24.2. A New Beginning
In der Arena neigte es sich langsam dem Abend zu. Die Sonne begann ihren Abstieg hinter den kalten Wäldern im Westen und die ersten Tribute schlugen ihr Lager auf. Da die meisten von ihnen jedoch noch in der Ödnis unterwegs waren, war es nicht schwer, sie aus der Ferne auszumachen. Manche kletterten auf die wenigen, kargen Bäume, die aus der trockenen Erde ragten, um Schutz zu suchen. Andere zündeten kleine Feuer an, deren Rauchschwaden hoch in die Luft zogen und nur dank der eintretenden Dunkelheit nicht jeden im Umkreis mehrerer Meilen alarmierten. Im Moment mussten sie die Karrieros zwar noch nicht fürchten, da diese noch am Füllhorn ausharrten, dumm war es nichtsdestotrotz.
Elowen hatte noch nicht aufgehört zu wandern. Sie erreichte den Dschungel, der wie eine gerade Front aus tropischen Bäumen vor ihr auftauchte, einige Stunden Einbruch der Dunkelheit. Sie ging auf den Wald zu, ohne zu warten oder sich nach Gefahren umzuschauen und nur Sekunden später trat sie in den Treibsand, der dieselbe Farbe wie die übrige Erde um ihn herum besaß. Das Mädchen strauchelte und fiel zu Boden, rappelte sich jedoch flink auf, als ihr klarwurde, worum es sich bei dem Nachgeben des Bodens handelte. Einige qualvolle Minuten lang, rang sie mit ihren Füßen, die dadurch jedoch nur weiter in den Sand gezogen wurden. Laut Caesar Flickerman war er nicht tief genug, um ein Tribut komplett hineinzuziehen, aber man wurde zu einem leichten Opfer.
Als Elowen klarwurde, dass ihr vehementer Kampf nichts bringen würde, änderte sie ihre Strategie. Haymitch sah erleichtert zu, wie sie ihre Füße aus den Stiefeln befreite und sich ohne große Auf- und Abbewegungen zurück zu ihrer Ausgangsposition manövrierte. Erst als sie wieder auf festem Untergrund stand, wagte sie es, ihre Stiefel aus dem Sand zu angeln, die nun nicht weiter eingezogen wurden, da sie kein Gewicht mehr auf sich trugen. Zugegebenermaßen war Haymitch überrascht, dass sie nicht in Panik geraten war, so wie er es vorausgesehen hatte. Ab jetzt ging sie vorausschauender an das Hindernis heran, das sie vom Regenwald trennte und testete den Boden, bevor sie sich vorwärtswagte. Eine knappe halbe Stunde später erreichte sie endlich den Dschungel und kletterte auf den erstbesten Baum, der sich für ihre zierliche Statur aufgrund des Geästs anbot. Sie richtete sich in einer der tieferen Astgabelungen ein und schaute sich achtsam in der Umgebung um. Die dichten Baumkronen, die sich weitere zehn Meter oder mehr in der Höhe befanden, ließen jedoch kaum Mondlicht durch das Blätterdach, sodass ihre Sicht keine wirkliche Hilfe war. Außer dem Schnattern einiger Vögel in der Ferne und dem Zirpen von Insekten im Gestrüpp war der Regenwald um Elowen in Stille getaucht.
„Es ist schon spät", drang eine Stimme an Haymitchs Ohr und ließ den Sieger zusammenzucken. Es war tatsächlich spät. Das merkte er daran, wie hoch sein Alkoholpegel mittlerweile war. Chaff hatte ihn schon vor einer Stunde verlassen, um zum Trainingscenter zurückzukehren, da die Spiele für ihn sowieso gelaufen waren und Effie hatte er den Rest des Tages ebenfalls nicht zu Gesicht bekommen. „Wie ist es bei dir gelaufen?"
Haymitch brauchte ein wenig, um aus seiner Trance zu erwachen. Seine Glieder schmerzten und er fragte sich, wie lange er bereits auf den riesigen Bildschirm geschaut hatte, ohne wirklich zu realisieren, was er da überhaupt verfolgte. Er hatte sich eigentlich nur versichern wollen, dass es Elowen und Ramon gut ging, was zum Glück bei beiden der Fall war. Ramon war ein einfallsreicher Junge, der dem zwölfjährigen Tribut aus 5 den Schlafsack gestohlen hatte, als diese an einem Bach getrunken hatte. Das Mädchen würde nun sicher nicht lange leben, vielleicht sogar erfrieren, aber Haymitch hatte nicht den Luxus, über diese Dinge nachzudenken und sich dabei schlecht zu fühlen.
„Nicht so gut", sagte er und drehte langsam den Kopf in Effies Richtung. „Und bei dir?"
Effie sah müde aus. Sie versuchte ein kleines Lächeln zustande zu bringen, wirkte aber zu erschöpft, als dass es ihre Augen hätte erreichen können. „Dann bringe ich wohl auch keine positiven Neuigkeiten. Ich habe lediglich eine nette Dame dazu überreden können, Ramon eines dieser Minipakete zukommen zu lassen, falls er die Nacht überlebt."
Der erste Gedanke, der Haymitch durch den Kopf ging war, was ein Minipaket sein mochte. Doch dann weiteten sich seine Augen vor Überraschung. „Du hast uns einen Sponsor besorgt?" Der Alkohol machte ihn ungeschickt und Effie musste ihn am Arm festhalten, als er von dem Barhocker aufsprang.
Effie lächelte leicht. „Es ist nur eine und sie bietet uns fast nichts."
„Das ist mehr als Distrikt 12 seit meinem Sieg von sich behaupten kann, Prinzessin", erwiderte er und der ehrliche Stolz in seiner Stimme trieb ihr die Röte in die Wangen.
„Es kommt noch sehr viel Arbeit auf uns zu, aber lass uns Schluss für heute machen", schlug Effie vor und harkte sich bei ihm ein, wahrscheinlich eher als Unterstützung für ihn. „Um diese Uhrzeit sind die Leute nicht mehr daran interessiert über Geschäfte zu sprechen. Außerdem scheinst du auch nicht mehr in bester Verfassung zu sein."
„So viel habe ich gar nicht getrunken", gab Haymitch zurück und löste Effies Griff um einen Arm, um es ihr zu beweisen. Sie hob die Augenbrauen, seufzte dann und folgte ihm widerwillig, als er sich einen Weg zurück zu den Aufzügen bahnte. Aber es stimmte: Sein Gleichgewichtssinn war gut genug, um ihn aus der Lounge zu dem schwarzen Wagen zu manövrieren, der im Untergeschoss des Wolkenkratzers auf sie wartete.
Haymitch döste weg, sobald sich das Auto in Bewegung gesetzt hatte. Jede Faser seines Körpers war müde. Und doch zuckte er nicht, als Effie ihn nach viel zu kurzer Zeit an der Schulter berührte. Dafür war sein Schlaf viel zu leicht. In ihrer Gegenwart konnte er nicht riskieren, in einen Tiefschlaf abzudriften. „Wir sind da", flüsterte sie in die Dunkelheit und er murmelte etwas als Antwort, das weder er noch sie verstand.
Die Lichter der Tiefgarage waren zu hell und Haymitch musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen als er Effies knallgelber Gestalt bis zum Aufzug folgte. Ein leises Seufzen entfuhr ihm, als sie die grellen Neonleuchten endlich hinter sich ließen. Sein Körper fühlte sich an als wäre er schwer wie Blei, jeder Schritt war eine Herausforderung. Er hätte den letzten Drink nicht trinken sollen, denn er entfaltete nun seine Wirkung und Haymitch spürte, wie jede seiner Bewegungen unpräziser wurden. Der altbekannte Nebel, der bisher an den Rändern seiner Sicht verharrt hatte, drängte weiter nach vorne.
„Du bist das wirklich selbst schuld, das weißt du aber, oder?" Effie warf ihm einen halb tadelnden, halb schmunzelnden Blick zu. Sie stand an der Tür des Aufzugs und beobachtete, wie er sich mühevoll am Geländer festkrallte, während der Lift in die Höhe schoss.
„Was du nicht sagst", gab Haymitch sarkastisch zurück und verdrehte theatralisch die Augen. „Ich hatte es mehr als nötig." Das Lächeln verschwand aus Effies Gesicht und sie senkte ihre Augen zu ihren Füßen. Eigentlich hatte Haymitch nicht die Intention gehabt, ihre Stimmung runterzuziehen, aber nach allem was sie letzte Nacht besprochen hatten, wunderte es ihn nicht, wie schnell die Zufriedenheit aus ihrem Ausdruck wich. Der junge Sieger seufzte. „Hör auf dich schlecht zu fühlen."
„Was soll ich sonst tun? Ich kann es ja nicht einfach vergessen", antwortete Effie und trat einen Schritt auf ihn zu als die Aufzugtür aufging und harkte sich bei ihm ein. Haymitch ließ sie gewähren, auch wenn er eigentlich noch in der Lage war, ohne Hilfe zu gehen.
„Du sollst es nicht vergessen, behalte es im Gedächtnis", sagte er und betrachtete sie mit einem Seitenblick. Nach beinahe zwölf Stunden saß auch Effie Trinkets Makeup nicht mehr perfekt. Die Röte ihrer Wangen bahnte sich einen Weg durch die Schichten an Puder und ihre Maskara hatte kleine Klumpen unter ihren Wimpern hinterlassen. Den Lippenstift musste sie mehrmals nachgetragen haben, denn er sah noch genauso aus wie zu Beginn des Tages. So sah sie viel hübscher aus, musste Haymitch gegen seinen Willen feststellen. Viel menschlicher. Viel mehr wie die Frau, die sie tatsächlich unter den Schichten an Kleidung und Schminke war. „Aber mach deine Gefühle nicht davon abhängig. Es ist passiert, das kann dein Schmollen auch nicht ändern."
„Ich kriege es aber nicht in meinen Kopf", antwortete Effie leise und gab sich Mühe, geradezulaufen. Haymitch machte sich einen kleinen Spaß daraus, die Hälfte seines Körpergewichts auf ihr abzuladen. Sie beschwerte sich nicht darüber. „Die Vorstellung, was sie mit dir gemacht hat ... ich bin kein gewalttätiger Mensch, aber es macht mich so wütend."
„Du hast mir innerhalb der letzten zwei Wochen einmal ins Gesicht geschlagen und einmal zwischen die Beine getreten, Süße. Also wenn das nicht gewalttätig ist, dann weiß ich auch nicht", schnaubte Haymitch und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Effie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und hob den Kopf in die Höhe. „Ich habe mich entschuldigt. Auch wenn du es verdient hattest, beide Male."
„Wo sind denn deine Manieren?", äffte Haymitch und versagte dabei, Effies Kapitolakzent zu imitieren. Sie seufzte in sich hinein und blieb stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete er bereits, dass sie genug von seinem betrunkenen Hintern hatte, doch dann realisierte er, dass sie bereits vor seinem Zimmer angekommen waren.
„Und nur zu deiner Information: Ich schmolle nicht", bemerkte sie dann, löste sich von ihm und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie ihr Kinn in ihrer typisch arroganten Art in die Luft reckte.
„Oh doch, das tust du." Haymitch schmunzelte und machte einen Schritt in ihre Richtung, nur um dann die Brauen zu verziehen.
„Alles in Ordnung?" Die gespielte Erhabenheit in Effies Augen schwand einer Sorge, die eigentlich jegliche seiner Alarmglocken hätte aktivieren sollen. Unter normalen Umständen wäre das hier der Zeitpunkt gewesen, um die Beine in die Hand zu nehmen. Doch über den Punkt war Haymitch schon seit einigen Tagen hinaus.
Haymitch machte einen weiteren schwankenden Schritt in ihre Richtung und trat in ihren persönlichen Bereich. Mit ihren monströsen Schuhen ragte ihre Perücke ein Stück über seinen Kopf hinweg und einen Moment lang betrachtete er das synthetische Haar, bevor er seine linke Hand hob und eine der gelben Strähnen, die unter dem enormen Hut hervortraten, zwischen seine Finger nahm. „Ich verstehe nicht, wie du sowas tragen kannst. Dein echtes Haar sieht so viel besser aus."
Das gedimmte Nachtlicht im Gang ließ Effies geweitete Pupillen dunkler wirken als sie tatsächlich waren. Es war komisch, auf Augenhöhe mit ihr zu sein und doch fühlte Haymitch sich ihr näher als sonst. Ihre Wangen nahmen einen warmen Ton an und sie senkte verlegen den Blick. „In deiner Welt vielleicht, aber nicht in meiner."
„Dann komm in meine Welt", sagte Haymitch und bereute die Worte ab der Sekunde, in der sie seinen Mund verließen. Der Alkohol spielte ihm einen Streich. Er floss durch seine Adern und machte die Dinge nur komplizierte als sie ohnehin schon waren.
Haymitch ließ Effies Perücke los und machte mehrere Schritte nach hinten, bis er die Tür in seinem Rücken spürte. Er verhielt sich wie ein Idiot. Heute Morgen hatte er ihr noch gesagt, dass sie nicht mit ihm spielen sollte und nun stand er hier und warf sich dem Kapitol freiwillig vor die Füße. Was war nur in ihn gefahren? Er hatte diesen Tanz auf Messers Schneide beenden wollen und nun drängte er freiwillig wieder aufs Tanzparkett.
„Es ist spät, ich sollte schlafen gehen." Die Wärme aus Haymitchs Stimme war verschwunden. Er hatte sich wieder in den kalten, unnahbaren Mann verwandelt, der er hätte bleiben sollen.
Effies Gesicht war ausdruckslos. Sie hatte ihre Lippen zusammengepresst, den Blickkontakt zu ihm jedoch nicht abgebrochen. Bedauern spiegelte sich in ihren Augen. Bedauern und ein Konflikt, den sie wohl gerade in ihrem Kopf auszufechten schien. Dann verschwanden beide Emotionen auf einen Schlag und wurden von einem Ausdruck ersetzt, den Haymitch weder schon mal gesehen hatte noch deuten konnte.
Ihre Füße machten einen zögerlichen Schritt auf ihn zu und etwas in Haymitchs Fingern begann zu kribbeln. „Ich weiß auch nicht, was das hier ist", flüsterte Effie in die Stille zwischen ihnen, die jedes andere Geräusch wie ein Vakuum auszumerzen schien, und antwortete auf das, was er heute Morgen zu ihr gesagt hatte. „Aber wenn du denkst, dass ich Gefühle für Seneca habe, dann täuschst du dich."
Alles was Haymitch noch zustande brachte war ein verblüfftes Heben seiner Brauen als Effie sich auch schon zu ihm nach vorne beugte und ihn direkt auf den Mund küsste. Keine Ausflüchte mehr. Keine Ausreden. Nichts als die Wahrheit. Es fühlte sich an, wie ein Blitzschlag, der ihm durch Mark und Bein ging als ihre Lippen seine trafen. Anders als ihr erster Kuss, war dieser weich und vorsichtig. Der Geruch von Blumen stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn erneut an die Wiesen hinter seinem alten Haus im Saum. Etwas in Haymitchs Herzen krampfte und löste sich im selben Moment. War es Zufall, dass sie ihn manchmal mehr an Distrikt 12 erinnerte als an das Kapitol?
Effies Hände hielten sein Gesicht behutsam fest, während sie für wenige Sekunden zu einer Person verschmolzen. Der Nebel in Haymitchs Kopf war nun stärker als zuvor. Sie hatte ihn mit ihren Worten so aus der Bahn gerissen, dass er sich gerade erst gefasst hatte, als sie sich schon wieder zurückzog.
Das Bedürfnis nach ihrer Nähe machte es ihm schwer, nicht nach ihren Armen zu greifen und sie wieder zu sich zurückzuziehen. Aber Haymitch war immer noch zu überwältigt, zu überrascht, dass sie diesen Schritt gewagt hatte. Effie wusste, dass es bei ihm nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, auf Ablehnung zu stoßen. Und doch hatte sie sich getraut, diese unsichtbare Barriere zu überqueren, die schon seit ihrer ersten Begegnung zwischen ihnen stand.
„Gute Nacht, Haymitch", war alles was Effie sagte, bevor sie sich umdrehte und zu ihrem eigenen Zimmer ging. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen.
Haymitch konnte nicht anders als ihr schmunzelnd hinterherzustarren.
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