19. Flirts and Interviews

Flirts and Interviews

„Du bleibst genau hier stehen", befahl Effie Haymitch über ihre Schulter hinweg, während sie Elowen und Ramon zum Bühnenaufgang geleitete. Haymitch verdrehte sorglos die Augen und salutierte ihr dann in einer verhöhnenden Geste. Die schwarze Seide seines maßgeschneiderten Anzugs reflektierte unter der grellen Glühbirne.

Der Aufgang, ein schmaler langer Flur aus kohleschwarzen Wänden, war überfüllt von Tributen. Sie alle trugen schillernde Outfits, wahrscheinlich mehr wert, als ihre Familien jemals besitzen würden. Effie freute sich für sie und die Ehre, die sie innehatten, diese Momente eines großzügigen Lebensstils zu genießen. Einige der Kinder, aber vor allem die Mädchen der wohlhabenderen Distrikte, schienen darin aufzublühen: Ihre weiten Augen glänzten lebenslustig und ihre drahtigen Körper brachten die Kleider mit ihrem glamourösen Make-Up und den außergewöhnlichen Frisuren zum Strahlen. Die Unmengen an Gold, Silber und Diamanten konnten einen in den Bann ziehen, wenn man denn bereit war, den Preis dafür zu zahlen. Alles im Kapitol hatte seinen Preis. Allerdings war der, den Effie zahlen musste, viel geringer als der, den dreiundzwanzig der Kinder zahlen mussten, die gerade vor ihr standen.

Effie drehte sich zu ihren eigenen Tributen um. Die beiden hatten sich bereits zu den anderen gesellt, die alle in einer langen Reihe hintereinanderstanden. Manche von ihnen stritten sich in einem nervösen, aufgelösten Ton darum, wer nun wo stehen musste. Effies Kinder standen etwas abseits. Das war eines der wenigen Privilegien, aus Distrikt 12 zu stammen. Man gehörte nicht zu der Mitte, die weder Karrieredistrikt noch Außenseiter war. Distrikt 12 mochte zwar ein Außenseiter sein, aber die Letzten behielt man immer irgendwie im Gedächtnis.

Elowens Kleid funkelte im schwachen Licht des Foyers, das nicht weit in den Flur des Bühnenaufgangs hineinfiel. Dieser Teil des Backstagebereichs erinnerte Effie an ihre Zeit im Schultheater, wo sie vor ihren Szenen oft die verbleibenden Minuten in einem solchen Gang verbracht und sich die Zeilen ihres Textes in den Kopf gehämmert hatte. Die Hände des Mädchens waren zu Fäusten geballt und kleine Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn.

„Denkt an meine Worte, ihr beiden", erinnerte Effie sie und warf ihnen einen letzten, eindringlichen Blick zu. Ihre Augen wanderten über ihre Konkurrenz. Einige andere Betreuerinnen standen ebenfalls neben ihren Tributen und gaben ihnen einen letzten Ratschlag. „Wenn das Kapitol euch bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, dann ist jetzt euer Moment, dies zu ändern."

Für mehr blieb keine Zeit. Laute Musik ertönte, das Intro der Show begann und dann schallte Caesars Stimme durch die Lautsprecher. Er war in Feierlaune und brauchte nur Sekunden, um das Publikum auf die nächsten zwei Stunden einzustimmen. Seine Laune war in all den Jahren immer schon ansteckend gewesen.

„Ich wünsche euch ganz viel Glück!" Die goldene Cashmere, die mit selbstbewussten Schritten die Bühne erklomm, war das Letzte was Effie sah, bevor sie sich umdrehte und ihren Weg zurück zu Haymitch bahnte.

Wieder im Hauptbereich der Backstage-Area, brauchte Effie einen Moment, um ihren Mentor wiederzufinden. Der Bereich hatte sich nun etwas geleert. Viele Teams hatten sich vor die Bildschirme begeben, wenn sie Plätze im Publikum besaßen, dann nahmen sie diese nun langsam ein. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Cashmere die Bühne betreten und die Interviews offiziell beginnen würden.

Haymitch war natürlich nicht dort stehen geblieben, wo Effie es ihm befohlen hatte. Er war zu einer kleinen Gruppe von Siegern abgewandert, die am Rande der Bildschirmreihe in ein freundliches, lockeres Gespräch vertieft war. Chaff hatte sich zu ihm gesellt und neben ihm stand eine winzige, knochige Frau, die Effie zwar bekannt vorkam, der sie aber in der Sekunde keinen Namen zuordnen konnte. Haymitch wirkte in der Präsenz der beiden so ungezwungen, wie sie ihn nur selten erlebte.

Effie unterdrückte ein Seufzen bei dem Gedanken, zu ihnen aufzuschließen. Haymitch schien ihr nicht der repräsentativste Sieger zu sein, sodass ihre Erfahrung im Umgang mit gewöhnlichen Siegern gleich null war. Wobei man Chaffs Benehmen auch nicht gerade als normal bezeichnet darf, dachte Effie sich als sie an den Kuss zurückdachte, den er ihr in einer stürmischen, unvorhersehbaren Bewegung aufgezwängt hatte. Allein der Gedanke ließ ihr die Zornesröte in die Wangen steigen.

Natürlich verstummten die drei Sieger, sobald Effie in Hörweite kam. Keiner von ihnen hatte auch nur Anzeichen gemacht, sie wahrgenommen zu haben und doch waren sie sich ihrer Anwesenheit sofort bewusst. Effie konnte nicht anders als die Lippen zu einem unzufriedenen Strich zu verziehen. Chaff, der jede ihrer Regungen genaustens beobachten zu schien, wirkte überraschend nüchtern. Selbst aus dem Fernsehen kannte sie ihn zumindest angetrunken. Oder lag es einfach nur daran, dass sie ihn mit ihrem Status als Betreuerin öfter zu sehen bekam? Seinen Humor schien der Alkohol nicht zu beeinflussen, denn ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht als Effie neben ihm zum Stehen kam.

Effie wollte sich von ihrer mangelnden Erfahrung nicht beirren lassen. Sie setzte ihre milde, aufgeschlossene Maske auf noch bevor Haymitch und die kleine Siegerin sich zu ihr umdrehen konnten. Dann begrüßte sie die drei Sieger höflich und stellte sicher, dass sie eine anständige Distanz zu der Gruppe wahrte, um nicht aufdrängend oder gar schroff zu wirken. Chaff musste bei ihrem Versuch, die Etikette des Kapitols so genau wie möglich zu befolgen, nur breiter grinsen.

„Ich möchte nicht stören, Haymitch", sagte Effie mit aalglatter Stimme, dessen kaum hörbarer, vorschreibender Unterton jedoch klarmachte, dass genau das ihre Intention war. „Aber die Interviews beginnen in wenigen Augenblicken. Ich denke, es wäre nur klug, jetzt unsere Plätze einzunehmen."

Haymitch warf ihr einen Blick aus gehobenen Augenbrauen entgegen. Er fragte sich wohl, warum sie plötzlich anfing, so mit ihm zu reden. Dabei war es eigentlich nur natürlich, dass sie in der Öffentlichkeit anders miteinander umgehen sollten, als sie es hinter verschlossenen Türen oder in Momenten taten, in denen niemand Fremdes da war, um zu lauschen. „Wir können sie doch auch von hier hinten schauen."

„Das geht doch nicht", schnaubte Effie peinlich berührt und schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Ich werde die Interviews unserer Tribute ganz sicher nicht aus irgendeinem Vorraum schauen."

„Natürlich nicht", murmelte Haymitch. „Sonst sehen die Kameras dich ja gar nicht." Der junge Sieger verdrehte die Augen und seufzte genervt, deutete jedoch mit seiner Hand in Richtung des Ausgangs, um ihr zu verstehen zu geben, dass er ihr folgen würde. Er bemerkte nicht den ernsten Blick, den Chaff und die knochige Frau wechselten, als er ihnen ein letztes Mal zunickte und sich dann auf ihre Fersen heftete. Effie hingegen bemerkte ihn und fragte sich, was er zu bedeuten hatte.

„Wer war diese Frau?", fragte Effie Haymitch, sobald sie den Backstagebereich hinter sich ließen. Die Flure des Fernsehstudios waren wie ausgestorben. Jeder hatte irgendwo zu sein, jetzt wo die Show losgehen würde.

„Mags Flanagan, Siegerin aus Vier." Jetzt wusste Effie auch, weshalb sie ihren Namen vergessen hatte. Mags Flanagan hatte die Spiele lange vor ihrer Geburt gewonnen. Sie wollte fragen, ob Mags und Haymitch schon lange befreundet waren, gemessen an ihrer Zeit als Mentorin für Distrikt 4, aber irgendwie erschien ihr die Frage unangebracht. Haymitch erzählte sowieso nicht gerne von seiner Vergangenheit, weshalb sollte er ihr also eine vernünftige Antwort geben?

Der Zuschauerraum erinnerte an eine Oper. Oberhalb des Parketts, wo die Teams der Distrikte und das gemeine Volk saßen, die sich den Eintritt leisten konnten, befand sich auf mehreren Ebenen die Loge. Goldfarbene Figuren und Muster zierten die Balkone der Aussichtsplattformen und gemütliche, weinrote Sessel säumten den Saal. Effie wünschte, sie und Haymitch könnten auf einer der kleinen Terrassen platznehmen. Von dort war die Sicht um einiges besser, man musste nicht an fremden Hüten und toupierten Perücken vorbeilugen und nach dem Ende der Interviews war der Weg zurück zum Backstagebereich viel schneller. Doch die Loge war nur den einflussreichsten Kapitolern vorbehalten.

Ein gewaltiger Kronleuchter hing von der Decke herab und strahlte in einem gelbgoldenen Licht auf die Menschen im Publikum herab. Der Leuchter war reine Deko, denn sobald die Show losging, würde er von modernen Lichtern ersetzt werden. Die Zuschauer hatten sich bereits zu einem Großteil zusammengefunden. Es kam kaum vor, dass Effie bei dem Anblick der bunt zusammengewürfelten Kleider der Menschen erschauderte. Doch hier in diesem altmodischen Raum wirkten Farben wie Orange, Lila, Pink oder Grün fehl am Platz. Es war als würde man in Weiß zu einer Beerdigung kommen; man stach heraus. Natürlich war es gewollt. Die wenigsten scherten sich darum, ob ihr teures Designeroutfit zum Stil des Studios passte, schließlich hatten sie eine Saison lang darauf warten müssen, um der Presse erneut ihr exklusivstes Masterpiece präsentieren zu können. Als ehemalige Architekturstudentin konnte Effie jedoch nicht anders, als bei dem Anblick kurz innezuhalten. Dann schaute sie an sich herunter. Ihr kirschblütenfarbenes Kleid schmeichelte den Tönen des Interieurs ebenso wenig.

„Willst du für immer da stehen bleiben?" Haymitch warf ihr einen ungeduldigen Blick zu und deutete auf die vordersten Reihen, wo ein Teil für die Teams der Spiele reserviert worden war. Sie erkannte einige der Eskorten, die sie beim jährlichen und für sie ersten Treffen der Betreuer kennengelernt hatte. Die meisten von ihnen waren Models, die ihrer Karriere eine neue Richtung geben wollten. Die Hungerspiele waren das Event im Kapitol und die Plätze der Betreuerinnen waren auf zwölf begrenzt. War man einmal eine von ihnen, dann standen einem danach so gut wie alle Türen im Kapitol offen.

Effie nickte nur und schritt dann an Haymitch vorbei, ohne seinen Augen zu begegnen. Ihre Plätze befanden sich am Rand der vierten Reihe und Effie seufzte innerlich. Sie hatte auf Sessel in der Saalmitte gehofft. Von dort musste man seinen Hals beim Zuschauen nicht verrenken, um die Figuren auf der Bühne zu sehen.

Als sie sich zu ihrem Platz begab und langsam in den Sessel sinken ließ, lösten sich ihre Finger von Haymitchs Oberarm, den sie bisher umklammert hatte. Effie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich überhaupt bei ihm eingeharkt hatte. Es war wohl eine automatische Bewegung gewesen. Die Presse würde es mögen, also sollte es Effie recht sein. Sie konnte jedoch nicht anders, als ihm einen verstohlenen Seitenblick zuzuwerfen, während er neben ihr platznahm. Dafür, dass Haymitch auf dem Weg zu den Studios an ihren Absichten ihm gegenüber gezweifelt hatte, schien es ihn nun überraschend wenig zu stören.

Die Fernsehübertragung hatte noch nicht begonnen, aber Caesar witzelte auf der Bühne bereits mit dem Publikum und gab sich Mühe, seinen Frohsinn auf sie zu übertragen. Effie warf einen Blick auf die Uhr. Es würde nun jede Sekunde losgehen, das bestätigte auch ein kurzer Blick zu den Kameras, die überall im Saal verteilt waren. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, die Linsen der Kameras fokussierten ihre jeweiligen Aufnahmebereiche und der Regisseur des Ganzen zeigte dem berühmten Moderator den Daumen nach oben.

Effie nutze diesen Moment, um ihr Kleid zurechtzurücken und den Rücken durchzustrecken. Das Bild der Kamera würde sie heute Abend mehr als einmal ins Visier nehmen und nun galt es, eine gute Figur zu machen. Ihre Mutter würde ihr morgen am Telefon jede einzelne falsche Regung vorhalten und nächste Woche würde sie noch einmal anrufen, um ihr in einem enttäuschten Tonfall zu erzählen, was ihre Freundinnen beim wöchentlichen Brunch über sie gesagt hatten. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss die junge Frau die Augen und atmete tief ein. Augen auf, Kopf hoch und lächeln. Zeig es ihnen allen. Von weit her zählte jemand, wahrscheinlich der Regisseur, von zehn herunter.

Effies Augenlider flatterten und sie zwang ein breites Lächeln auf ihr Gesicht, sobald der Countdown null erreicht hatte. Eine Welle des Applauses donnerte um sie herum los, als die Lichter auf der Bühne ihre Farben veränderten und Caesar den Mund aufriss und in einer überschwänglichen Geste in die nächste Kamera zu winken begann. Sie zögerte nicht, als sie sich vom Strom des tosenden Klatschens mitreißen ließ. Sie klatschte immer noch, als ihr bereits die Innenseiten ihrer Hände wehtaten. Doch das war egal. Alles was in diesem Augenblick zählte, war eine gute Performance für ihre Familie zu machen. Denn nur diese galt es heute zu überzeugen. Den Rest von Panem schien Effie nämlich bereits für sich gewonnen zu haben.

Caesars sonnenblumengelber Anzug schimmerte inmitten der grellen Bühnenlichter noch intensiver als eben im Backstagebereich. Er erinnerte Effie an einen Farbfilter, den man in Medien und online über Bilder und Videos legte, um Werbung noch anregender zu gestalten. Nur den wenigsten gelang es, den Glanz der Werbung auch in der Realität aufrechtzuerhalten.

Effie drehte den Kopf zur Seite, um sicherzustellen, dass Haymitch nicht mit einem ignoranten Verhalten aus der Reihe fiel. Er hatte die Angewohnheit, die Werte des Kapitols zu ignorieren, genau wenn es darauf ankam. Doch wie am Tag ihrer Ankunft im Kapitol überraschte er sie. Wie eben im Backstagebereich hatte Haymitch sich lässig in seinen Sessel zurückgelehnt, ein Bein in einer achtlosen Geste über das andere geschwungen, sodass sein rechter Schuh auf seinem linken Knie lag. Er klatschte. Nicht so intensiv, wie die Menschen um sie herum, aber er klatschte nichtsdestotrotz. Und er schaute sie an. Seine dunklen, grauen Augen waren auf Effie gerichtet und er beobachtete sie. Seine Miene war ernst, als klatsche er für etwas Beifall, das ihm eigentlich nicht gefiel. In dem Moment, in dem Effies Blick seinen traf, stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen.

Sein Anblick ließ einen kalten Schauer über ihren Nacken laufen. In Haymitchs Gesicht zu schauen war, als hätte sie jemand über den Rand einer steilen Klippe gestoßen und mit viel Glück war sie in eisiges Wasser gestürzt anstelle am Grund der Felsen zu zerschellen: Sie war dem sichergeglaubten Tod entkommen, aber die Kälte des Gewässers konnte sie auf eine viel langsamere, qualvollere Weise umbringen, wenn sie nicht Acht gab.

Haymitch sah gut aus, Effie konnte es nicht leugnen. Der Anzug umgab ihn wie ein zweite, passgenaue, perfekt-sitzende Haut. Seine blonden Haare waren ordentlich gekämmt und frisiert. Seine Erscheinung wirkte souverän und klassisch zugleich und wenn Effie ihn nicht gekannt hätte, hätte sie ihn für einen Kapitoler halten können. Ein junger Unternehmer, der bereit war alles auf eine Karte zu setzen und doch nichts zu verlieren hatte. In diesem Augenblick passte er so sehr in ihre eigene Welt, dass das Lächeln, das sie hatte erwidern wollen, auf ihren Lippen gefror. Dieser Gedanke war genau das, was er nicht wollte. Haymitch wollte nicht mit dem Kapitol assoziiert werden. Auch wenn sie nicht verstand, weshalb. Auch wenn er laut eigener Aussage einmal im Jahr dazu gezwungen wurde, mit dem Kapitol in Zusammenhang zu stehen. Du wolltest die Wahrheit nicht hören. Er hätte sie dir gesagt. Effie hatte ihre Meinung nicht geändert. Sie wollte die Wahrheit nicht kennen.

Haymitch schien nicht zu merken, dass er im Mittelpunkt von Effies Gedanken stand. Sein Grinsen wurde breiter, als sein Blick auf ihr Kleid fiel. „Sei ehrlich, du wolltest doch nur hier sitzen, damit jeder dieses Monster sehen kann."

Es war keine Beleidigung bei der Art, wie er die Worte aussprach. Sanft und neckend. Es entlockte Effie schließlich ihr Lächeln, das er auf eine Art erwiderte, bei der ihr ganz warm ums Herz wurde, während sie ihm in seine Augen schaute, die aus flüssigem Silber zu bestehen schienen. „Ausnahmsweise ist das nicht der Fall. Ich bin hier wegen der Kinder."

Es war die Wahrheit. Effie hoffte, dass ein Teil von Elowens Nervosität von ihr abfallen würde, wenn sie Effie ihm Publikum entdeckte. In den vergangenen Tagen war es ihr gelungen, das Mädchen mit ihrer Präsenz oder einigen versichernden Worten zu motivieren, weiterzumachen und nicht aufzugeben.

Bis auf die goldene Cashmere aus Distrikt 1, die bereits unter der Hand als Favoritin gehandelt wurde, verliefen die Interviews nicht besonders außergewöhnlich. Gloss hatte sie bestens auf Caesars Fragen vorbereitet und nach nur wenigen Antworten ihrerseits war klar, dass sie genau wusste, wie sie die Menschen im Kapitol um den Finger wickeln konnte. Sie war wortgewandt, charmant und humorvoll. Nicht zu laut, nicht zu aufreizend; sie tanzte einen perfekten Tanz auf Messers Schneide. Und dazu war sie natürlich noch bildhübsch. Honigfarbenes Haar, das funkelnde, goldene Kleid; es dauerte nicht lange, bis man sie nur das goldene Mädchen nannte.

Selbst Magnus, das männliche Tribut aus ihrem Distrikt, ging in dem Wirbel unter, der um Cashmere gemacht wurde. Der Fakt, dass sie nahezu perfekt wirkte und ihr Bruder Gloss die Spiele erst letztes Jahr gewonnen hatte, machte es für die anderen Mitstreiter schwierig, sich aus der Menge der Kinder abzuheben und sich als einzigartig zu präsentieren. Die Karrieretribute aus den wohlhabenderen Distrikten hatten aufgrund ihres Trainings einen Vorteil, den sie sich in der Arena zu Nutze machen konnten, aber man munkelte, dass Cashmere mit jeder Waffe versiert sein sollte, die eine Klinge besaß. Ihre 9 hatte sie im Training wohl nicht umsonst erhalten.

Der Abend verschwamm vor Effies Augen zu einem Zeitraffer aus bunten Farben, Gelächter und Lampenfieber. Ein Teil von ihr war froh, dass jedes neue Tribut, das die Bühne betrat, kaum interessanter wirkte als das zuvor. Es gab keine Besonderheiten, nur auswendiggelernte Texte, wenig Authentizität und zittrige Stimmen der jüngsten Kinder. Alle lieferten eine passable, aber nicht wirklich auffallende Performance ab.

„Bilde dir gar nicht ein, dass unsere besser sein werden", raunte Haymitch ihr unter einer Woge des Applauses ins Ohr, als das männliche Tribut von Distrikt 11 die Bühne mit stolpernden Schritten verließ.

Effie ignorierte seine Worte und hatte Mühe, ihre heitere Maske aufrecht zu erhalten. Der Junge aus 11 war schrecklich gewesen. Er hatte seine Antworten hervorgestottert, dabei genuschelt und kaum ein Lächeln zustande gebracht. Stattdessen waren seine geweiteten, braunen Augen in einem wilden Blick durch den Saal gehuscht. Wie ein abgeschnittenes Tier auf der Suche nach einem Fluchtweg. Chaff hatte sich wahrlich keine Mühe gegeben. „Wir haben sie zwei Tage unterrichtet. Ich weiß, dass sie es meistern werden."

Haymitch unterdrückte ein Lachen, denn die Sitze um sie herum hatten zu klatschen aufgehört. Jedes seiner Worte würde in ihre Hörweite getragen werden. Er zögerte eine Sekunde und Effie neigte den Kopf kaum merkbar in seine Richtung, um ihn zu betrachten. Ein Ausdruck von Qual huschte über sein Gesicht und Effie zuckte bei dem Anblick instinktiv zurück. Sie konnte es nicht verhindern, denn Haymitch zeigte nur selten Emotion. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, beobachtet zu werden, denn als er Effies Zucken bemerkte, machte sein Gesicht dicht. Er wandte sich von ihr ab und starrte grimmig zu Caesar, der in diesem Moment Elowen auf die Bühne rief.

„Denk daran, was ich dir gesagt habe, Effie", flüsterte Haymitch, als eine neue Welle des Applauses in der Menge erwachte. Effie musste sich vorbeugen, um ihn zu verstehen. „Wenn du nicht Acht gibst, wird sie dir dein Herz brechen."

Effie brauchte einige Sekunden, um die Bedeutung seiner Worte zu begreifen. Eine eisige Kälte kroch ihren Rücken hinauf und plötzlich fröstelte sie, obwohl es beinahe glühend warm inmitten all der Leute war. Doch Effies Lächeln strauchelte keine Sekunde, während das Bild eines leblosen Kinderkörpers vor ihrem geistigen Auge auftauchte. Von dieser Performance heute hing so viel ab. Sie konnte darüber entscheiden, ob Elowen womöglich Sponsoren anlocken und ihre Überlebenschancen somit erhöhen würde. Sie entschied über Leben und Tod. Elowen durfte nicht versagen, denn andernfalls würde auch Effie versagen. 



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Tut mir mega leid, dass ich eine Woche zu spät bin. Hatte letzte Woche meine beiden Klausuren aus dem letzten Semester und danach direkt meinen ersten Arbeitstag. Ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen! :)

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