Zentimeter, allein seine Augen folgten ihrer Bewegung. „Du hast gut Reden über die Interessen der Leute. Wenn du dich mal etwas mehr für die Realität interessieren würdest, anstatt dich immer nur ins Koma zu trinken, wüsstest du, dass mein Name im Kapitol durchaus bekannt ist."

„Ja, meinetwegen", lachte Haymitch und verzog angewidert die Lippen. „Man kennt dich nur, weil du mal meine Eskorte warst. Du hast schon immer einem Sieger gedient. Deine einzige Aufgabe bestand darin, mir mein Leben zu erleichtern. Ohne mich würde niemand deinen Namen kennen. Ich würde der Person, die entschieden hat, dass du zu alt und hässlich für diesen Job bist, am liebsten die Füße küssen."

„Dir fehlt jeglicher Respekt vor dem Kapitol, Haymitch Abernathy. Du hast uns dein Leben zu verdanken, hast du das etwa schon vergessen?" Ein unschuldiges, berechnendes Grinsen schlich sich auf Petunias Gesicht. Sie kannte seine Schwachpunkte, genauso wie er ihre kannte.

Ein tiefes Knurren entfuhr Haymitch und mit einem Mal lehnte er sich Petunia entgegen. Ein bedrohlicher Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit und als er den Mund öffnete, um zu sprechen, zeigte er ihr die Zähne. „Ich habe euch einen Scheißdreck zu verdanken."

Für einen langen Moment schwieg Petunia. Sie erwiderte Haymitchs Blick aus harten Augen, schien jedoch für den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. Dann, als würde sie etwas kalkulieren, huschten ihre Pupillen zu Effie herüber. Ihr boshaftes Lächeln weitete sich nur. „Aber, aber, Haymitch. Wärst du lieber in der Arena gestorben? Hättest du dich damals so benommen, wie euer Ramon heute, hätte sich das sicher arrangieren lassen. So wie mit deiner Familie auch, erinnerst du dich?"

Haymitch zuckte. Effie konnte nicht sagen ob vor Überraschung oder Schmerz. Einen Augenblick lang war der Zorn auf seinem Gesicht verschwunden und sie konnte auf den unbändigen, verbitterten, schuldbewussten Mann schauen, der sich unter der Maske aus Arroganz und falschem Charme versteckte. Zu ihrer Überraschung musste sie feststellen, dass ihr dieser nicht vollkommen fremd war. Er musste ihr mehr seines Charakters offenbart haben als sie angenommen hatte. Dann, als die unkontrollierbare Welle des Hasses über Haymitch einfiel, brach Chaos aus.

Sein rechter Arm schnellte nach vorn und packte Petunia am Hals. Eine Sekunde später drückte er sie gegen das gläserne Fenster. Das Bild erinnerte Effie an Ramon, wie er dasselbe mit ihr gemacht hatte. Der einzige Unterschied war, dass Petunias Füße den Boden berührten. „Sag das nochmal und ich schwöre, dass ich dich auf der Stelle umbringe", herrschte Haymitch sie an, der jede Kontrolle verloren hatte.

Hatte Petunia mit einem solchen Angriff gerechnet? Sie schien seelenruhig und lächelte immer noch, obwohl Haymitch ihr die Luft abschnürte. Langsam öffnete sie ihren Mund und keuchte vor Anstrengung. „Du wirst mich nicht umbringen", brachte sie hervor und wieder bewegten sich ihre Augen zu Effie, die mit geweiteten Augen auf Haymitch starrte. Ihre Füße hielten sie immer noch an Ort und Stelle fest. „Du kannst mich nicht umbringen." Petunia lachte ein schrilles, abgehacktes Lachen. „Das würde sie ... dir niemals verzeihen."

Effie brauchte mehrere Sekunden, bis sie begriff, dass ihre ehemalige Ausbilderin von ihr sprach. „Wie kommst du darauf, dass ich einen scheiß darauf gebe?", fragte Haymitch, aber seine Stimme schwankte, als würde er in seinem Kopf einen stillen Konflikt ausfechten. Sein Griff um Petunias Kehle löste sich kaum merklich, aber der älteren Frau fiel es dennoch auf.

„Ich finde es süß, wie du sie ansiehst", sagte sie und lächelte dünn. Sie spielte immer noch mit ihm und schien zu denken, dass sie die Fäden in der Hand hielt. „Ich frage mich nur, was deine tote Freundin davon halten würde. Wenn sie auch nur ein Stück so war wie du, wäre sie sicher angewidert."

Petunias Worte schienen Haymitch die Entscheidung abzunehmen. Der wilde Ausdruck in seinen Augen war zurück und er verzerrte wütend das Gesicht. Er sah aus, als würde er Petunia jede Sekunde in Stücke reißen. Seine Finger schlossen sich stärker um ihre Kehle und sie schnappte nach Luft, der Blick des Triumphes plötzlich verdrängt von einer Angst, als wäre sie sich erst jetzt einer allesentscheidenden Tatsache bewusst geworden.

„Haymitch, hör auf", rief Effie in diesem Moment, die so schlagartig aus ihrer Trance erwachte, als wäre sie von einer Klippe gestürzt und nun auf dem Boden aufgekommen.

Haymitch rührte sich nicht. „Du hättest mir helfen können damals", flüsterte er, seine Stimme voller Kummer. „Du hättest dich für mich einsetzen können. Ich war nur ein Kind."

Petunia schüttelte den Kopf. „Ich ... hätte gefeiert werden sollen ... als du ... damals gewonnen hast, aber wegen deinem ... Stunt in der Arena ist mir das verwehrt geblieben", murmelte Petunia mit schwächelndem Ton. „Beizuwohnen wie du deine Strafe erhieltst, war kaum ... eine Wiedergutmachung."

„Haymitch!" Effie taumelte nach vorne und umklammerte Haymitchs Arm, um ihn von Petunia fortzuzuziehen. Er musste aufhören, bevor er sie tatsächlich umbrachte. Er drehte seinen Kopf halb in ihre Richtung, aber als ihre Augen sich trafen fand Effie dort nichts als einen tiefen, heißen Schmerz. Haymitch stieß sie mit seinem Ellbogen von sich und sie stolperte einige Schritte nach hinten, bevor sie ihre Balance wiederfand.

Petunia lachte ein kehliges Lachen als sie die Szenerie beobachtete, was nur dazu führte, dass Haymitchs Finger sich stärker in ihre Haut bohrten. „Niemand wird sich für deinen Tod interessieren. Was sollen sie schon machen? Ich bin der einzige lebende Sieger von Zwölf. Sie haben keine Wahl, als deinen Tod hinzunehmen."

Petunia schien dies auch schließlich klarzuwerden. Die Farbe ihrer Wangen wurde bleicher und bleicher. Man konnte sehen, wie ihr langsam aber sicher die Luft ausging. „Haymitch, bitte hör auf", bettelte Effie mit hysterischer Stimme. Ihre Finger hatten zu zittern begonnen und sie schwankte von einem Fuß auf den anderen, als würde auch sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren.

Haymitch reagierte immer noch nicht. Als wäre er in seiner ganz eigenen Trance gefangen. Das, was Petunia über seine Familie gesagt hatte, hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen und auch wenn Effie kaum etwas von dem verstand, was die beiden sich an den Kopf geworfen hatten, hatte sie das unangenehme Gefühl, selbst einen Fehler gemacht zu haben. Als hätte sie sich ihm gegenüber nicht richtig verhalten. Sie konnte nicht sagen, weshalb. Es war nicht mehr als ein Bauchgefühl, das ihr Übelkeit bereitet. Der qualvolle Ausdruck auf seinem Gesicht bereitete ihr weitere Übelkeit. Dieser tiefgehende, jahrealte Schmerz schien ihn auseinanderzureißen; schien sein Wesen in eine Person zu verwandeln, welches Effie kaum bekannt vorkam. Sie hatte das Bedürfnis, ihn von Petunia fortzuziehen, ihn von ihr abzuschirmen. Sie konnte nicht sagen, weshalb. Es war nicht mehr als ein Instinkt.

Effies Füße bewegten sich schwankend nach vorne, bis sie halb neben Haymitch stand, den Rücken Petunia zugewandt. „Haymitch", sagte sie erneut und legte ihm ihre Hand auf den Arm, mit dem er Petunia gegen die Wand drückte. „Das bist nicht du. Sie ist es nicht wert."

Haymitchs silberne Augen fuhren von Petunia zu ihr und Effie gab sich Mühe, jeden Funken an Willenskraft in ihren Blick zu legen. Sie drückte ihre Finger stärker gegen den Saum seines Anzugs wollte, dass er ihre Berührung spürte; sich darauf konzentrierte. „Du kennst sie doch. Aus ihrem Mund kommen nichts als Lügen."

Petunia murmelte etwas, aber ihre Worte waren kaum zu verstehen. Effie ignorierte sie, ihre Augen weiter mit Haymitchs verschränkt. Der Zorn auf seinem Gesicht legte sich kaum merklich, verwandelte sich in eine Mischung aus Bedauern und Hoffnungslosigkeit. Er machte so abrupt einen Schritt zurück, dass Petunia beinahe in seine Arme gestolpert wäre. Sie schaffte es jedoch, ihre Balance zu halten und sank dann auf die Knie, keuchend und nach Luft schnappend.

Effie nutzte den Moment von Petunias Orientierungslosigkeit und drückte Haymitch ihre Hände auf die Brust, um ihn weiter von ihr wegzuschieben. Er ließ es zu und machte einige Schritte nach hinten, ihre Gesichter sich so nahe, dass es ihr schwerfiel, den flehenden Ausdruck beizubehalten. Sie wollte, dass der Kummer aus seinen Augen verschwand. „Du bist besser als sie es jemals sein könnte", flüsterte sie, sodass die Worte Petunia nicht erreichen konnten.

Haymitchs Hände umfassten ihre, die immer noch auf seiner Brust ruhten, als würde er sonst nicht die Kraft haben, sich auf den Beinen zu halten. Sie ließ es zu, dass er seine Finger mit ihren verschränkte und drückte sie. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, vor Aufregung und Furcht zugleich. Effie war erleichtert zu sehen, wie der Schleier aus Haymitchs Blick verschwand.

„Ich bin gespannt, was deine Mutter zu deinem Verhalten zu sagen haben wird, junge Dame", kam es von einer schweratmenden Petunia, die sich bemühte, ihre Stimme so würdevoll wie möglich erscheinen zu lassen. Haymitchs Augen glitten zurück zu Petunia und Effie spürte, wie sich seine Muskeln versteiften. „Sie hatte sicher mehr für dich im Sinn als einen alkoholsüchtigen Barbaren aus Distrikt Zwölf."

Effie schnaubte und ließ Haymitch los, um sich zu Petunia zu drehen. Die ältere Frau kam langsam auf die Beine und fixierte Effie mit unverhohlener Wut in den grünen Augen. „Meine Mutter konnte dich noch nie leiden, also erzähl ihr ruhig was du willst", bemerkte Effie in desinteressiertem Ton und trat dann an ihre ehemalige Mentorin heran, die sie unzufrieden musterte. Ihre Stimme nahm einen scharfen Flüsterton an, als sie weitersprach. „Du denkst du kennst mich, Petunia? Dann lass mich eines klarstellen. Nimm noch einmal den Namen meiner Familie in den Mund, äußere dich noch einmal schlecht über Haymitch oder Distrikt Zwölf und ich werde diese Saison unvergesslich für dich machen. Du denkst, du bist gut in diesem Spiel? Ich bin besser, das versichere ich dir."

„Das wirst du noch bereuen", zischte Petunia und starrte Effie zornig in die Augen.

„Das denke ich nicht", erwiderte Effie und schenkte ihr ein breites, gekünsteltes Lächeln. „Ich denke du solltest gehen, bevor ich meiner Mutter noch etwas erzähle, was du später bereuen wirst. Du weißt doch, wie schnell sich Gerüchte verbreiten, wenn Lyssandra Trinket Wind von ihnen bekommt."

Petunia zischte ein letztes Mal, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand mit schnellen Schritten in Richtung der Aufzüge. Zurück in die Sponsorenbar konnte sie in ihrem befleckten Kleid nicht. Effie konnte nur hoffen, dass die Frau sich ihre Worte zu Herzen nahm und in Zukunft nicht mehr hier auftauchte. Sie hatte keine Lust, ihrer Mutter in diese Sache zu involvieren. Lyssandra Trinket war das letzte Geschütz, das Effie auffahren würde, um in dieser Welt zu kriegen, was sie wollte. Ein Mittel, zu dem sie nicht gerne griff, weil sie ihr danach für Wochen ihr eigenes Versagen vor die Nase halten würde. Ihre Mutter war nicht oft auf ihrer Seite, aber wenn es um das Familienansehen ging, kannte sie keine Grenzen. Und dieses gefährdete Petunia mit ihren Lügen und Intrigen.

Eine lange Sekunde starrte Effie hinab auf das Kapitol. Die Sonne neigte sich hinter den funkelnden Wolkenkratzern der Erde entgegen. Für gewöhnlich beruhigte sie der Anblick, ließ ein Gefühl von Zufriedenheit durch ihre Adern strömen. Heute nicht. Mit grimmiger Miene drehte sie sich zu Haymitch um, nur um zu merken, dass auch er verschwunden war. Sie hatte seine Schritte nicht gehört und wusste nicht, ob er bereits während ihres kurzen Wortwechsels mit Petunia die Flucht eingeschlagen hatte oder erst danach.

Der Flur war leer. Wieder war das gedämpfte Gelächter aus der Sponsorenlounge das einzige Geräusch. Effie schlang die Arme um ihre Mitte und eilte dann mit schnellen Schritten den Gang entlang, in Richtung der Lounge und der Aufzüge. Sie kam am Treppenabsatz zum Stehen, unter deren gläsernen Stufen Haymitch gestern seine Panikattacke gehabt hatte. Der kleine Raum, in dem sich die Treppe befand, war ebenfalls leer. Als Effie ihren Fuß erreichte, trat sie hinaus in ein menschenleeres Foyer.

Menschenleer bis auf Haymitch, der auf der anderen Seite des breiten Raumes stand und ihr den Rücken zugedreht hatte. Er hatte seinen Oberarm gegen die Glasscheibe des Fensters gelehnt und vergrub seine Stirn im schwarzen Stoff des Ärmels. Die dünne Schicht aus Glas war alles, was ihn von der Skyline des Kapitols trennte. Als hoffte er, dass sie unter seinem Gewicht nachgeben würde. Seine Finger waren zu Fäusten geballt. Effie war sich nicht sicher, ob er sie bemerkt hatte. Seine Instinkte waren besser als ihre, aber er schien völlig neben sich zu stehen. Sie konnte das Beben seines Körpers sehen. Er sah verzweifelt aus.

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