21. For Her

For Her

Ein Dröhnen in der Ferne weckte Haymitch. Er zuckte kaum merklich zusammen, seine Hand bereits auf der Suche nach seinem Messer, als sich etwas unter ihm bewegte und die Schwerkraft seinen Körper nach links zog. Unter einem Stöhnen öffnete er die Augen und stellte fest, dass er sich in einem Auto befand. Das Auto hatte einen scharfen Bogen gemacht und er war natürlich nicht angeschnallt gewesen. Die Sitze unter ihm waren so gemütlich, so weich, dass er sich gerne wieder in sie sinken ließ. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er hier gelandet war. Alles was er wusste war, dass er auf dem Rücksitz eingeschlafen sein musste.

Blinzelnd setzte Haymitch sich auf und scannte seine Umgebung etwas genauer, zumindest war das sein Plan gewesen. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf und der junge Sieger musste sich an der dunklen Wand festhalten, die ihn vom Fahrerbereich trennte. Ein Taxi also. Das dunkle Fenster nach vorn war zugezogen. Wusste der Fahrer überhaupt, wo er ihn absetzen sollte?

Er brauchte mehrere Augenblicke, bis ihm die Aftershowparty wieder in den Sinn kam, die jedes Jahr nach den Interviews der Tribute im angesagtesten Club des Kapitols stattfand. Laetitia Lowell und Chaff hatten ihn dorthin begleitet. Die Feier war nichts Besonderes gewesen. Haymitch verabscheute diese Art von Partys. Man war umgeben von ekelhaften Menschen, die nichts Besseres mit ihren privilegierten Leben anfangen konnten, als sich am Leid von Kindern zu ergötzen. Es war bekannt, dass die Afterparty als offiziellen Startschuss für die kommende Wettsaison galt. Welcher Mensch, der klar bei Verstand war, wettete auf den Tod von Kindern und bereicherte sich auch noch daran? Es wunderte ihn nicht, dass diese Art des Glücksspiels so populär unter den Reichsten in der Hauptstadt war. Es kotzte ihn an.

Die Anwesenheit dieser Leute für einen Abend ertragen zu müssen war einer der Gründe, weshalb Haymitch nun noch kaum klar sehen konnte. Seitdem er den Club betreten hatte, hatte er Drink um Drink in sich hineingekippt, in der Hoffnung, diese Monster auszublenden. Natürlich hatte ihm sein Hirn diese Erleichterung nicht gewährt. Das Glück war nie mit ihm. Den ganzen Abend hatte er gehofft, dass irgendein Kerl dumm genug sein würde, den Wahnsinn vom letzten Jahr zu wiederholen. Sie hätten die Party abgebrochen und er hätte einfach ins Penthouse zurückkehren können. Aber natürlich war die Welt nicht fair, vor allem nicht zu ihm.

Auch im Kapitol gab es Kriminalität und Gott ... was hätte er gegeben, um letztes Jahr dabei gewesen zu sein. Irgendein Junge aus der Vorstadt, kaum älter als 18, hatte drei Spielemacher in den Tod gerissen, noch bevor die Security die Messer entdeckt hatten, die er in der Innenseite seines Anzugs versteckt hatte. Dieses Jahr war Haymitch keinem einzigen Spielemacher im Club über den Weg gelaufen und allein dafür hätte er dem Angreifer gerne herzlichst gedankt. Der Junge war mit Sicherheit tot, der Mord an so hohen Tieren hatte seine Folgen, auch für Kapitoler.

Laetitia war aufgedreht gewesen, daran konnte Haymitch sich erinnern. Sie hatte es nicht eilig gehabt, von der Feier zu verschwinden. Also hatte er ihr witziges Spiel mitgespielt. Er hatte mit ihr getanzt, sie vor aller Augen geküsst und sich so viel Alkohol reingezogen, dass ihm nun der Kopf schmerzte und seine Umgebung sich eher aus Unklarheit auszeichnete als durch Schärfe. Er hatte das getan, was von ihm verlangt wurde. Chaff war zwar auch da gewesen, aber nur zu seiner Unterstützung. Er hatte ein Alibi gebraucht, um von Effie loszukommen und Chaff, der feiern gehen wollte, war ein besseres Alibi als einfach zu verschwinden. Haymitch war ihm dankbar dafür, auch wenn sein Kumpel mehr als einmal betont hatte, dass er nicht verstand, warum er all das tat. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er auch nicht, warum er sich darauf eingelassen hatte.

Es hatte nichts daran geändert, dass er den wirklich harten Teil allein hatte erledigen müssen. Als Laetitia genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen und mit mehr als einem Sieger rumgemacht hatte, hatte er sie zum Anwesen der Lowells begleitet. So wie vereinbart.

Von da an wurden die Erinnerungen langsam unscharf, dunkel und verwirrend. Haymitch hatte das Anwesen der Lowells spät in der Nacht wieder verlassen und war immer noch so betrunken, dass er sich nicht einmal daran erinnern konnte, was genau zwischen ihm und Laetitia gelaufen war. Er hätte sie in einem Anfall rasender Wut töten können, ohne nun auch nur ein einziges Bild der vergangenen Stunden in seinem Gedächtnis heraufbeschwören zu können. Das einzige Bild, das wieder und wieder vor seinem inneren Auge aufgetauchte, war Effies schmales Gesicht und der angewiderte Ausdruck in ihren kristallblauen Augen, als er Laetitia seinen Arm eng um die Hüfte geschlungen hatte. Dabei hatte er all das nur für sie getan. Wäre es nach ihm gegangen, dann würde er eine Frau wie Laetitia Lowell nicht mal mit einer Kneifzange anfassen. Sie verkörperte alles, was Haymitch am Kapitol verabscheute. Sie war ignorant, selbstzentriert und unmenschlich, obwohl sie sich dem wahrscheinlich nicht einmal bewusst war; zu geblendet von dem strahlenden Lifestyle, den sie führte.

Haymitch hatte keinen blassen Schimmer wie er es ins Taxi geschafft hatte. Er starrte an sich herunter, ängstlich, was er vorfinden könnte. Er hatte seine Krawatte irgendwo verloren, wahrscheinlich hatte Laetitia sie ihm ausgezogen. Es klebte kein Blut an seinen Händen, was schon mal eine Erleichterung war, an sich aber nichts zu bedeuten hatte. Genauso gut hätte er sie mit seinen bloßen Händen erwürgen können. Goldener Lippenstift verschmierte Brust und Schultern seines Anzugs. Er war kein Experte und konnte trotzdem mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Jacke dahin war. Das Pochen in seinem Kopf half ihm nicht gerade, sich an mehr Details zu erinnern und irgendwie war er dankbar dafür. Was er sich nicht ins Gedächtnis rufen konnte, brauchte er nicht zu bereuen.

Irgendwann hielt der Wagen schließlich an und als Haymitch aus dem Fenster spähte, erkannte er das Trainingscenter, das hoch über ihm aufragte und in tanzenden Bewegungen hin und her schwang. Irgendwo dort oben schlief Effie wahrscheinlich gerade. Das Bild ihrer geweiteten Augen bereitete ihm ein schlechtes Gewissen und er zwang sich, ihr Gesicht aus seinen Gedanken zu schieben.

Das Penthouse zu erreichen, stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Es erinnerte ihn ein wenig an die Eröffnungszeremonie und wie eine völlig überforderte Effie seinem betrunkenen Hintern zurück zum Trainingscenter hatte helfen müssen. Jede Faser seines Körpers hoffte, ihr heute Nacht nicht mehr zu begegnen. Haymitch war sich nicht sicher, ob er es aushalten würde. Er wollte nie wieder diesen Ausdruck in ihren Augen sehen. Dabei hatte er es für sie getan.

Auf den ersten Blick schien das Penthouse verlassen zu sein. Die Lichter waren ausgeschaltet und kein Laut war zu hören, weshalb Haymitch langsam und schwankend durch die Gänge schlürfte. Aufrechtgehen war ein Problem, denn sein Gleichgewichtssinn hatte ihn verlassen und seine Sicht war immer noch vernebelt. Er war nicht gerade leise, das wusste er, doch der Alkohol in seinem Blut zerrte an seinen Nerven und machte es unmöglich, sich zu fokussieren. Mehr als einmal stieß er gegen eine Kommode oder irgendeinen verdammten Dekortisch und er konnte nur beten, in dem Prozess keine Vase umzuschmeißen. Das Letzte was er wollte war, die gesamte Etage zu wecken.

Auf dem Weg zu seinem Raum kam er am Wohnzimmer vorbei und seine wankelmütigen Schritte wollten ihn gerade daran vorbeitragen, als er das gedimmte Licht aus den Augenwinkeln bemerkte und in einer ruckartigen Bewegung zum Stehen kam. Er hatte nur noch Zeit, sich am Türrahmen festzuhalten, um nicht zur Seite zu kippen, als eine vertraute, weibliche Stimme zu sprechen begann.

„Haymitch, bist du das?", fragte Effie aus dem Wohnzimmer, ihr Ton unsicher und zerbrechlicher als Haymitch es sich gewünscht hätte. Selbst durch den Nebel an Alkohol konnte er den Schmerz hören.

Für einen Moment schloss Haymitch seine Augen und lehnte seinen Kopf gegen den Türrahmen, in der Hoffnung einfach für immer im Erdboden zu verschwinden. Ein leises Seufzen kam ihm über die Lippen und dann betrat er das Wohnzimmer, wagte es jedoch nicht, den Mund zu öffnen. Was hätte er auch sagen sollen? Seine Worte würden sowieso nichts weiter als ein unverständliches Gemurmel sein.

Effie saß an dem langen Tisch, an dem sie sonst ihre Mahlzeiten einnahmen und um den sie vor einigen Tagen von Ramon gejagt worden war. Das Zimmer war dunkel bis auf eine Lampe an der Wand hinter dem Tisch. Haymitch trat in den Lichtkegel und versuchte, seine Augen auf Effie zu fokussieren. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein schlichtes schwarzes Kleid. Er konnte nicht sagen, ob die blonden Haare auf ihrem Kopf echt oder eine Perücke waren. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab, die selbst ihr Make-Up nicht verstecken konnte. Sie sah traurig aus, was Haymitchs Bewegung zum Stillstand brachte. Er konnte nicht gut mit Gefühlen umgehen und Trauer war eine Emotion, um die er in jedem Fall einen großen Bogen machen sollte.

Effie machte keine Anstalten den Mund zu öffnen. Das war ungewöhnlich genug. Sie starrte ihn aus ihren hellblauen Augen und versuchte, ihre Gefühle vor ihm zu verbergen. Haymitch wusste nicht, wieso sie sich die Mühe machte, weil er sie bereits durchschaut hatte. „Was machst du da?", fragte er also und ignorierte den Fakt, dass es fast vier Uhr in der Früh war.

„Ich arbeite an der Sponsorenmappe für die Kinder", erklärte Effie kurz angebunden. Keine langen Ausschweifungen, kein Gerede wie ein Wasserfall.

Das verächtliche Lachen verließ seine Kehle, bevor er es verhindern konnte. „Dir ist klar, dass Zwölf seit Jahren keinen Sponsoren gehabt hat? Eine Mappe wird nichts ändern." Er bereute die Worte noch während er sie sprach. Der verdammte Alkohol machte ihn wohl jetzt zum Gesprächigen von ihnen beiden. Effie verzog ihr Gesicht und senkte die Augen, die plötzlich vollkommen leer schienen und Haymitch verfluchte sich dafür, dass es ihn interessierte, wie sie sich fühlte. Er hatte sich nie auch nur im Geringsten für das Wohlergehen irgendeines Kapitolers geschert, egal ob Mann oder Frau. Warum also jetzt? Warum sie?

„Vielleicht fehlt mir das Bild für das große Ganze, aber ich verstehe nicht recht, wie du dich mit irgendwelchen Frauen betrinkst, während die Leben der Kinder aus deinem Distrikt am seidenen Faden hängen", platzte es aus Effie heraus, die zorniger reagierte als Haymitch erwartet hätte. Es überraschte ihn, weil sie ihre Gefühle sonst immer so gut im Griff hatte. Sie hielt kurz inne, um die Tränen wegzublinzeln, die ihr in den Augen standen. Er sah sie nichtsdestotrotz. „Weißt du eigentlich, wie schlimm es für mich war, mich von Elowen zu verabschieden?"

„Effie." Es klang mehr wie ein Seufzen. Eigentlich sollte er wütend sein, dass sie ihm so etwas vorwarf, obwohl sie überhaupt der Grund für sein Treffen mit Laetitia Lowell war. Doch da war keine Wut in ihm. Tief in seinen Knochen wusste er, dass sie recht hatte. Nicht nur wegen dieser Spiele, sondern wegen all den Kindern zuvor, für die Haymitch sich nie interessiert hatte; weil er nicht wollte und nicht konnte. Zu Beginn hatte er versucht, die Kinder zu retten. Er hatte sich die Zeit genommen, so wie Effie es jetzt tat. Doch alles, was blieb, war der Schmerz. Alles, was es wachrief, waren die Erinnerungen an seine eigene Arena, die er so tief in seinem Gedächtnis vergraben hatte wie nur irgend möglich. Haymitch versuchte sich einzureden, dass er ihr das vielleicht alles erzählt hätte, wenn der Alkohol ihn nicht unter seiner vollständigen Kontrolle gehabt hätte.

Haymitch konnte den Keil förmlich spüren, den er mit seiner Entscheidung nach den Interviews zwischen Effie und ihn getrieben hatte. Der unverzeihliche, betrogene Ausdruck ihrer Augen sagte ihm, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, um mit der Wahrheit rauszurücken, wenn er das zwischen ihnen nicht versauen wollte.

Effie schüttelte vehement den Kopf, bevor er weitersprechen konnte. „Nein, Haymitch." Sie hielt kurz inne und schien ihn mit ihren Blicken förmlich durchbohren zu wollen. Sie war nicht für diesen Job geschaffen. Sie war nicht stark genug, um die Hungerspiele Jahr für Jahr an sich vorbeiziehen zu lassen, ohne dabei Narben davonzutragen und es sorgte ihn von Tag zu Tag mehr. Wenn man einmal an Bord der Spiele war, gab es kein Entkommen mehr. Sie würde daran zerbrechen, wenn sie nicht Acht gab. „Wie ich sehe hattest du deinen Spaß und ich hoffe das war es dir wert. Ich dachte du wärst anders ... Ich dachte du wärst besser."

Nun konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Haymitch wunderte sich, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass sie so offen miteinander sprachen. Sie beide hatten den großen Eisberg seit Tagen umschifft, kein Wort über diese Nacht verloren. Sie packte ihre Sachen zusammen und stürmte an ihm vorbei zur Tür. Er konnte förmlich spüren, wie ihm die Zeit entglitt. Er ignorierte die Alarmglocken in seinem Kopf schon viel zu lange, die ihn anbrüllten, den Blödsinn sein zu lassen und sie einfach zu vergessen. Doch er wusste selbst nicht, warum er es nicht konnte.

Bevor er zweimal darüber nachdenken konnte, griff er nach ihrem Unterarm und hielt sie davon ab, das Wohnzimmer zu verlassen. Ein wütendes Zischen entfuhr Effie und wieder war Haymitch so überrumpelt von dem Ausmaß ihrer Reaktion, dass er sie beinahe losgelassen hätte. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien und für einen Moment rangen sie miteinander um die Oberhand.

„Lass mich auf der Stelle los, oder ich schwöre, dass du diesen Tag nicht so schnell vergessen wirst, Haymitch Abernathy", knurrte Effie unter zusammengepressten Zähnen. Ein primitiver Teil von Haymitch mochte diese Seite an ihr und war erleichtert darüber, dass unter der Kapitolfassade mehr Herzblut steckte als ihre Manieren.

„Hör mir zu, Effie." Seine Stimme war ein einziges Nuscheln und er konnte sich selbst schon kaum ernst nehmen.

„Ich will deine dämlichen Aussagen aber nicht hören", schoss sie ohne Umschweife zurück und sie schien es wirklich ernst zu meinen, denn einen Moment später trat sie ihm, ganz ohne Vorwarnung, zwischen die Beine. Es war nicht stark und doch erfüllte es seinen Zweck. Wie groß war Effies Hass auf ihn, wenn sie sogar bereit war, Gewalt einzusetzen, um von ihm loszukommen? Die Effie die er kannte, war bei einer Ohrfeige schon beinahe in Ohnmacht gefallen, die sie ihm verpasst hatte. Wahrscheinlich war ihr endlich aufgefallen, dass sie mit ihren Manieren nicht weit bei ihm kam.

„Ich hatte Gründe, Effie", versuchte der junge Sieger erneut, sich zu erklären. „Ich versichere, nichts ist, wie du denkst. Hör mir zu." Er war unsicher auf den Beinen. Effies Tritt hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht.

Effie war schon halb an der Tür, als sie sich zu ihm umdrehte. Tränen liefen ihr übers Gesicht, aber ihre Brauen waren vor Zorn verzogen. „Ich musste für dich lügen, damit Elowen nicht denkt, du hättest sie im Stich gelassen", schrie sie ihm nun entgegen und Haymitch zuckte zusammen. Hatte er sie zuvor jemals schreien hören? Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre Stimme hob, aber sie hatte ihn noch nie angeschrien. Er konnte nicht anders, als sie mit einer Miene des offenen Schocks anzustarren. Ihre Hände, die sie vor ihrer Brust um den Ordner geschlungen hatte wie ein Schutzschild, zitterten.

„Sie zu verabschieden–" Effies Stimme brach und es war eines die schlimmsten Geräusche, die Haymitch je gehört hatte. Nicht schlimmer als das Gurgeln, das aus Maysilees Kehle gekommen war, aber nicht weit dahinter und allein dafür musste er verrückt sein. „Ich bin fertig, Haymitch."

Haymitch versuchte das schlechte Gewissen zu ignorieren, das in seiner Brust aufloderte, denn ihm war bewusst, dass er heute einiges für Elowen gegeben hatte, auch wenn Effie darüber im Dunkeln war. Am liebsten würde er sie im Dunkeln lassen, aber je mehr diese Diskussion entgleiste, desto mehr wurde ihm klar, dass er vielleicht keine andere Wahl hatte, wenn er diese Beziehung zu ihr, egal was genau es war, retten wollte.

„Ich dachte ich kenne dich, Haymitch. Ich dachte wir wären auf einem guten Weg. Ich habe bei vielem zugesehen, weil ich verstehe, dass es dir nicht leichtfällt, hier zu sein. Aber nach heute kann ich nicht anders als mich zu fragen, ob Petunia nicht vielleicht doch recht hatte. Du hast mich im Stich gelassen, ich musste für dich lügen und offenbar hast du auch mich die ganze Zeit belogen."

Haymitch wand sich bei dem Vorwurf, den Effie ihm machte. Der Raum um ihn herum drehte sich und er schwankte zur Seite, um sich an der Kante des Tischs festzuhalten. Die Worte in eine Reihenfolge zu bringen, sodass Effie sich einen Reim daraus machen konnte, war schwieriger als gedacht. Er schaute auf seine Finger herab, die die Tischkante umklammerten und unterdrückte den eigenen Unmut, der sich in seinem Bauch sammelte. Unmut auf ihn selbst aber auch auf Effie, weil sie unfähig war, die Wahrheit zu erkennen. „Ich habe dich nie angelogen."

„Du sagtest, dass du das Kapitol verabscheust und uns alle hasst, für das was wir sind, weil wir uns besser fühlen als ihr in den Distrikten. Du sagtest, dass du uns grausam findest, weil wir die Hungerspiele schauen und uns darüber amüsieren." Effies Stimme wurde höher und höher, als würde jeder Satz ihr mehr Kummer bereiten. Wenigstens schaute sie ihm in die Augen, während sie ihm all diese schrecklichen Sachen an den Kopf warf. Wenigstens besaß sie den Mumm, nicht wegzuschauen. Es war nicht das erste Mal, dass Haymitch ihren Mut bewunderte, auch wenn er sie schon mehr als einmal fast das Leben gekostet hatte. „Du bist ein Heuchler, wenn du dich dann von Laetitia Lowell dazu bewegen lässt, mich und die Kinder aus deinem Distrikt zu verraten, für ... ja für was genau? Spaß? Alkohol? Sex? Du widerst mich an."

Eine Sekunde zuvor hatte er die Wut in seinem Bauch noch unterdrücken können und wäre er nicht so betrunken gewesen, dann hätte er vielleicht über ihren Kommentar hinwegsehen können, der auf so vielen Ebenen falsch war. Die echte Wahrheit war so verdreht, dass sie als naive Kapitolerin niemals von allein darauf kommen würde.

Etwas in seinem Nacken knackte und das Nächste was er wusste war, dass er auf Effie zu pirschte, die plötzlich die Augen aufriss, weil sie ebenso wenig mit seiner Reaktion gerechnet hatte. Sie rechnete nicht damit, dass er sich trotz der offensichtlichen Desorientierung so schnell bewegen konnte. Sie hatte vergessen, dass sie es mit einem Sieger der Hungerspiele zu tun hatte. „Du hast kein recht mir zu sagen, dass ich meinen Distrikt verraten habe", brachte Haymitch hervor und hob drohend einen Finger auf die Höhe ihres Kopfs. Seine Hand zitterte so stark, dass er sich fragte, was Effie sich bei dem Anblick denken musste. Eine verbitterte Verwirrung spiegelte sich in ihren Augen. „Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, wen ich verloren habe und was ich ertragen musste, um heute hier in diesem gottverdammten Raum stehen zu können. Wärst du in meiner Haut, dann hättest du dich wahrscheinlich schon längst vom nächsten Hochhaus geworfen, weil du mit der Last nicht klargekommen wärst. Du von allen Menschen. Du bist freiwillig hier. Ich bin nur hier, weil sie in Zwölf sonst irgendwelche Kinder vor meine Haustür zerren und ihnen eine Kugel in den Kopf jagen. Und du geilst dich noch daran auf, ihre Namen zu ziehen. Nur um dann zu feiern, wie sie in der Arena abgeschlachtet werden."

Haymitch spie ihr die Worte entgegen wie pures Gift. Seine Hände zitterten immer noch und er rechnete mit einer Ohrfeige. Er hätte sie verdient. Effie war in Reichweite dafür und sie hatte ihre rechte Hand gehoben, ließ sie bei seinen Worten jedoch fallen wie ein Sack Kartoffeln. Sie zuckte vor ihm zurück, als hätte sie sich verbrannt. Für einen Moment hatte er vergessen, wer da vor ihm stand. Er wusste selbst, dass sie diese Worte nicht verdient hatte, dass nur ein Mann sie wirklich verdient hatte, der aber stets außerhalb seiner Reichweite sein würde.

Haymitch rechnete nicht damit, dass sie anfangen würde zu schluchzen. Er konnte nur dabei zusehen, wie sie ihre Arme enger um ihren Ordner schlang und ihr Körper zu zittern begann. Mit zunehmendem Horror schaute er dabei zu, wie dicke Tränen über Effies schmale Wangen liefen und ihre Lippen bebten. Ihr Atem kam stockend und langsam geriet er in Panik. Er hatte gewollt, dass sie die Wahrheit hörte; was sie den Menschen in den Distrikten antaten und was sie ihm angetan hatten.

Er wusste nicht, warum sie weinte, und auf einmal war es alles zu viel für ihn: Der Alkohol, der sich durch seine Adern fraß. Das Gefühlschaos in seiner Brust. Effies eigener mentaler Breakdown. Die Welt um ihn drehte sich jetzt schneller als zuvor und er hatte das Gefühl, zu fallen. Haymitch öffnete den Mund, um sie zu warnen, aber seinen Füßen fehlte jede Koordination. Er spürte, dass er stolperte, noch bevor er den Boden unter seinem Körper wahrnahm.

Dann tauchten Effies riesige, himmelblaue Augen über ihm auf. Es rollten immer noch Tränen über ihre Wangen, aber sie bedachte ihn mit einer panischen Besorgnis; die unbändige Wut von eben verschwunden. Ihr blondes Haar fiel ihr wirr über die Schultern und nun, wo er ihr so nah war, war er sich sicher, dass es ihr echtes Haar war. Er konnte ihre Hände fühlen. Eine strich ihm vorsichtig über die Wange und die andere drückte seine bebende Hand. „Haymitch?"

„Alles ... gut", murmelte Haymitch und wenn er nicht betrunken gewesen wäre, dann wäre er wahrscheinlich peinlich berührt. „Nichts Neues, nur ... der Alkohol."

„Kannst du aufstehen?", fragte Effie unsicher und strich ihm erneut über die Wange. Ihre Berührung war so federleicht, dass Haymitch sich nicht einmal sicher war, ob sie ihn tatsächlich berührte oder sein fantasierendes Gehirn es sich nur einbildete.

„Weiß nicht", murmelte er und schloss die Augen. Die Hitze ihre Gemüter hatte sich innerhalb weniger Sekunden abgekühlt und nun, da Haymitch wieder klarer denken konnte, fragte er sich, wie lange Effie ihm diesen Waffenstillstand gewähren würde. Spätestens morgen, wenn der Alkohol restlos aus seinem Körper verschwunden war, würde sie wieder diese unnahbare Distanz zwischen ihnen errichten. In einer zögernden Bewegung löste Haymitch seine Hand von Effies und setzte sich auf. Effie hatte sich auf den Stoff ihres Kleides gekniet und er konnte den Staub sehen, der bereits daran zu haften begann. Irgendwie glaubte er nicht, dass sie sich für jeden einfach auf den Boden knien würde, ihrer teuren Kleider willen. Sie ließ ihre Hände sinken und bedachte ihn mit einem vorsichtigen Blick, als fürchtete sie jede Sekunde damit, dass er wieder auf den Rücken fallen würde.

„Ich werde dir alles erklären, Effie", wiederholte er schließlich seine Worte und gab sich Mühe, ernst auszusehen, als er ihren Blick erwiderte. „Aber zuerst würde ich mich gerne umziehen. Der Anzug stinkt." Und das tat er tatsächlich. Laetitias Geruch, irgendein teures Parfüm, war tief in die Fasern des Stoffs eingedrungen. Jeder Atemzug erinnerte ihn an sie. Ein weiterer Grund, den Anzug wegzuschmeißen.

Zwiespalt huschte über Effies Gesicht. Haymitch wusste, dass sie nicht hören wollte, was auch immer er zu sagen hatte. „Haymitch", ihre Stimme geriet ins Stocken. Nun wo die beiden sich etwas beruhigt hatten, übernahmen ihre Manieren wieder Kontrolle über ihr Verhalten. „Wir wissen beide, dass es nichts verändern wird. Mache es mir nicht schwerer, als es bereits ist."

„Nein, Effie", fiel Haymitch ihr ins Wort, bevor sie sich ihm komplett verweigern konnte. „Es gab einen Grund für mein Handeln. Du musst mir nur zuhören und wenn du danach denkst, dass der Grund nicht gut genug ist, kannst du weitermachen mich zu hassen. Aber bitte gib mir diese eine Chance."

Etwas auf ihrem Gesicht veränderte sich, aber Haymitch konnte nicht sagen, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Ihre tiefblauen Augen ruhten für eine Weile auf ihm und sie schien mit sich zu ringen. Dann senkte sie den Kopf und nickte einmal. „Na schön, Haymitch. Ich gebe dir deine Chance. Ich hoffe nur, dass du sie weise nutzt."


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Ein etwas bedrückenderes Kapitel. Diesmal aus Haymitchs Perspektive! :)

LG

Skyllen

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