11.2. Uncontrolled

Zu Effies Bedauern erschien Haymitch nicht zum Frühstück, genauso wenig wie Ramon. „Hast du Ramon seit unserer Ankunft im Trainingscenter gesehen?", fragte sie Elowen, die ihr gegenüber am Tisch saß und gerade ein dunkles Brot in Scheiben schnitt.

Das junge Mädchen hob den Kopf und ihre smaragdgrünen Augen strahlten ihr entgegen. Sie hat so hübsche Augen, dachte Effie sich und unterdrückte ein Seufzen. Sie hoffte inständig, dass ihr Stylist ein Kleid schneidern würde, welches ihr auch wirklich gerecht wurde.

Elowen schüttelte den Kopf und kniff die Augen in einer nachdenkenden Geste zusammen. „Jetzt wo du es sagst", sagte sie leise. „Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen."

Effie wusste, dass dies nichts Gutes bedeutete. Heute war der erste Trainingstag der Tribute und sie musste die beiden nach dem Frühstück unten in der Eingangshalle abliefern. Und das wiederum bedeutete, dass Effie sich gleich gezwungen sehen würde, Ramon zu suchen. Höchstwahrscheinlich hatte er sein Zimmer seit ihrem letzten Aufeinandertreffen nicht verlassen. Allerdings würde Effie ihm trotzdem einen Besuch abstatten müssen. Einzig der Gedanke daran schnürte der jungen Frau die Kehle zu. Der Appetit verging ihr augenblicklich.

Trotz ihrem unguten Gefühl nickte sie auf Elowens Aussage und schenkte ihr ein Lächeln. „Dann werde ich wohl lieber mal nachschauen, ob bei ihm alles in Ordnung ist", antwortete Effie ihr. „Tut mir leid, dass ich dich hier allein sitzen lasse, Liebes. Unser Zeitplan heute ist leider sehr straff."

Elowen zuckte nur mit den Schultern und lächelte sanft. Mittlerweile hatte sie das Brot in mehrere Scheiben geschnitten und belegte sie mit Käse. „Ich esse sowieso nur."

Effie nickte und stand auf. Sie betrachtete das Brot in Elowen' Händen und fragte sich für einen Moment, ob es aus Distrikt 12 kam. Es war kein Brot aus dem Kapitol, das erkannte sie. „Denk daran, dir gleich die Trainingskleidung anzuziehen, die man dir auf dein Zimmer gebracht hat", erinnerte sie Elowen und verließ dann mit schnellen Schritten den Wohnbereich.

Mit jedem Schritt, den ihre Beine machten, wurde das mulmige Gefühl in Effies Brust größer. Jede Zelle ihres Körpers sträubte sich dagegen, Ramons Zimmer aufzusuchen. Desto näher sie seinem Zimmer kam, desto schwerer wurde es, das Bild seiner verzerrten Augen aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen.

Eine Minute später fand sie sich mit klopfendem Herzen vor Haymitchs Tür wieder. Energischer als zuvor schlug sie mit ihrer Faust gegen das schwere Holz. Während sie auf eine Antwort wartete, spürte sie wie das Blut in ihren Ohren pochte. Sie wartete weiter, aber er öffnete ihr nicht die Tür. Effie seufzte in sich hinein und konnte das niedergeschlagene Gefühl nicht ignorieren, das immer größer zu werden schien. Wieso musste alles, was ihn betraf, immer so schwierig sein?

„Haymitch, bitte, ich brauche deine Hilfe", bat Effie laut und senkte den Kopf. Mit ihrer rechten Hand stützte sie sich m Türrahmen ab. Erschöpfung übermannte sie von jetzt auf gleich. Hier zu betteln war definitiv unter ihrer Würde, egal wie unwohl Ramon sie fühlen ließ.

Doch dann vernahm sie schwere Schritte von der anderen Seite der Tür und einen Augenblick später hatte Haymitch die Tür in einer ruckartigen Geste aufgerissen. „Was willst du?" Es hörte sich mehr nach einem Knurren als nach einer Frage an.

„Ich muss die Kinder gleich runter zum Training begleiten", begann sie vorsichtig und schaute Haymitch ins Gesicht. Ein glasiger Schleier lag über seinen Augen und seine Wangen waren leicht gerötet. Er trug immer noch dasselbe wie vor einer Stunde, aber nun hatte er eine Flasche in der Hand. Effie musste gar nicht genau hinschauen, um zu wissen, dass es sich um etwas Alkoholisches handelte. „Keiner von uns hat Ramon nach gestern gesehen. Kannst du bitte mit zu seinem Zimmer kommen und ihn dazu bringen, zum Training zu erscheinen? Ich denke nicht, dass er es wahrnehmen wird, wenn ihn keiner dazu zwingt. Es ist doch Vorschrift."

Haymitch musterte Effie für einen Moment und lehnte sich dann zurück. „Sorry, Süße, aber das ist ja wohl kaum meine Aufgabe. Wenn du nicht in der Lage bist, mit deinen Tributen fertigzuwerden, dann bist du die Falsche für diesen Job", stellte er in neutraler Stimme klar und nahm einen Schluck aus der dunklen Flasche.

Die Panik drohte Effie zu übermannen. Als sie sich für den Posten einer Eskorte beworben hatte, hatte ihr niemand gesagt, dass es auch Tribute geben würde, die persönlichen Groll gegen sie hegen würden. „Aber ... Du weißt doch, was er getan hat. Er wird es wieder versuchen. Ich bitte dich doch nur, mir zu helfen. Es ist doch keine große Sache, wirklich."

Sie wollte sich über den flehenden Ton in ihrer Stimme ärgern. Effie Trinket flehte nicht, niemals. Doch der Gedanke alleine zu Ramon zu gehen, bereitete ihr eine solche Gänsehaut, dass sie sich auf dieses Niveau herabließ. Ein Bedrohungsgefühl wie dieses hatte Effie noch nie zuvor verspürt. Gefühle wie Angst oder Panik waren ihr völlig fremd. Und die Tatsache, dass sie Haymitch dafür sogar anbettelte, machte es nur noch unverständlicher für sie.

„Es interessiert mich aber herzlich wenig, was er machen könnte. Schließlich hat er einen guten Grund dazu. Eigentlich ist das gar nichts im Vergleich dazu, was ihr uns seit all den Jahren antut", antwortete Haymitch und Ablehnung flackerte in seinen Augen auf. Trotz des Alkohols schien er noch mehr oder weniger gut bei Sinnen zu sein, was Effie nur mehr schockierte. Er warf sie den Haien zum Fraß vor und erfreute sich sogar daran. Was ihr uns seit all den Jahren antut. Sie konnte ihm nicht folgen. Sie verstand nicht, was er ihr da vorwarf.

„Ich kann nicht glauben, dass du so ein Mensch bist", presste Effie unter zusammengedrückten Zähnen hervor, drehte sich um und ließ ihn stehen. Sie spürte Haymitchs Blick in ihrem Rücken, als sie um die nächste Ecke des Ganges bog und aus seinem Sichtfeld verschwand.

Mit zitternden Beinen machte Effie sich auf den Weg zu Ramons Quartier. Sie konzentrierte sich bewusst auf das Ein- und Ausatmen, um einen kontrollierten Atem zu behalten. Sie konnte nicht glauben, wie leichtfertig Haymitch sie im Stich gelassen hatte. Natürlich kannte er sie kaum und war ihr nichts schuldig, doch allein aus Höflichkeit hätte er ihrer Bitte stattgeben können. Schließlich hatte sie nichts Unmögliches von ihm verlangt. Waren die Menschen in den Distrikten alle so wie er?

Schweiß bildete sich auf den Innenseiten ihrer Handflächen, als sie vor Ramons Tür zum Stehen kam. „Du bist Effie Trinket. Du bist eine starke Frau und lässt dich nicht von einem Jungen wie ihm einschüchtern", murmelte sie leise vor sich hin. Es half tatsächlich ein wenig. Effie hob den Kopf und fixierte die Tür. Dann machte sie einen Schritt darauf zu und ohne noch einmal darüber nachzudenken, klopfte sie. Du bist schon mit weitaus penetranteren Männern als ihm zurecht zu kommen. Und er ist nur ein Junge.

Genau wie bei Haymitch gab es keine Reaktion auf ihr Klopfen. Sie wusste, dass Ramon sich in seinem Raum aufhielt. Sie konnte die Präsenz seines Körpers förmlich spüren. „Ramon" rief Effie, ihre Stimme so wertfrei wie möglich. Aber sie würde nicht um den heißen Brei herumreden. Sie hatte schnell gelernt, dass ihre Manieren bei ihm nichts bringen würden. „Ich werde dich nur einmal darum bitten, deine Tür zu öffnen. Wenn du das nicht tust, werde ich einen Friedenswächter rufen, der das für dich übernimmt."

Eigentlich war Effie kein großer Fan von Drohungen, doch in seinem Fall sah sie eine Drohung als die einzige Möglichkeit, die bei ihm Wirkung zeigen könnte. Ramon hatte ihr bereits klargemacht, dass er ihre Autorität nicht anerkannte. Also würde er sich einer höheren Macht fügen müssen. Effie behielt recht, denn er brauchte nicht lange, um die Tür zu öffnen. Sie hielt den Atem an, als er die Tür aufriss. Seine dunklen Augen stachen ihr entgegen und die Schärfe, die in seinem Ausdruck lag, war nicht zu übersehen. Ramon hatte sich in voller Größe vor ihr aufgebaut und blickte in einer Mischung aus Zorn und Überheblichkeit auf sie herab.

„Ich habe nicht geglaubt, dass du dich nach unserer letzten Begegnung trauen würdest, hier aufzutauchen", sprach er in ruhigem, beinahe sanftem Ton. Sein braunes Haar war gekämmt und er trug die Trainingsklamotten, die für heute bestimmt waren. „Und doch stehst du nun hier."

Effie war klar, dass die Ruhe nur eine Show war. Und doch überraschte es sie, dass Ramon die Kleidung trug. Er beugte sich der Vorschrift des Kapitols. Oder war auch dies nur eine Inszenierung? Oder hegte er einfach nur Groll gegen sie? Vielleicht, weil sie seinen Namen gezogen hatte? Sie wusste es nicht. „Ich wundere mich, wie du auf diese abwegige Idee kommen konntest, dass ich nicht nach dir sehen würde", entgegnete Effie so gleichgültig, aber höflich wie möglich. Die Art wie er sprach, ohne jeglichen Respekt, erschwerte es ihr, nicht in gleicher Manier zurückzuschlagen. „Wie ich sehe, hast du dich bereits umgezogen. Ich bin hier, um dich für das Training abzuholen."

Anstelle einer Antwort durchbohrte Ramon sie nur mit einem weiteren Blick. Sie konnte nicht sagen, was er sich dachte. Seine Miene war zu einer undurchsichtigen Maske gefroren. Effie hatte sich ebenso wie er kerzengerade aufgerichtet, den Rücken durchgestreckt. Sie würde vor ihm keine Schwäche zeigen, schließlich war sie Effie Trinket.

Nach einer halben Minute des Schweigens begann Ramon plötzlich zu lachen. Es war ein spöttisches Lachen. Er lehnte sich mit seinem Ellbogen gegen den Türrahmen und nahm nun Effies gesamte Sicht ein. Sie stand kaum einen Meter von ihm entfernt. Plötzlich wurde ihr klar, dass er sie einfach packen und in sein Zimmer zerren konnte, wenn er wollte. Jede Faser ihres Körpers wollte einen Schritt zurück machen, doch diesen Sieg wollte Effie ihm nicht eingestehen, egal wie stark die Panik sich durch ihre Adern fraß. Stattdessen hob sie fragend eine Augenbraue.

„Du bist wirklich süß, weißt du das?" Ramons Fassade fiel und er lächelte bösartig auf sie herab. Dann streckte er seine Hand aus und griff nach einer der blonden Strähnen ihrer Perücke. Scheinbar interessiert, wickelte er sie sich um den Finger. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde nur größer. Effies Herz machte einen unangenehmen Satz.

„Du begreifst nicht, welches Spiel du hier spielst", flüsterte sie ihm leise zu und beugte sich in seine Richtung. „Ich bin unantastbar für dich und wenn du mir auch nur ein Haar krümmst, dann werden das hier die schlimmsten letzten Tage, die man sich als Tribut nur vorstellen kann." Effie wollte bedrohlich klingen. Aber das war schwer als eine Frau, die erstens mehr als einen Kopf kleiner und nur zehn Jahre älter war als ihr Gegenüber.

„Du bist bemitleidenswert und das weißt du selbst. Du versteckst dich hinter dem Kapitol, als würde sie es interessieren, wenn ich dir etwas antäte. Alles, was für sie zählt, ist eine gute Show. Eine tote Betreuerin hört sich für mich nach einer ausgezeichneten Show an." Wieder lächelte Ramon, doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, den Effie nicht deuten konnte. Ein Ausdruck, der ihr die Nackenhaare aufstellte. Einen Augenblick später schnellte seine andere Hand zu ihrer Kehle und dann verloren ihre Füße den Halt.

Ramon hatte sie hochgehoben. Seine Hände umklammerten Effies Hals und sie spürte, wie er seine Daumen gegen ihren Kehlkopf drückte. Für einen Moment hielt er sie einfach nur in der Luft und sie fürchtete, dass er sie hier und jetzt einfach ersticken lassen würde. Ein Röcheln entfuhr ihr, als Ra,pm den Gang mit wenigen Schritten durchquerte und sie dann gegen die gegenüberliegende Wand drückte.

Effie versuchte zu schreien, sie versuchte zu atmen. Doch mehr als ein heiseres Keuchen konnte ihrer Kehle nicht entspringen. Sie hatte den Mund geweitet und schnappte nach Luft, aber der Griff um ihren Hals wurde immer stärker. Beinahe automatisch schossen ihre Hände hoch zu Ramons Fingern. Sie presste ihre langen Nägel in seine Haut, in der Hoffnung, dass es genügend schmerzen würde, sodass er von ihr abließ. Es schien ihn überhaupt nicht zu kümmern.

Sie hing in der Luft, wahrscheinlich nur wenige Zentimeter über dem Boden. Ihre Beine zappelten hin und her, auf der Suche nach dem Grund. Sie bekam ihn nicht zu fassen. Das Herz in ihrer Brust raste. Tränen rannten ihr über die Wange. Effie spürte, wie sich der Mangel an Sauerstoff langsam bemerkbar machte. Die Ränder ihrer Sicht wurden dunkler, ihre Bewegungen langsamer und weniger kontrolliert. Sie trat ihm so heftig wie sie konnte zwischen die Beine.

Ramon stöhnte auf und ließ sie los. Effie kam unsanft auf dem harten Boden auf und sie brauchte eine Sekunde, um nach Luft zu schnappen. Dann drehte sie ihren Kopf zu Ramon, der nur wenige Schritte von ihr entfernt stand und voller Zorn auf sie herabschaute. Er sah aus wie ein Monster, das die Kontrolle über sein Handeln verloren hatte. Und dabei war er nur ein Junge.

Effie zögerte nicht. Blitzschnell drehte sie sich um und krabbelte einige Meter über den Boden, im Versuch sich aufzurappeln. Schwankend kam sie auf die Beine und rannte los. Ihre High Heels waren keine große Hilfe, um ihrem Angreifer zu entkommen. Hinter sich hörte sie Ramon wütend aufschnauben. Er trampelte laut über den Boden, als er die Verfolgung aufnahm. Der Junge war um einiges schneller als sie.

Ramon bekam sie am Haarschopf ihrer Perücke zu fassen und zog sie gewaltsam zurück in seine Richtung. Effie schrie auf, zumindest hatte sie das tun wollen. Ihrer Kehle entsprang nur ein lauter kratziger Ton, der als einziges Geräusch durch den Gang hallte. Effie wollte rufen und ihm befehlen, dass er sie loslassen sollte. Aber dafür war keine Zeit. Mit aller Kraft drückte sie sich gegen seinen Griff. Sie spürte, wie sich die Nadeln ihrer Perücke lösten und dann schaffte sie es, sich von ihm loszureißen. Er blieb zurück mit nichts anderem als der Perücke in seiner Hand.

„Du Miststück", kam es aus seinem Mund. Er war kein bisschen langsamer geworden. Effie drehte sich zu ihm um und sah, wie er die Perücke in einer aggressiven Geste auf den Boden warf.

Ramon hatte sie beinahe wieder eingeholt, als sie um die Ecke des Flures bog und mit Haymitch zusammenstieß, der genauso unachtsam wie sie um die Ecke hatte biegen wollen. Effie spürte, wie seine Hände ihre Unterarme umfassten und sie in seine Richtung zogen. Sie stolperte ihm blind hinterher, ohne wirklich zu wissen, was seine Intention war. Haymitch ließ sie so schnell wieder los, wie er sie berührt hatte. Effie hörte einen dumpfen Schlag, dann Stille.

Außer Atem drehte sie sich um und starrte ungläubig auf die Szenerie, die sich vor ihr bot. Ramon lag bewusstlos auf dem Fußboden. Sein Auge war geschwollen und aus seiner Nase floss Blut seinen Hals herunter. Haymitch stand über ihm, mit ausgestreckter Faust. 


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Ich mag dieses Kapitel so gern haha. Hättet ihr Effie an Haymitchs Stelle sofort geholfen, nachdem sie im letzten Kapitel diese eher unschönen Dinge über die Spiele gesagt hat? Wenigstens hat er sich am Ende noch umentschieden, sonst wäre Hayffie ziemlich schnell Geschichte gewesen.

Nächste Woche taucht Chaff dann mal wieder auf! :)

Liebe Grüße

Skyllen

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