17.1. Trust
Trust
Den nächsten Tag verbrachten Effie und Haymitch hauptsächlich mit Elowen. Anders als gestern teilten die beiden sich die Zeit mit dem Mädchen allerdings nicht auf, sondern coachten sie mehr oder weniger gemeinsam. Was nichts anderes bedeutete, als dass Effie ihr weiter Ratschläge zur richtigen Etikette im Kapitol gab und ihr vorschrieb, wie Mimik und Gestik zu sein hatten, während Haymitch zusammengesunken auf dem Sofa saß und Zug um Zug aus seinem silbernen Flachmann trank.
Ab und zu, wenn es zum Thema passte, warf er etwas Hilfreiches ein. Schwerpunktmäßig kümmerte er sich eigentlich um die Gesprächsthemen des Interviews und gab ihr Tipps, wie sie am besten auf situationsbedingte Fragen antworten konnte. Doch da sie bereits einen Großteil der Arbeit gestern gemacht hatten, war heute nur noch der Feinschliff nötig. Und dafür musste er mit Effie nicht um die Zeit konkurrieren. Als wenn er das auch sonst getan hätte ...
Nach den gestrigen Ereignissen, die beinahe eskaliert waren, hatte sich Ramon heute noch nicht blicken gelassen. Die Friedenswächter hatten Effie angeboten, den Jungen zu holen, aber sie hatte dankend abgelehnt. Sie wollte ihn in Frieden lassen. Es war sein vorletzter Tag in Freiheit. Und da er gestern nicht besonders kooperativ gewesen war, glaubte sie nicht daran, heute noch große Fortschritte mit ihm machen zu können. Ramon war so bereit für das Interview, wie es eben sein konnte. Effie konnte nichts mehr für ihn tun.
Die Zeit lief viel zu schnell an ihnen vorbei und als der Tag sich langsam dem Ende neigte, hatte Effie das Gefühl, dass sie Elowen noch tausend weiterer Dinge hätte beibringen können. Nichtsdestotrotz wusste sie, dass nun erst einmal andere Dinge priorisiert werden mussten und so schickte sie das Mädchen früher ins Bett als an den Tagen zuvor. Für das Interview musste sie ausgeruht sein.
Am nächsten Morgen wurden die Tribute separat von ihren Vorbereitungsteams abgeholt. Sie wurden sofort ins Fernsehstudio gefahren, um dort die Stylisten zu treffen und für ihren großen Moment auf der Bühne zurechtgemacht zu werden. Die Betreuer und Mentoren wurden erst gegen späten Nachmittag vor Ort erwartet, kurz bevor die eigentlichen Interviews begannen. Somit hatte Effie genügend Zeit, ihrer üblichen Routine nachzugehen und sich später entsprechend herzurichten.
Effie war positiv überrascht gewesen, als Haymitch zum Frühstück erschien war. Diese Mahlzeit hatte er seit ihrer Ankunft im Kapitol öfter ausgelassen als ihr beigewohnt. Sie hatte bereits am Tisch gesessen, auf das wenige Essen auf ihrem Teller herabgeschaut und sich gefragt, wie sie es herunterkriegen sollte. Jeder Nerv ihres Körpers schien zu kribbeln, so nervös war sie. Aufgeregt darüber, wie die Interviews der Kinder heute Abend verlaufen würden. Effie hatte letzte Nacht kein Auge zugetan. Und nun bestrafte ihr Körper sie dafür. Der Kopfschmerz bahnte sich bereits an und sie hatte in der kurzen Zeit im Esszimmer schon so viel Kaffee getrunken, dass ihre Finger die Tasse vor Koffein kaum noch in der Hand halten konnten, ohne zu zittern.
Der junge Sieger bemerkte ihre Anspannung, noch bevor er es sich im Stuhl ihr gegenüber gemütlich gemacht hatte. Er verzog sein Gesicht und seufzte einmal theatralisch auf, als er das ungeduldige Trippeln ihres Fußes auf dem Boden hörte. Einige blonde Strähnen fielen ihm über die Stirn, als er sich grinsend über den Tisch zu ihr herüberbeugte.
„Was ist denn los, Süße?", fragte Haymitch neckend und nickte dem Avox zu, der einen großen, dampfenden Teller vor ihm abstellte.
Jedes Mal, wenn er sich bei einem von ihnen bedankte, konnte Effie nicht anders, als sich darüber zu ärgern. Es gab einen Grund, weshalb Avoxe nicht sprechen konnten: Sie sollten so unscheinbar wie möglich sein. Aber indem Haymitch ihnen für ihre Dienste dankte, brachte er sie in den Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn es sich dabei nur um ein einfaches Nicken handelte. Das war nicht der Sinn ihrer Aufgabe.
Tausende Gedanken schwirrten durch Effies Kopf. Die ganze Nacht hindurch war sie alle möglichen Szenarien des heutigen Tages durchgegangen. Sie wollte auf alle möglichen Unannehmlichkeiten vorbereitet sein. Als sie den erwartungsvollen Blick von Haymitch begegnete, war sie an der Reihe zu seufzen. „Ich mache mir Sorgen wegen Elowens Performance heute Abend. Es gibt noch so viel, was ich ihr hätte beibringen können. Wir hätten uns nicht so viel Zeit für alle Einzelheiten der Etikette nehmen sollen. Verhalten spielt zwar eine große Rolle, aber den Zuschauern geht es mehr um den Inhalt. Wir hätten uns mehr auf ihre Talente konzentrieren sollen."
Haymitch verdrehte die Augen und Effie sah ihm dabei zu, wie er eine gold-braune Flüssigkeit aus seinem Flachmann in den Kaffee mischte. „Der gute, alte Enthusiasmus des ersten Jahres", murmelte er lustlos und zuckte die Achseln. „Ehrlich, Süße, du solltest dir weniger Gedanken machen. Das Mädchen hat eh keine Talente."
„Ich hätte damit rechnen sollen, dass dir wieder alles gleichgültig ist", gab Effie kühl zurück. Sie verengte die Augen zu Schlitzen, während sie ihn mit heruntergezogenen Lippen musterte. „Aber Hauptsache es ist genug Whiskey da."
Zwar war Haymitch mehr oder weniger pünktlich zum Frühstück gestoßen, allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass er ziemlich heruntergekommen aussah. Er trug ein ungebügeltes, weißes Hemd mit einer ärmellosen, braunen Weste darüber. Die Weste musste er in Eile angezogen haben, denn sie saß komplett schief und die oberen beiden Knöpfe waren nicht geknöpft worden. Sein blondes, strähniges Haar wirkte ölig und ungekämmt und sein unebener Bart hatte dringend eine Rasur nötig.
Effie seufzte abermals. Wenn die Menschen im Kapitol einen guten Eindruck von Distrikt 12s Team gewinnen sollten, dann musste Haymitch bis heute Abend gesellschaftsfähig erscheinen.
„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass der Alkohol das Einzige ist, was mir während meiner Tage hier wichtig sein wird", gab er mit einem weiteren Schulterzucken zurück und erlaubte sich ein provozierendes Schmunzeln.
Er kannte Effie nicht gut genug, um zu wissen, wie sie unter Stress mit solchen Sticheleien umging. Deshalb war er nicht auf ihre Reaktion vorbereitet. „Wenn du nur für einen Tag aufhören könntest, dich wie ein gehässiger Ignorant zu verhalten, wäre meine Arbeit um einiges einfacher", zischte sie mit solch scharfer Stimme, dass Haymitch überrascht den Kopf von seiner Tasse hob.
Eigentlich war Effie nicht die Art von Mensch, die ihre Emotionen an anderen ausließ. Üblicherweise fraß sie Probleme in sich hinein, ohne sich die Last auf ihren Schultern anmerken zu lassen. Doch der Stress der kommenden Tage war so gewaltig, dass ihre Nerven blank lagen. Der fehlende Schlaf verschlechterte ihren Gemütszustand nur.
Haymitch beäugte sie kurz und warf ihr dann ein weiteres amüsiertes Grinsen zu. „Entspann dich, es wird sowieso alles aus dem Ruder laufen. Wenn du in ein paar Jahren zurückschaust, wirst du dich darüber ärgern, dass du so viel Kraft in all das hier investiert hast." Noch während er die Worte aussprach, stimmte ihn der Gedanke ernst. Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, als er Effie aus seinen grauen Augen beobachtete. Er wollte nicht dabei zuschauen müssen, wie ihr lebensfroher Charakter an den Spielen zerbrach.
„Das glaube ich kaum", erwiderte Effie wütend und erwiderte seinen Blick ohne jede Furcht. Haymitch konnte nicht anders, als darüber zu lachen. Er bewunderte sie für ihre Stärke. Diese Art von Stärke hatte er nie besessen.
Als Effie merkte, dass Haymitch sie nur weiter auf den Arm nehmen würde, zwang sie sich, zu entspannen. „Ich fürchte auch, dass Ramon meine Ratschläge nicht befolgen wird. Er ist ein so sturer Junge."
Haymitch hatte bereits einen abwertenden Kommentar zu dem Jungen auf der Zunge, als das warnende Funkeln in Effies Augen in verstummen ließ. „Ist das alles?", fragte er stattdessen.
Effie schloss für einen Moment die Augen, schüttelte den Kopf und massierte sich mit ihren dünnen Fingern die Schläfen. Dann zählte sie noch ein Dutzend anderer Probleme auf, mit denen sie sich im Laufe der letzten Stunden beschäftigt hatte. Haymitch schwieg während ihrer gesamten Erzählung hinweg. Zum Ende hin kümmerte es ihn nicht mehr, den Whiskey nur im Kaffee zu verstecken. Stattdessen begann er, den Alkohol einfach aus dem Flachmann zu trinken. Effie war so vertieft in ihren Monolog, dass es ihr gar nicht auffiel.
„Und selbst wenn nichts davon eintreten sollte, könnten die Stylisten uns immer noch den Abend ruinieren. Ich habe die Kleider für Elowen und Ramon nicht zu Gesicht bekommen. Nach meiner Standpauke nach der Eröffnungsfeier, haben sie den Austausch mit mir gänzlich vermieden." Effie hörte auf zu sprechen und betrachtete Haymitch aus ihren großen, blauen Augen. Wahrscheinlich wartete sie auf eine Reaktion seinerseits.
Insgeheim hatte er das Gefühl, dass die junge Frau ihm einen Großteil ihrer Sorge nur vorspielte. Es erschien ihm mehr als abwegig, dass sie sich über all das tatsächlich den Kopf zerbrochen hatte. Wenn Haymitch sie genauer betrachtete, sah er zwar die Augenringe, die ihr Gesicht zierten, aber selbst das konnte Show sein. Er hatte Kapitolerinnen gesehen, die ihm weitaus absurdere Dinge täuschend echt vorgegaukelt hatten. Vielleicht sehnte Effie sich nach ein wenig Aufmerksamkeit. In Distrikt 12 war es schwierig, irgendeine Form von Anerkennung zu erhalten. Möglicherweise fehlte ihr das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen.
Er konnte sich einfach keinen Reim auf Effie machen. In Momenten wie diesen konnte sie den anderen Kapitolern nicht ähnlicher sein und Haymitch wunderte sich, ob er sie eventuell völlig falsch eingeschätzt hatte. Doch in manchen, wenigen Augenblicken glaubte er, hinter die Fassade der Effie Trinket schauen zu können. Und das was sich dahinter verbarg, schien sich in einigen wesentlichen Punkten von der schillernden Public Persona zu unterscheiden, die sie meistens vorgab zu sein. Haymitch konnte nicht – und ein Teil von ihm wollte nicht – entscheiden, sie in eine der beiden Schubladen einzuordnen. Eine laute Stimme, sein Überlebensinstinkt, erinnerte ihn daran, dass es besser für sie beide war, wenn es sich bei Effie um eine gewöhnliche Frau des Kapitols handelte.
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